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3 Seiten

Nikolas - Prolog

Romane/Serien · Schauriges
© Jingizu
Märchen erzählen Kindern nicht davon, dass es Drachen gibt. Kinder wissen bereits, dass Drachen existieren. Märchen erzählen den Kindern, dass Drachen erschlagen werden können. - G.K. Chesterton



Prolog

„Was es über mich zu erzählen gibt?“, der Mann machte es sich in seinem Ledersessel vor dem prasselnden Kamin bequem und schwenkte den Cognac im Glas. „Wahrscheinlich so viel, dass es ausreichen würde, um eine ganze Schar Psychiater und Psychologen bis an ihr Lebensende zu beschäftigen, aber da wir uns hier nicht auf einer Couch befinden und das auch keine Therapiesitzung wird, will ich den ganzen unwichtigen Kram für meine Geschichte weglassen.“
Er hielt für einen Moment inne und nippte am Branntwein.
„Die Meisten wollen wissen, wann es begann. Ich muss Sie in dem Punkt leider enttäuschen, da nicht einmal ich einen genauen Anfangszeitpunkt festlegen kann. Womöglich war es schon immer so gewesen, dass Märchen und Sagen für mich mehr waren, als reine Unterhaltung vor dem Zubettgehen. Ich weiß noch, wie es für mich als kleiner Junge war, in den Keller zu gehen. Böse Geister und Monster an jeder Ecke zu erwarten, die dann kurz bevor mein Auge auf sie fällt, sich wieder in ihr Versteck zurückziehen. Achluophobie nennt es der distanzierte Wissenschaftler. Angst vor der Dunkelheit. Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, aber das bedeutet dennoch nicht, dass aus jedem etwas zu phantasievollen Kind automatisch so jemand wie ich wird.“
Ein trockenes Lachen ohne Fröhlichkeit entsprang seiner Kehle und verlief sich schnell in dem großen Arbeitszimmer mit den hohen Bücherregalen. Das flackernde Kaminfeuer war gespenstische Schatten auf die vielen, ledergebundenen Werke, welche sich bis zur hohen Decke stapelten.
„Ich verbrachte die Nächte mit dem Kopf unter der Decke, jeden Körperteil mit Stoff bedeckt und fest an die Wand gedrückt aus Angst davor, was in Dunkeln nur darauf lauerte, dass ich einen Augenblick nicht aufpasste, um mich genau dann zu holen. Dennoch hab ich nie ein Nachtlicht besessen oder darauf bestanden, bei Mama und Papa zu schlafen. Keine Ahnung ob ich meine Angst nicht eingestehen wollte und mich deshalb in den Schlaf folterte, oder ob ich schon damals daran glaubte, sich meiner Furcht stellen zu müssen, um sie jemals hinter mir zu lassen.
Irrationale Furcht… welch hochnäsiger Terminus, der von einem beschränkten Weltbild zeugt... Sehen Sie sich Becci an. Sie ist eine meiner Kolleginnen.“, der Mann zeigte auf eine junge Frau, die fest an einen kleinen, kaputten Teddybär gekuschelt in einem Sessel saß und ihm mit piepsiger Stimme Schlaflieder vorsang.
„Sie ist ein kleines, lebensfrohes, manchmal verängstigtes, fünfjähriges Mädchen. Sie ist seit über sechszehn Jahren fünf und wird auch nie älter werden, nehme ich an. Es ist nicht schwer sie zu erkennen, wenn die ´draußen´ ist. Ich will für Sie etwas weiter ausholen. Becci ist eine von mindestens sieben Persönlichkeiten, die sich diesen Körper dort teilen. Ich nehme an, sie halten die Frau dort jetzt automatisch für krank, verrückt, schizophren oder was ihnen die Gesellschaft und die Medien sonst so gern weismachen wollen. Genaugenommen ist ihr Name Ingrig Nordström und sie ist ein Multi.
Ich nehme an, wie die meisten Menschen wissen Sie gar nichts über dissoziative Identitätsstörung oder multiple Persönlichkeitsstörung, wie es früher hieß und ehrlich gesagt ist es auch nicht meine Aufgabe, diese Wissenslücke zu schließen, aber ich werd Ihnen Eines erklären.
Eine multiple Persönlichkeit wird nicht so geboren. Man kommt nicht als zwei, drei oder dreißig Menschen auf die Welt – man wird dazu gemacht. Stellen Sie sich ein Trauma vor so gewaltig, ein Schmerz so überwältigend, ein Erlebnis so grausam, dass eine Person es nicht allein verkraften könnte. Oft ist es wiederholter Missbrauch in der Kindheit und es sind zumeist Frauen, die davon betroffen sind. Das Hirn fährt dann unter Umständen ein bemerkenswertes Sicherheitsprogramm auf. Es sperrt die aktuelle Persönlichkeit weg. An einen schönen Ort ohne Schmerzen und Leid und lässt dafür eine andere Persönlichkeit die Stelle des Gepeinigten einnehmen, lässt sie einen Teil des Leides ertragen, das für einen einzigen Menschen zu viel wäre. Vielleicht überlebt die ursprüngliche Persönlichkeit, vielleicht wird sie in all dem Horror zerschmettert. Ich glaub nicht, dass jemand die Wahrheit kennt. Tatsache ist nur, dass all diese Menschen in dem Körper zusammen dafür gesorgt haben, dass dieses Individuum überhaupt überlebt hat und jetzt miteinander auskommen müssen, so unterschiedlich sie auch sein mögen… das sollte für den Anfang reichen, um sie ins Bild zu setzen. Hoffe ich zumindest. Denn die erste Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, ist sechzehn Jahre alt – und es ist Ingrids Geschichte.“
 
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Kommentare  

Macht auch mich neugierig. Und ich muss mich Tis-Anariel anschließen, flüssig und spannend geschrieben. Schöner Schreibstil.

doska (05.06.2012)

Hmm...ich stell mir vor, dass dies sicher schwierig zu schreiben sein wird. Andererseits ist das natürlich auch ne Herausforderung und es klingt schon interessant. Es ist zumindest mal ein ungewöhnlicher Ansatz.

Versuch es einfach mal, wenn es nix wird, dann wird es eben nix. Und wenn es was wird, um so besser.


Tis-Anariel (05.06.2012)

Meh... danke für das Lob Anariel, aber bin mir immer noch nicht sicher, ob meine Intention einen Multi zu einer der Hauptpersonen in einer fiktionalen Geschichte zu machen so gut war...

Jingizu (05.06.2012)

Interessanter Anfang.
Wie immer gut geschrieben.
Mehr kann ich im Moment noch nicht dazu sagen, aber macht neugierig auf mehr.


Tis-Anariel (05.06.2012)

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