308


4 Seiten

Regentropfen Benjamins große Reise

Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester · Für Kinder
© Pat
Es war ein wunderschöner, warmer Frühlingsmorgen. Die Vögel begannen ihre Lieder zu singen und die Sonne schaute verschlafen hinter den Bergen hervor.

Hoch oben über den Dächern des kleinen Dorfes schwebte die dicke, graue Wolke Jolanthe und blickte auf die Erde hinab.
"Hm!" dachte sie.
"Es scheint, als hätten die Felder seit langer Zeit keinen kräftigen Regenguß bekommen!"

Und sogleich begann sie sich zu recken und zu strecken, zu knirschen und zu ächzen, und mit einem tiefen Seufzer ließ sie all ihre vielen kleinen Wassertröpfchen zur Erde fallen.

So begann Regentropfen Benjamins große Reise.

Langsam schwebte er zur Erde, sah sich um und staunte.
Benjamin war ein sehr junger Regentropfen und hatte bisher noch keinerlei Abenteuer erlebt.
Der Wind schaukelte ihn sanft hin und her, und er drehte sich vergnügt im Kreis.

"Auf Wiedersehen!" rief er dem bunten Regenbogen zu, der über den Wäldern aufgetaucht war.
"Bis bald!" sagte er zu seinen Freunden, den anderen Regentropfen.
"Ich gehe auf eine große Reise!"
"Bis bald! Bis bald!" riefen all die kleinen Wassertröpfchen und tanzten fröhlich umher.

Benjamin schaute nach unten. Immer schneller und schneller fiel er, je näher er der Erde kam. Er breitete seine kleinen Wasserarme aus und landete mit einem sanften "Plopp!" mitten in einem winzigen Gartenteich.

Als er sich umblickte, sah er einen kleinen Jungen, der ihm mitten ins Gesicht zu schauen schien.
Der Junge saß still am Rand des Teichs und sah lächelnd ins Wasser. In der einen Hand hielt er einen kleinen Blecheimer.
Mit der anderen drückte er zärtlich ein winziges, gelb-weiß geflecktes Kätzchen, dessen linkes Ohr einen Knick hatte, an seine Brust.
Er trug eine blaue Windjacke und gelbe Gummistiefel, die ihm viel zu groß waren. Am meisten jedoch staunte Benjamin über sein Haar. Es war klatschnaß, zerzaust und feuerrot. Wie eine Wolke stand es nach allen Seiten von seinem Kopf ab.

"Guten Tag! Ich heiße Benjamin. Mit wem habe ich das Vergnügen?" fragte Benjamin, der ein sehr höflicher kleiner Regentropfen war.
Aber sein Stimmchen war viel zu leise, und der Junge mit den roten Haaren konnte ihn nicht hören.

"Roooobert!" erklang eine Frauenstimme aus dem Häuschen, zu dem der Garten gehörte.
"Wo bleibst Du mit dem Wasser?"
Und ehe er es sich versah, wurde Benjamin mit dem kleinen Blecheimer aus dem Teich herausgeschöpft.
Der Junge Robert lief mit raschen Schritten ins Haus zurück, und der Eimer schwankte in seiner Hand. Ganz schwindelig wurde Benjamin von der vielen Schaukelei.


Robert ging zu seiner Mutter in die Küche und überreichte ihr den kleinen Eimer.
"Danke, mein großer Junge!" sagte diese und gab ihm einen Kuß. Dann begann sie mit dem Wasser aus dem Eimer behutsam alle Blumen am Fenster zu gießen.
Den letzten Rest mit Benjamin darin goß sie in eine kleine Kristallvase, in der eine rote Rose steckte. Diese hatte sie am frühen Morgen von Roberts Papa bekommen.
Glücklich vor sich hin summend stellte sie Vase und Rose auf die Fensterbank.

So kam es , daß der kleine Regentropfen Benjamin bei Robert und seinen Eltern lebte.

Benjamin war sehr glücklich, denn er wohnte bei einer glücklichen Familie.
Jeden Abend, wenn der Nebel sich über die Felder legte, und der Mond das Land mit einem Silberschleier überzog, setzte sich der Papa mit seinen dicken Pantoffeln vor den Kamin und erzählte Robert wundersame und abenteuerliche Geschichten.
Er wußte von Trollen und Feen, von Drachen und verzauberten Königreichen, von fernen Weltmeeren und fremden Ländern zu berichten.
Wenn sein Papa ihm Geschichten erzählte, lag Robert auf dem Bauch und stützte das Kinn in die Hände. In seinen Augen, die an den Lippen seines Papas klebten, spiegelte sich das Licht des Kaminfeuers.
Roberts Mama saß indessen auf dem Sofa und nähte oder strickte. Ab und an hob sie den Kopf, um ihren Mann und ihren Sohn liebevoll lächelnd zu betrachten.

So vergingen die Tage und Wochen und Monate.
Aus Frühling wurde Sommer und aus Sommer wurde Herbst.
Die rote Rose in der Kristallvase war lange verblüht.

Eines Morgens kam Roberts Mama, nahm die kleine Vase, trug sie in die Küche und - schwupps - schüttete sie Benjamin in das Spülbecken.
Benjamin, der geglaubt hatte, für immer bei der netten Familie bleiben zu können, war unsagbar traurig.

Er schwamm gemeinsam mit vielen anderen Wassertropfen durch enge Rohre in einen kleinen Bach und von dort in einen Fluß. Dieser trug ihn weiter zu immer neuen, größeren Flüssen und schließlich in den gewaltigen Ozean.
Auf seiner Reise sah er wunderbare Dinge. Er erblickte Löwen und Giraffen, riesige Städte und hohe Gebirge, Regenwälder und Vulkane. Und einmal begegnete er sogar einer Pinguinfamilie.

Aber wieviel Schönes Benjamin auch erlebte, immer sah er Robert und seine Familie vor dem Kaminfeuer sitzen und hörte die warme Stimme des Papas, der so wundersame Geschichten und Abenteuer erzählen konnte. Er sah die Mama auf dem Sofa, die leise lächelte und er sah Robert, der bewundernd zu seinem Papa aufschaute. Benjamins kleines Wasserherz schmerzte vor Sehnsucht.

Lange Zeit schwamm er über alle Weltmeere.
Eines Tages, als er gerade sein Mittagsschläfchen hielt, spürte er einen warmen Hauch auf seinem Gesicht. Er öffnete die Augen und sah hoch über sich die Sonne, die ihm zulächelte und sprach: "Komm, Benjamin, es ist Zeit!".
Er blickte sich um und sah Tausende und Abertausende kleine Wassertropfen auf einer goldenen Leiter, welche die Sonne ins Wasser gestellt hatte, geradewegs in den Himmel hineinwandern.
Schnell erhob er sich und kletterte mit all den anderen Tropfen hoch hinauf bis zur letzten Sprosse.

Als er oben angekommen war, begrüßte ihn eine tiefe, freundliche Stimme:
"Guten Tag, mein kleiner Freund! Es ist schön, Dich wiederzusehen!"
"Wolke Jolanthe!" rief Benjamin voller Freude.
Er war überglücklich, als er die liebe, dicke die Wolke, in der er seine große Reise begonnen hatte, erblickte.
"Wohin fliegen wir?" fragte er seine alte Freundin.
"Einmal um die Welt und wieder zurück." antwortete Jolanthe und lächelte dabei.

Sie flogen eine lange Zeit. Es wurde Winter.
Aus der dicken, grauen Jolanthe wurde eine zarte, weiße Schneewolke, die wie ein riesiger Zuckerwatteberg am Himmel entlangschwebte.

Eines Abends sagte Jolanthe zu ihren Freunden, den kleinen Regentropfen: "So, ihr werdet mir zu schwer. Es an der Zeit, daß wir uns trennen."
Und schon ließ sie alle Tropfen zur Erde fallen. Benjamin drehte sich noch einmal um und winkte Jolanthe fröhlich zu.

Er fiel und schaukelte, genau wie beim letzten Mal.
Und doch hatte sich etwas verändert.
Als er an sich herunter schaute, sah er erstaunt, daß er kein Wasserkleid mehr trug sondern ein weißes Gewand, das herrlich leuchtete. Seine Arme und Beine waren über und über bedeckt mit winzigen, funkelnden Sternen. Benjamin hatte sich in eine wunderschöne Schneeflocke verwandelt.

Da er nicht mehr so schnell hinab schwebte wie einst als Regentropfen, war er auf seinem Weg zur Erde eine sehr lange Zeit unterwegs.
Es wurde Nacht und Benjamin schlief ein. Langsam und sanft schaukelte er zur Erde.
So sanft schwebte er, daß er nach vielen Stunden auf einem schmalen Fenstersims landete ohne zu erwachen.

Ein Lichtschein, der auf sein Gesicht fiel, weckte ihn. Benjamin öffnete die Augen und sah sich um. Er saß vor einem kleinen Fenster, aus dem ein warmes Licht drang.
Neugierig schaute er hinein und erblickte eine Tanne, größer und schöner als alle, die er je gesehen hatte. Sie war über und über geschmückt mit funkelnden Sternen, glitzernden Glaskugeln, leckeren Näschereien und allerliebstem Spielzeug.
So sehr strahlte der große, schöne Baum, daß Benjamin kurz die Augen schließen mußte.

Als er sie wieder öffnete, sah er eine Gruppe von Kindern, die ein herrliches Lied sang. Sie sangen von Stille und von Heiligkeit und von der Nacht der Nächte.

Benjamin jedoch hörte keinen einzigen Ton des wundervollen Gesangs.
Regungslos saß er auf der Fensterbank und sah unverwandt auf den kleinen, rothaarigen Jungen in der Mitte der Gruppe, der ein gelb-weiß geflecktes Kätzchen mit einem eingeknickten linken Ohr auf dem Arm hielt.

Und während der funkelnde Lichterbaum mit all seiner Herrlichkeit langsam vor seinen Augen verschwamm und die himmlische Musik immer leiser zu werden schien, saß Benjamin vollkommen still und glücklich und schmolz im Schein der hellen Kerzen langsam dahin.

 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Sehr schön und vor allem phantasievoll.
Man kriegt regelrecht selber Lust, mal kurz als Regentropfen durch die Welt zu reisen.


paradis_3001 (24.03.2002)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Ganz oben  
Die Lichtung  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De