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2 Seiten

Die Lichtung

Kurzgeschichten · Romantisches
© Pat
Am Morgen seines Todes ging er über die Wiese zu der Lichtung, die er jeden Tag besuchte.
Er schaute zurück zu denen ihm liebsten Wesen auf der Welt, seiner Frau und den beiden halbwüchsigen Söhnen. Sechs Augenpaare schauten ihm nach. Die dunklen Augen seines Jüngsten blickten voller Vertrauen und Unschuld zurück.
Niemand sprach ein Wort. Ein tiefer Frieden erfüllte die mächtige Brust des Vaters.
Nach einigen Augenblicken der Reglosigkeit und des Schweigens wandte er sich ab und ging langsam fort.
Die Luft war kühl und es roch nach nassem Laub.
Die ersten Sonnenstrahlen, die durch die Blätter der Bäume brachen, malten tanzende Flecken auf den Waldboden. Der Nebel begann sich zu heben, langsam und zögernd, die Welt schien versunken unter einem Schleier vollkommener Stille.
Es war noch früh am Morgen, aber er schritt rasch aus, er hatte wenig Zeit. Seine Schritte hinterließen Vertiefungen in dem weichen Boden. Sie füllten sich mit Wasser und wurden zu einer Spur aus Teichen.
Nach einer Zeit stummen Ausschreitens war er am Ziel.
Er betrat die kleine Lichtung, die vor ihm lag. Für einen Moment blieb er stehen und schloß die Augen. Er hob das Gesicht empor und spürte die Wärme der Sonne. Als die gelben Flecken vor seinem inneren Auge sich in tanzende blaue und rote Kreise verwandelten, ließ er den Kopf sinken und öffnete die Augen.
Er atmete einmal tief und begann langsam in die Mitte der Lichtung zu gehen.
Nahezu kein Laut war zu hören, nur das weit entfernte Hämmern eines Spechtes und das langsame Fallen der Wassertropfen von den Blättern der Bäume.
Das leise metallische Klicken hörte er nicht.
Der Mann, der den Vater beobachtete, brachte sein Gewehr in Anschlag. In seinem braunen Anzug war er zwischen den belaubten Bäumen kaum zu sehen. Durch sein Zielfernrohr sah er den Kopf und die Schultern des Vaters, der sich nur langsam bewegte, schließlich stehenblieb. Der Mann hatte Zeit. Über viele Wochen hinweg hatte er die Gewohnheiten des Vaters studiert. Seit zehn Tagen erwartete er ihn jeden Morgen auf der Lichtung und überstürzte nichts.
Als der Vater in der Mitte der Lichtung angekommen war und stehenblieb, entsicherte er sein Gewehr und zielte sorgfältig.
Der Schuß durchbrach die Stille für nur einen kurzen Moment, einige Zweige schwankten leicht, ein Blatt schwebte zu Boden.
Der Mann trat aus seinem Versteck und ging mit langsamen, schweren Schritten zu dem noch lebenden Körper. Der Vater hob den Blick und schaute seinem Mörder in die Augen. Der Mann schaute auf ihn herab, aber in seinem Blick lag keine Freude, eine tiefe Ernsthaftigkeit eher und etwas Wehmut.
Der Vater wandte ein letztes Mal seine Augen zum Himmel und den Wipfeln der Bäume, bevor sein Blick brach und sein Kopf mit dem schweren Geweih sanft und endgültig zu Boden sank.
 
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Kommentare  

Echt toll.

Petra (14.09.2009)

Verdammt, Verarscht bis zur vorletzten Zeile.
Hab doch nicht an einen Hirsch gedacht.
Außerdem richtig schön ausgemalt die Szene.
Ein Film hätte das alles nicht besser zeigen können. 5 Punkte


NewWolz (10.03.2004)

Whow!
Das war genial geschrieben!
Ich dachte natürlich, das ist ein Mensch.
Klasse hingekriegt!


Stefan Steinmetz (12.01.2003)

super geschrieben...sehr lebendig und überraschend. Gefällt mir sehr gut...

Laura (19.06.2002)

wow......da denkt man im ersten moment es gehe um menschen, dabei geht es hier um eine hirschfamilie. trotzdem sehr einfühlsam und nahegehend geschrieben. super

science (27.11.2001)

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