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Berliner Nachteulen. (Sechste und letzte Weihnachtsgeschichte)

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
Eigentlich wusste Jörg nicht recht, wie er in diesen Schuppen geraten war. Froh darüber, überhaupt eine offene Kneipe gefunden zu haben, die am Heiligabend Nachtschwärmern und Einzelgängern ein bisschen Wärme und Zeitvertreib verhießen, ohne dass er Wochen vorher ein überteuertes Weihnachtsmenü und einen Platz hätte reservieren müssen, kam ihm auf seiner Wanderung durch die Stadt die laute Anonymität dieser Spelunke gerade recht.
Er setzte sich auf einen robusten Hocker an der Theke. Der von tausend Ellenbogen blank geriebene Tresen war mit einem Stapel Bierdeckel, einem Zweig Tannengrün und einer roten Kerze dekoriert. Überraschend freundlich wünschte die Kellnerin einen guten Abend und Jörg bestellte Pils mit Korn, weil er es der Spelunke und ihren Gästen angemessen hielt, Pils mit Korn zu trinken.
Bevor die Bedienung das Bier zapfte, zündete sie mit einem Feuerzeug die rote Kerze an und sagte, na denn, frohe Weihnachten! Danke, Ihnen auch! sagte Jörg. Dann blickte er von der brennenden Kerze mit dem Tannengrün zu den Tanzenden. Dieses Tränendrüsenfest sollte man aus dem Kalender streichen, überlegte er, aber egal, die Leutchen finden immer einen Grund zum Feiern und Weihnachten ist so gut wie Karneval oder sonst ein Anlass. Die Kellnerin sagte, das ‚Sie’ kannst du hier ruhig weglassen, mit sympathischen Gästen bin ich per Du, also, ich bin Anita! Sie hielt ihm die Hand hin.
Die Musikbox plärrte Lieder von Andrea Berg und Nena, und weil Weihnachten war, hatte der Wirt auch nostalgische Platten von Frank Sinatra und Bing Crosby ins Programm geschoben. Ein großer bulliger Mann, so um die Dreißig mit Glatze, tanzte mit einer kleinen Frau mit dürren Beinen. Die Frau sah aus wie Fünfzig oder darüber; ihr Gesicht war stark geschminkt; die Schminke betonte frühe Falten und müde Augen, die heute wie polierte, scharfe Messer blitzten, als hätte man sie in die letzte Schlacht geworfen, jetzt oder nie, heute will sie’s wissen! Sie trug eine weiße Bluse mit Rüschen und Pailletten verziert und einen schwarzen, viel zu kurzen Rock, an dem sie dauernd zupfte, als würde sie sich für ihre dürren Beine oder für den zu kurzen Rock schämen. Der Mann war mit einer grünen Latzhose und einem karierten Flanellhemd bekleidet, wie ein Möbelpacker, der nach der Arbeit direkt in der Kneipe landet. Am Unterarm hatte er einen Drachen tätowiert. Die rote Drachenzunge züngelte über den Handrücken bis zu den Fingerspitzen. Breit umspannte die rechte Hand des Möbelpackers den kleinen Hintern der Frau; er schwenkte sie großzügig durch den Raum, bis sie einen Stuhl umwarfen und die Frau schrill lachte.
*
„Zum ersten Mal hier?“ Die Kellnerin sah Jörg an.
„Ja!“ Jörg blieb zurückhaltent, fügte dann aber hinzu: „Bin noch nicht lange in Berlin“. Er versuchte ein Lächeln, das er sonst für Männer und nur selten für Frauen reserviert hatte.
„Aber nicht hier aus dem Kiez?“ bohrte die Kellnerin weiter.
„Nicht direkt!“ Jörg überlegte. Warum sollte er sich nicht auf ein lockeres Gespräch mit ihr einlassen. Sie will wahrscheinlich nur freundlich zu einem neuen Kunden sein. Findet man selten genug in Berlin, dieser Ausgeburt an Unhöflichkeit. Sie macht nicht den Eindruck, als wollte sie ihn anbaggern. Und wenn, dann wird sie lange genug im Gastgewerbe sein, um schnell sein Desinteresse an Frauen zu bemerken. Also sagte er zwei Töne freundlicher: „Ich wohne seit Kurzem drüben in Mitte“.
„Und? Schon eingelebt?“
„War vorher ein paar Jahre in München“, sagte Jörg. „Da war es einfacher mit den Menschen!“
„Ach, ich weiß nicht recht?! Diese oberflächliche Münchner Schickeria!“ sagte Anita skeptisch. „Ich war nach der Wende ein paar Monate in München und bin schnell wieder zurück in meinen Osten. Die Berliner haben eine raue Schale, aber einen weichen Kern!“ Sie lachte. „Das dauert eine Weile, bis die auftauen! Für Nichtberliner gewöhnungsbedürftig!“
„Ja, daran muss man sich wohl erst gewöhnen“, sagte Jörg und taute langsam auf. „Und jetzt in der Weihnachtszeit machen sowieso alle auf Familie. Einzelgänger haben da kaum eine Chance…“. Er schwieg und sah auf den Boden und Anita dachte, der Typ kann wohl mit Weihnachten nicht besonders viel anfangen, aber wer kann’s ihm verübeln? Sie war froh, dass sie an solchen Tagen arbeiten konnte.
„Und? Schon ’ne Freundin gefunden?“ fragte sie und sah Jörg herausfordernd an. Jörg schwieg und griff zum Glas.
Die kleine Frau mit der Rüschenbluse schwenkte die Arme in die Luft und rief „Aufstehen zur Polonaise!“ Sie zog einen Mann hinter sich her, andere standen auf, schlossen sich an und hampelten im Gänsemarsch zwischen Tischen und Stühlen. „Heut wird gefeiert!“ krähte die Frau. „Frohe Weihnachten!“
Der lange Möbelträger schob sich dazwischen, legte von hinten seine Pranken über die Brüste der kleinen Frau und hoppelte idiotisch grinsend mit der Gruppe um den Billardtisch herum.
„Mache ich den Eindruck, als suche ich nach einer Freundin?“ Jörg sah die Kellnerin aufmerksam, aber lächelnd an.
„Wir suchen immer nach irgendetwas und irgendwem! Du etwa nicht? Weihnachten ist dafür besonders geeignet. Da ist die Einsamkeit und der Frust am Größten!“ Anita ging zum Zapfhahn. Vom großen runden Stammtisch drüben hatte jemand gerufen „Schnuckelchen, mach uns noch mal ’ne Runde!“
Anita zapfte fünf Bier. Jörg setze sich bequemer auf den Barhocker und wartete bis Anita zurückkam. Die Polonaise war auseinandergebrochen; jetzt schwoften die Pärchen aneinandergeschmiegt. Der Möbelträger warf Münzen in die Musikbox und die Frau mit der Rüschenbluse sagte ihm, was er drücken soll.
„Du suchst also keine Frau?“ fragte Anita ruhig. Ihre Augen schauten Jörg vertraulich an.
Jörg überlegte ein paar Sekunden. Dann sagte er: „Ich hab’ mit Frauen nichts am Hut!“ Anita war schließlich Kneipenkellnerin und kein Moralapostel. Außerdem hatte er in den letzten Jahren gelernt, die Leute mit der Wahrheit zu konfrontieren. Sie konnten sie akzeptieren, oder sie ließen es sein. Das tangierte Jörg nicht mehr. Er hatte zu sich selbst gefunden.
„Dann hab’ ich mich also nicht getäuscht!“ sagte Anita. Mit einem wohlwollenden Grinsen reichte sie ihre Hand über den Tresen. „Und ICH hab’ mit Männern nichts am Hut! Zumindest privat nicht!“
„Dann darf ich dich ja küssen!“ Jörg lächelte entspannt. Er beugte sich über den Tresen und sie legten ihre Arme umeinander und küssten sich auf die Wangen.
„Willst du noch einen Schnaps?“ fragte Anita. „Geht aufs Haus!“
„Aber klar doch!“ sagte Jörg. Anita legte ihre Hand auf seinen Arm. „Erwarte nicht zu viel in dieser Kneipe! Ich kenne meine Pappenheimer. Hier ist heute Abend weder für dich noch für mich was drin. Ich arbeite hier nur. Mein Privatleben geht die hier nichts an, das findet woanders statt!“
„Wo zum Beispiel?“ Jörg beugte sich wieder über den Tresen.
„In ’ner halben Stunde kommt meine Ablösung, da habe ich Feierabend. Wir könnten zusammen um die Häuser ziehen. In die Stadt. Irgendwas wird sich da schon ergeben. Ich hab’ keine konkreten Pläne …!“
Bevor Jörg antworten konnte, schrie der Mann in der Latzhose „Schnuckelchen, poussier nicht mit fremden Männern rum! Bring uns lieber was zu trinken!“
Anita sagte zu Jörg: „Selbst wenn ich auf Männer stehen würde, von denen hier würde ich mir mit Sicherheit keinen aussuchen! Nicht mal, wenn ich in einer einsamen Weihnachtsnacht total besoffen wäre!“ Sie ging rüber an den großen Tisch, zückte den Bestellblock und sagte lachend: „Na denn mal los, ihr Nachteulen! Was kann ich Gutes für euch Saufnasen tun?“
*
Später, in der Puschkinallee, verspürte Anita Hunger. Auch Jörg hatte außer einer Currywurst am Ostbahnhof noch nichts gegessen. Sie fuhren an der ehemaligen Grenze am alten Wachturm und dann an der Kanalschleuse vorbei zum Schlesischen Tor bis zu den Imbissbuden. An der Ecke mit den Pizza- und Dönerbuden standen die Leute in Dreierreihe im Schein der Glühbirnen. Die beiden klemmten sich mit ihren Pizzen an einen Tisch mit zwei Klappbänken. Ein Mädchen mit einer Glatze rückte zur Seite und machte Platz. Das Mädchen hatte eine Lederjacke und einen sehr kurzen lilafarbenen Rock an. Dazu trug sie schwarze zerrissene Netzstrümpfe und hobe Schnürstiefel. Ihr gegenüber saß ein Junge mit einem blauen Irokesenschnitt, etlichen Piercings in den Ohren und einer Silbernadel in der Nase. Über die Schulter trippelte ihm eine weiße Ratte und huschte am Hals entlang bis zum Ohr. Abwechselnd liebkoste er mit einer Hand die Ratte, mit der anderen schob er sich Stück für Stück seiner Pizza in den Mund. Nachdem die beiden Punker ihre Abfälle zum Mülleimer gebracht hatten, kam das Mädchen zurück und sagte zu Jörg: „Haste vielleicht mal nen Euro für uns?“ Jörg griff in die Hosentasche. Anita legte ihm die Hand auf den Arm: „Lass mal! Das geht jetzt auf mich!“ Sie gab den Punkern einen Zehneuroschein. Das Mädchen sagte überrascht „Danke und frohe Weihnachten!“ Dann schlang sie ihre Arme um ihren Freund und die beiden gingen rüber zur U-Bahn.
Drei stiernackige Glatzköpfe schoben sich an den Tisch. Auf ihren Kapuzenshirts waren Runen und Nazisymbole gedruckt. Schweigend aßen sie die Döner und Pizzen, die sie sich vom Türken und beim Italiener gegenüber geholt hatten. Anita rückte ein Stück von den Glatzen weg und sah Jörg auffordernd an. „Wollen wir weiter …?“ fragte sie und Jörg nickte.
Als sie zu Anitas Wagen gingen, kamen eine Frau und ein Mann in langen weißen Gewändern auf sie zu. Die Frau trug ein mittelgroßes Holzkreuz vor sich her, der Mann hatte einen Rauschebart im Gesicht und ein Buch, augenscheinlich eine Bibel, in der Hand. Er hielt Jörg ein Flugblatt hin und sagte „Der Herr sei mit euch!“ und die Frau ergänzte „In Ewigkeit, Amen!“ Jörg wollte das Flugblatt einstecken und weitergehen, als die Frau sagte: „Auch die Einsamen dieser Nacht sind Schafe unseres Hirten Jesus Christus. Und wenn euch eure Einsamkeit zur untragbaren Last wird, dann haltet inne und findet Zeit zum Gebet!“ Jörg wirkte hilflos und schwieg. Anita wandte sich zu der Frau mit dem Kreuz: „Ich bewundere dich!“ sagte Anita ruhig und beinahe lächelnd. „Du machst etwas, wovon du wahrscheinlich tief überzeugt bist und was ich mich niemals trauen würde. Aber glaube mir, wir beide…“, Anita deutete auf sich und Jörg. „Wir beide wollen jetzt nicht beten und auch keine Sünden bereuen. Wir sind sogar drauf und dran, Sünden zu begehen. Friede sei deshalb mit dir!“ Als Anita und Jörg ins Auto stiegen, rief ihnen die Heilsbringerin nach: „Es ist niemals zu spät zur Umkehr! Wollt ihr nicht wenigstens unsere Telefonnummern? Wir sind auch im Internet erreichbar! Jesus ist überall!“
Sie fuhren unter den tristen Yorkbrücken hindurch und sahen an der Potsdamer und der Kurfürstenstraße Frauen in kurzen Röcken und langen Stiefeln. Die Frauen schlugen sich vor Kälte die Arme um die Schultern oder bückten sich ungeduldig und aufgeregt winkend über die heruntergekurbelten Seitenfenster der langsam vorbeifahrenden Autos.
Dann waren sie zwischen den weihnachtlichen Lichterketten am Kudamm, und, schon fast in Halensee, fiel ihnen ein gepflegtes, weißes, vierstöckiges Haus auf, dessen Fenster und Balkone mit wilhelminischem Stuck verschnörkelt waren. In der zweiten Etage sah man hell erleuchtete Fenster und dahinter Menschen als Schatten; sie bewegten sich, tanzten, hielten Gläser in der Hand und verkündeten die frohe Botschaft von Lebensfreude und Unbekümmertheit.
„Das könnte was für uns sein!“ sagte Anita und Jörg fragte irritiert: „Du willst doch nicht etwa einfach so …? Wir kennen da doch kein Schwein!“
„Dann lernen wir die Schweinchen eben kennen! Wo ist das Problem?“ Übermütig klemmte Anita den Wagen in eine Lücke auf dem Bürgersteig.
Die Haustür war offen; im Flur hing unübersehbar eine Botschaft: „Liebe Nachbarn. Möglicherweise wird es heute Abend bei uns etwas lauter werden. Bitte haben Sie Nachsicht mit uns! Wir feiern nämlich nicht nur Weihnachten als das Fest der Liebe, sondern auch unsere Ehescheidung mit der Einsicht, dass Mann und Frau nur als Freunde aber nicht als Ehepartner zusammenpassen. Zögern Sie also nicht, kommen Sie einfach zu uns und feiern mit! Es grüßen Ihre frisch geschiedenen Nachbarn Johannes und Lisa im zweiten Stock!“
Oben war die Tür angelehnt und die beiden gingen einfach hinein. „Halloo, halloo!“ riefen drinnen ein paar Leute. Anita rief winkend zurück: „Hallöchen und Frohe Weihnachten allerseits!“ Die beiden schoben sich zwischen den feiernden Menschen hindurch. Von Smoking bis Punker hatte sich anscheinend das gesamte soziale Kaleidoskop Berlins eingefunden. Ein Mann in einem schwarzen T-Shirt, auf dem in weißer Schrift ‚Antifa lebt’ aufgedruckt war, berührte Jörg auffallend deutlich am Arm und schrie in den Lärm: „Das Buffet findet ihr in der Küche. Selbstbedienung! Eure Mäntel könnt ihr im Schlafzimmer ablegen! Einfach übereinanderlegen. Das findet sich schon nachher. Wir sehen uns bestimmt noch, werdet erst mal warm!“ Der Antifa-Mann zwinkerte Jörg zu.
„Kennst du den Knaben?“ fragte Anita.
„Nein!“ Jörg lächelte. „Aber er ist genauso schwul wie ich!“
„Bingo!“ Anita küsste Jörg auf die Wange. „Ist er dein Typ?“ fragte sie wie eine alte Vertraute.
„Lass uns doch erst mal ein bisschen herumschnuppern!“ erwiderte Jörg schmunzelnd. Nun wirkte er auf Anita viel entspannter als vorher in der Kneipe. Die beiden schoben sich langsam vorwärts und verschwanden in der Menge.
 
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Du siehst, ich bin weihnachtlicher Stimmung, Michael: Ich bin gerne mitgebummelt durch das nächtliche Berlin...

Gringa (17.11.2013)

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