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Seniorenschwoof und seine Folgen

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Tanztee im Seniorenheim. Wie jeden ersten Dienstag im Monat ist die Veranstaltung gut besucht. Von älteren Menschen, die hoffen, liebäugeln oder sich einfach nur angenehm die Zeit vertreiben möchten.

Der Diskjockey legte bekannte Platten auf. Als Andrea Berg „Du hast mich tausendmal be-loo-gen“ trällerte, wurde Berthe (66) schon eine Weile von Emil mit Schwung im Kreis gedreht. Nicht nur Berthe wähnte sich im Siebten Himmel; auch beim fünf Jahre älteren Emil hatte der Blitz der Zuneigung eingeschlagen und Amor seine Pfeile abgeschossen. Kurz und gut: Bei den beiden hatte es geschnackelt und gefunkt! Emil spürte, das war weitaus mehr als ein schöner Flirt. Denn auch Berthe war von dem rüstigen Rentner angetan. Er brachte sie zum Lachen, in seinen Armen fühlte sie sich geborgen; ein wohltuendes Gefühl, dass sie seit dem frühen Tod ihres Mannes nicht mehr gekannt hatte.

Als der Tanztee zu Ende war, brachte Emil seine frische Flamme zur Bushaltestelle, denn Berthe wohnte – im Gegensatz zu Emil – nicht im Seniorenheim, sondern im acht Kilometer entfernten Dorf Veilchenhausen in einem Eigenheim. Emil spürte die Schmetterlinge im Bauch und auch Berthe machte sich darüber Gedanken, was wäre wenn...

In den folgenden Wochen besuchten sich die beiden abwechselnd gegenseitig. Das blieb weder in Veilchenhausen, noch im Seniorenheim, noch Emils Familie verborgen. Zumal Emil an einem Wochenende nicht ins Heim zurückkehrte, sondern die Nacht in Berthes Haus – und höchstwahrscheinlich auch in Berthes Bett verbrachte. Ein paar Wochen später waren sich die beiden Turteltauben einig: Wir gehören zusammen! Wir ergänzen uns! Nicht nur beim Schwoof, nicht nur in der Küche oder bei gemeinsamen Kulturbesuchen, sondern besonders beim Austausch von Zärtlichkeiten. Jetzt müssen wir nur noch eine Lösung finden, entweder sie bei ihm oder er bei ihr. Und zwar dauerhaft!

Bis hierhin war die Romanze der beiden ein Liebestraum vom späten Glück. Aber jetzt kam Emils Familie ins Spiel. Jedes Familienmitglied hatte gestrenge Argumente gegen diese Beziehung: „In diesem Alter hat man keinen Sex mehr! Von sowas lässt man die Finger, das kann ja zum plötzlichen Herzversagen führen!“ Die einen machten gesundheitliche, die anderen sogar moralische Bedenken geltend: „Wie sich die beiden benehmen! Wie die jungen Turteltauben! Die beiden vergessen wohl ihr Alter! Einfach peinlich!“

Dann ließ einer von Emils Söhnen die Katze aus dem Sack: „Stellt euch mal vor, die beiden würden heiraten! Welche Auswirkungen das auf die Erbschaft und die ganze Familie hat?! Nein, diese ganze dumme Geschichte muss schleunigst unterbunden werden!“ Die Familie redete – erfolglos - Emil ins Gewissen und dann mit der Heimleitung: „Wir verbieten ihnen, den beiden den Kontakt in Emils Zimmer zu ermöglichen! Das ist nicht nur unmoralisch, sondern auch ein Gesetzesverstoß. Sie leisten damit diesem und jenem Vorschub...!"

Die Heimleitung holte sich Rat bei einem Rechtsbeistand, denn eine solche Situation hatte sich bisher noch nicht ergeben. Schließlich entschied das Heim: „Emil ist volljährig und nicht entmündigt! Er ist im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten und kann über sich und sein Leben selbst bestimmen! Dies schließt ein, dass er auch selbst entscheiden kann, mit wem er wann und wo verkehrt, egal wie sich dieser Verkehr gestaltet...!“

Für Emils Familie war diese Antwort weder logisch, noch akzeptabel. Sie klagte gegen das Heim und – verlor den Prozess. Nun fuhr man schwerere Geschütze auf: Emil musste für verrückt und unzurechnungsfähig erklärt und entmündigt werden. "Logische" Argumente und Beweise : Geistige Verwirrung, ausgelöst durch die raffinierte Berthe, die es von Anfang an darauf angelegt hat, den armen, alten Emil zu bezirzen und den Kopf zu verwirren. Und da Berthe nicht nur attraktiv, sondern auch eine gepflegte Erscheinung ist, wurde diese Attraktivität als Beweis angeführt, dass Berthe keine fürsorgliche Lebens- und Liebespartnerin ist, sondern schlichtweg eine raffinierte Hexe und womöglich sogar eine Erbschleicherin und Heiratsschwindlerin.

Der Ausgang der Geschichte ist noch nicht entschieden und liegt beim Vormundschaftsgericht. Emil ist unterdessen erstmal aus dem Seniorenheim aus- und bei Berthe eingezogen. Zum Thema „heiraten“ sagen beide übereinstimmend: „Wir und heiraten? Warum sollten wir so dumm sein und unsere Renten kürzen?“

Welchen Rat sollte man Emil und Berthe oder der Familie geben? Wenn überhaupt...
 
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Kommentare  

Hallo Michael,

Deine kleine Geschichte ist absolut glaubhaft und interessant. Und sie berührt auf neue Weise ein fast altes Problem: Im Alter, sagt man, wird der Mensch wieder zum Kind.

Diese Feststellung mag zunächst mal stimmen: Die Schritte werden mit höherem Alter wieder unsicherer, der Wortschatz grenzt sich oft ein, und bei dementen Erscheinungen nähert sich wohl auch der Geist den Fähigkeiten von Kleinkindern oder gar Babys.

Wem das im höheren Lebensalter widerfährt, der sollte froh sein, dass ihm nahestehende Menschen (häufig die Familie) sich um ihn kümmern und versuchen, ihn vor unbewussten "Dummheiten" zu bewahren.

Aber: Solange ein Mensch noch einen Rest Verstand besitzt, muss ihm das Recht zustehen, über sich selbst (im zumutbaren Maße) zu entscheiden. Absprechen kann ihm dieses Recht allenfalls ein medizinisches Gutachten, das die Einschränkung der geistigen Fähigkeiten konstatiert. Und außerdem bedarf es dazu einer richterlichen Entscheidung, die wohl in Deiner Geschichte beim Vormundschaftsgericht erstritten werden soll. Seine emotionalen Bindungen und Sehnsüchte sind aber davon gänzlich ausgenommen.

Weil Du also fragst, was ich Emil und Berthe empfehle: Den besten Anwalt anheuern und zum Gegenangriff übergehen. Sollten Familienangehörige wirklich Erb-Spekulationen anstellen, ist es wohl das Beste, im gegenwärtig noch als "gesund" geltenden Zustand durch beide je ein klares Testament zu schreiben.

Vielen Dank für die kleine Geschichte, die je nach Fortsetzung und Ende den Stoff für eine Erzählung hergeben könnte, findet


Wolfgang Reuter (05.09.2014)

Lieber Stephan f. Punkt: Ich werde leider nicht schlau aus deinen Anmerkungen. Könntest du sie bitte noch mal in Klartext schreiben?!

Michael Kuss (04.09.2014)

Hey und auch Ho; soweit sind wir nicht voneinander. Lies mal mehr ich und ich von Dir und wir werden sehen...

Gruß Stephan


Stephan F Punkt (04.09.2014)

Lieber Marco Polo, ich habe die Story zwar nicht unmittelbar persönlich "miterlebt", aber sie hat sich in meinem beruflichen Umfeld zugetragen und ist noch nicht entschieden, sondern liegt derzeit vor dem Vormundschaftsgericht. Wobei es - seitens der Familie - zu den absurdesten Argumenten gekommen ist. Darüber habe ich in einer Seniorenzeitung und in einem Senioren-Web-Portal geschrieben, und in den Diskussionen gehen die Kommentare jetzt so hoch her, dass man fast einen Sozial- und Familienroman darüber schreiben könnte. Denn in dem Fall sind zahlreiche juristische UND psychologische (sowie auch taktische) Aspekte versteckt, die man literarisch ausarbeiten könnte.

Danke für deine Stellungnahme.


Michael Kuss (30.05.2014)

Deine Story fühlt sich wie etwas Miterlebtes an. Ganz offen und ohne jeden Schnörkel schilderst du hier eine Episode aus dem Leben der sogenannten "Alten", die man so gerne "wegwerfen" möchte wie Müll. Dabei ticken sie doch gar nicht soviel anders als die "Jungen". Gerne gelesen.

Marco Polo (30.05.2014)

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