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2 Seiten

Ganz oben

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Pat
Er wußte nicht, wie lange er da oben gesessen und auf die Stadt geschaut hatte. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen.
Die Lichter des Molochs unter ihm fügten sich zu einem grandiosen, flimmernden Teppich, ein Spiegelbild des wolkenlosen Himmels weit über ihm. Er suchte sich einen Punkt in der Mitte des funkelnden Gewirrs und ließ seinen Blick zu einem leichten Schielen erstarren, gerade soweit, daß sich all dies Geglitzer zu einem Sternenstaubschleier verwob und ihn unter einer Glocke der Lautlosigkeit und Einsamkeit zurückließ.
Als er in seinem Innersten angekommen war, schloß er die Augen und legte den Kopf weit in den Nacken. Das Tosen des entfernten Verkehrs, das in dieser Höhe kaum lauter war als das sanfte Meeresrauschen, kehrte zurück. Der salzige Geruch der nahen See schlich sich in seine Nase. All seine Gesichtsmuskeln entspannten sich, wurden schlaff. Er öffnete den Mund und atmete langsam und tief die kalte, würzige Luft ein, versuchte seine Lungen bis zum Bersten zu füllen. Die Augen noch immer geschlossen haltend spitzte er die Lippen und ließ seinen Atem in winzigen, ruckartigen und immer schneller werdenden Stößen aus seinem Mund entweichen.
Als er die Geschwindigkeit des Ausatmens kaum mehr kontrollieren konnte und sich kleine Speichelbläschen auf seinen Lippen bildeten, hob er den Kopf und atmete ein letztes Mal tief ein und rasch wieder aus.
Dann öffnete er die Augen.
Nichts hatte sich verändert. Der Funkelteppich einhundert Meter unter ihm lag noch immer kalt und glimmernd, gefangen in seiner tückischen Schönheit.
Sein Blick wanderte hinab zu seinen Schuhen. Siebenhundert Mark. Das Stück. Ein halber Tag und fast eine ganze Nacht im Novemberregen ließen die feine Handarbeit nunmehr nur noch erahnen. Ohne die Kälte wirklich zu spüren, durchlief ihn ein leichter Schauer.
Das Schlimmste waren die Müdigkeit und
die Leere in seinem Kopf, als hätte alles Blut den Weg in seine Fingerspitzen und Zehen gefunden.
Vier Monate.
Noch immer sah er das schmale, blasse Gesicht vor sich, sah die so gar nicht zu dem verhärmten Gesicht passenden fleischigen, viel zu roten Lippen, die die Worte formten. Spürte den Blick
der unter hängenden Lidern dunkelbraunen Augen, deren Feuer durch das Glas der sie zu verstecken
suchenden randlosen Brille fast gelöscht und durch die winzigen, spinnwebartigen Fältchen in den
Augenwinkeln wieder entfacht wurde.
Sah die langgliedrige, vom vielen Waschen gerötete und an den
Fingerkuppen leicht rissige rechte Hand, die sich für einen Moment auf die seine legte.
Danach nichts mehr. Nur noch Laufen, blind Starren, mantellos, hutlos, sinnlos. Nicht wissend, wie
lange, wie weit, wohin, weshalb. Instinktiv den Weg hier herauf findend. Sitzen, auf gar nichts warten, zu
Eis erstarren.
Nach viereinhalbtausend Jahren stand er langsam auf und trat zwei Schritte nach vorn. Er griff in die Innentasche seines Jackets, holte ein winziges Elfenbeinetui hervor, entnahm ihm eine der schmalen, weißen Stangen und klappte es wieder zu. Ohne ihm noch einen Blick zu gönnen, ließ er es achtlos fallen, zog aus der rechten Hosentasche ein Feuerzeug und entzündete tief aufseufzend und mit
geschlossenen Augen die Zigarette. Er sog den Rauch tief in sich hinein, leise den drohenden Verlust erahnend.
Ob sie Harfen haben?
Fast gegen seinen Willen stimmte ihn dieser absurde Gedanke leicht und heiter und ein leises Lächeln umspielte seine Lippen bevor er die Zigarette in einem hohen Bogen in die Tiefe warf und sprang.
 
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Kommentare  

Sehr schöne Geschichte

Hubi (22.11.2002)

gut geschrieben, fast sogar ein wenig zu genau beschrieben.
irgendwie hatte ich das Ende der geschichte vorrausgeahnt, und doch kam es irgendwie unerwartet. Weiter so!!!


werwoelfin (23.03.2002)

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