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Tapetenwechsel

Poetisches · Amüsantes/Satirisches
Frau Michel nörgelt schon seit Wochen,
die Küche sei sehr ramponiert,
die Wände fettbefleckt vom Kochen,
Zeit wär's, dass man frisch tapeziert.
Herr Michel grummelt und sieht rot,
er ahnt, dass ihm jetzt Arbeit droht.

Beim Abendbrot passiert es schließlich:
„Wie wär's mit morgen?“, fragt sie kess.
„Von mir aus!“, sagt er drauf verdrießlich,
„doch ganz gemütlich – ohne Stress!“
Er schlurft zu seiner Werkstattwand
und nimmt den Zollstock in die Hand.

Er misst und denkt und murmelt Zahlen.
Sie räumt Geschirr aus einem Schrank,
schleppt Töpfe weg aus den Regalen
und leert die große Blumenbank.
Dann sind Besteck und Vasen dran.
Herr Michel fängt zu schreiben an.

Den Kühlschrank muss sie noch entleeren,
auch Brotfach und Gewürzregal.
Er schätzt derweil den ungefähren
Bedarf an Malermaterial.
Sie schleppt und schuftet – nicht zu knapp.
Ihm bricht vom Stift die Spitze ab.

Dann greift sie die Gardinenstange
und bringt den Store zum Waschen weg.
Er prüft und kalkuliert solange
und kaut dabei sein Salzgebäck.
„Schluss“, sagt er, „weil ich nicht mehr mag;
denn morgen ist auch noch ein Tag.“

Am Frühstückstisch am nächsten Morgen
eröffnet Michel seiner Frau,
er will jetzt Material besorgen:
Es müsste ziemlich haargenau
'ne Fünfzehn-Meter-Rolle reichen
und ein Pack Kleister wohl desgleichen.

Nun wird es Zeit, und er bewegt sich
gedankenschwanger außer Haus,
zum Baumarkt. Und Frau Michel legt sich
die Küche noch mit Zeitung aus.
Dann holt sie Eimer und die Leiter,
auch Bürsten, Pinsel und so weiter.

Mit Spachtel und mit Lösemittel
rückt das allein gelassne Weib
in ihrem alten Hausputz-Kittel
der Alt-Tapete auf den Leib.
Sie schabt sehr flink, rasant und zackig. –
Schon sind die Wände wieder nackig!

Den Tapeziertisch hat soeben
Frau Michel mühsam aufgebaut,
auch liegt der Leimquast schon daneben,
als grad ihr Mann zur Tür reinschaut.
Er schlüpft in seinen Overall,
das ist für sie das Startsignal.

Mit langem Besen – fast im Laufschritt –
erscheint sie hilfsbereit sodann.
Jetzt hat Herr Michel seinen Auftritt,
da zeigt sich's endlich: Mann bleibt Mann!
Denn er will ganz und gar brillieren
beim fachgerechten Tapezieren!

Los geht’s! – Die Zeit ist knapp bemessen,
schon rollt er die Tapete aus.
Er misst und schneidet wie besessen,
Frau Michel hält sich lieber raus.
Sie kennt doch ihren Mäkel-Mann.
Da rührt sie lieber Kleister an.

Und wirklich – kaum ist's vier gewesen,
da klebt er schon die erste Bahn.
Frau Michel stützt mit ihrem Besen
den Teil, den er nicht halten kann.
Nichts ist so schwer zu praktizieren
wie Zimmerdecken-Tapezieren.

Die zweite Bahn macht leider sichtbar:
Die erste Bahn hängt etwas schief.
Herr Michel meint, dass Schuld das Licht war,
die Sonne stünde schon zu tief.
Schon fetzt er alles ab voll Zorn,
und er beginnt noch mal von vorn.

Der Leser ahnt die Katastrophe,
er hat genau genommen Recht:
Herr Michel schimpft auf diese doofe
Beleuchtung, macht die Sonne schlecht.
Es platze bald ihm die Geduld,
nur er sei völlig ohne Schuld!

Dass die Tapete dann nicht reichte,
der Kleister bald zu Ende war
und eine Bahn zu lange weichte,
das ist wohl jedem Leser klar.
So dauerte die Schönheitskur
in etwa drei / vier Tage nur.

Wer mal bei Michels reinspaziert ist,
dem hat Frau Michel wohl gezeigt,
wie schön die Küche tapeziert ist,
wobei sie zu dem Ausruf neigt:
„Dies Wunder hat mein Mann vollbracht,
er hat das ganz allein gemacht!“

www.wolfgang-reuter.com, 11. 10. 2006
 
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Kommentare  

Wirklich super gereimt. Obendrein noch eine Geschichte, die sich sehr lebendig liest und noch dazu kann man sich bei jedem deiner Verse ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Dieter Halle (01.03.2013)

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