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5 Seiten

Wölfin der Taiga - Kapitel 7

Romane/Serien · Fantastisches
Heftig atmend strich Jade sich die verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Für einen Moment war sie völlig benommen.
Kerzengerade saß sie auf dem Waldboden und hatte die Finger im Moos vergraben. Sie fragte sich gar nicht erst, warum sie hier aufgewacht war. Viel mehr quälte sie der Gedanke an ihren Traum – oder das, was sie dafür hielt. Was war mit Nathan passiert? War er wirklich verletzt? Oder hatte ihr die Fantasie nach ihrer Begegnung am Nachmittag einen Streich gespielt?
Ihr Atem ging wieder etwas ruhiger und sie konnte ihre Gedanken sortieren. Als sie ihre nackten Beine betrachtete, stutze sie. Ihr Blick glitt über ihren Körper.
„Aaah!“ Ihr heller Aufschrei gellte durch die Nacht. Über ihr raschelte es in den Bäumen.
Das war doch verrückt! Wie konnte es sein, dass sie kein einziges Kleidungsstück am Körper trug? Rasch zog sie die Beine eng an ihren Körper und schlang die Arme darum.
Wenn sie wenigstens wüsst, wo sie war. Die Nacht um sie herum bot Jade keinerlei Anhaltspunkte. Sie sog die kühle Nachtluft tief ein und sprang auf die Füße. Es half ja alles nichts. Sie konnte schlecht bis zum nächsten Morgen hier sitzen. Ihre Augen scannten die Umgebung, aber nichts kam ihr bekannt vor. Jade blickte zum Himmel, doch mittlerweile verdeckten Wolken die Sterne, sodass auch diese ihr keine Orientierung bieten konnten.
Sie rollte die Augen. „Natürlich…“, wisperte sie und lief los, in das Dunkel der Nacht.

Völlig verkatert öffnete Jade die Augen und blinzelte in die Sonne. Erst in der Morgendämmerung hatte sie den Weg nach Hause gefunden und hatte sich ohne Umwege in ihr Bett begeben. Restlos erschöpft von der letzten Nacht war sie scheinbar sofort eingeschlafen.
Doch jetzt war sie wieder was und grübelte über Joes Geschichten und die Geschehnisse der letzten Nacht nach. Sie war sich sicher, in diesen Geschichten eine mehr oder weniger einleuchtende Erklärung für ihr Verhalten gefunden zu haben. Doch wenn sie an das Verhalten der Wölfe bei ihrem Auftauchen dachte, bekam sie Magenschmerzen. Warum waren die Wölfe vor ihr in die Knie gegangen? Jade durchforstete ihr Gehirn nach einer von Joes Erzählungen, die dieses Verhalten erklärten, doch sie konnte sich beim besten Willen an nichts mehr erinnern. Sie musste unbedingt mit Gabriella darüber reden.
Sie drehte sich zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Ein Stich durchfuhr ihren Körper. Zischend stieß sie Luft aus. Der Schmerz brachte die Erinnerung an den Angriff der Silbermenschen zurück. Für einen Moment blieb Jade auf der Bettkante sitzen. Schmerzen hatte sie am nächsten Morgen noch nie gehabt. Aber wenn sie an die letzte Nacht zurückdachte… nicht weiter verwunderlich.
Immer noch splitterfasernackt trat sie vor ihren Spiegel. Zum Glück konnte sie auf den ersten Blick keine weiteren Verletzungen erkennen, außer unzähligen blauen Flecken, die ihren ganzen Körper überzogen. Ein kleiner Kratzer oberhalb ihres linken Auges war bereits verkrustet. Jade näherte sich den Spiegel, um ihn genauer zu betrachten. Vorsichtig fuhr sie mit dem Finger darüber.
„Autsch!“ Das würde sie sich später nochmal genauer ansehen müssen.
Sie griff nach ihrem Bademantel, der neben dem Spiegel hing und schlüpfte hinein. Sie ließ sich auf den Boden sinken, zog die Knie an sich heran und betrachtete sich weiter im Spiegel. In ihrem Kopf kämpften die Geschichten ihres Großvaters mit den Bildern des verletzten Nathan, den sie letzte Nacht schutzlos im Wald zurückgelassen hatte. So sehr wie selten zuvor wünschte sie sich, dass gleich ihr Wecker klingelte und sie aus diesem fürchterlichen Alptraum einfach aufwachen würde.
Wie vom Blitz getroffen zuckte Jade zusammen. Nathan! Sie hatte ihn verletzt zurückgelassen! Zumindest nahm sie das an. Sie konnte keine Erinnerung daran finden, wie sie aus dem Wald rausgekommen war.
In Windeseile tauschte sie ihren Bademantel gegen Jogginghose und Kapuzenpulli, sprintete die Treppe hinunter und sauste an der Küche vorbei, wo Florence gerade das Frühstück zubereitete.
„Jade?“ Florence trat aus der Küche, sah aber nur noch die Haustüre ins Schloss fallen…

Immer weiter lief Jade in den Wald hinein, ohne die eigentliche Richtung zu kennen. Ihr einziger Anhaltspunkt war die Lichtung, doch sie war sich sicher, dass sie Nathan nicht dort zurückgelassen hatte. Sie sah sich um und fragte sich, wie sie in der Nacht den Weg aus dem Wald herausgefunden hatte. Für sie sah ein Baum aus wie der andere. Wahllos schlug sie die Richtung ein, die sie für die richtige hielt. Tannennadeln bohrten sich in ihre Fußsohle. Erst jetzt merkte Jade, dass sie in ihrer Panik keine Schuhe angezogen hatte. Doch trotz der kühlen Luft am Morgen war ihr nicht kalt. Diese Wolf-Eigenschaft blieb ihr scheinbar auch in ihrer menschlichen Gestalt erhalten. Was man ja vom Orientierungssinn nicht gerade behaupten konnte.
Wieder sah Jade sich um und war sich ziemlich sicher, dass sie an diesem Busch schon zum dritten Mal vorbeikam… Weiter setzte sie einen Fuß vor den anderen, immer auf der Suche nach einem Hinweis. Plötzlich spürte sie etwas Eiskaltes an ihrer Fußsohle. Jade blickte zu Boden. Vor ihr waren wenige silberne Tröpfchen auf dem Boden verteilt. Als sie in die Hocke ging und versucht eines der Tröpfchen mit ihrem Finger aufzuheben, flitzte es davon. Sie wich überrascht etwas zurück. Das Silber lebte? Noch einmal tastete sie nach der seltsamen Flüssigkeit und diesmal war sie schneller. Das kleine Tröpfchen wand sich auf ihrer Fingerspitze hin und her, als versuche es zu entkommen. Wie einem lautlosen Ruf folgend, fiel der Tropfen von ihrem Finger und verband sich mit dem Silber zu einem Fluss, der sich tiefer in den Wald schlängelte. Jade sprang schnell auf die Füße, um das Silber nicht aus den Augen zu verlieren. Sie hatte so eine Vermutung, wohin der Weg sie führte. Die Bäume standen immer dichter und die Büsche zerkratzten ihr immer mehr die Beine. Jade blickte zu Boden. Links von ihr zog sich ein weiterer silberner Strang über den Boden und floss zielstrebig mit dem, den sie verfolgte, zusammen. Vor ihr lichtete sich das Gebüsch wieder, die Sträucher wurden weniger, bis vor ihr die Lichtung lag, die sie die ganze Zeit gesucht hatte. Erleichtert seufzte sie auf und überquerte die Lichtung im Laufschritt. Doch dort, wo sie Nathan vermutete, war niemand. Jade schnaubte. Sie wusste nicht, was überwog: die Erleichterung darüber, dass es Nathan scheinbar gut ging oder ihr Ärger, dass er nicht mehr nicht mehr hier war, um ihn ausfragen zu können.
Hinter ihr krachten Äste, als hätten sie der Last eines Schrittes nicht standgehalten. Wie vom Blitz getroffen fuhr Jade herum. Entsetzt starrte Nathan sie an. Jade starrte mindestens genauso entsetzt zurück. Sie hatte nicht mehr damit gerechnet, Nathan hier zu finden, umso erleichterter war sie zu sehen, dass es ihm gut ging.
„Nathan…“ Jade ging vorsichtig einen Schritt auf ihn zu.
Nathan rührte sich nicht vom Fleck. „Du bist das Mädchen von der Marina?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Jade nickte. Unauffällig suchte sie Nathan, der nur mit einer zerrissenen Jeans bekleidet vor ihr stand, nach Verletzungen ab und fand glücklicherweise nichts. Ihr Blick blieb zu seinen Füßen hängen. Das Silber hatte sich um ihn versammelt, bildete eine Art Schutzkreis um ihn. Als Jade noch einen Schritt nach vorne trat, schnellte das Silber nach vorn, als wollte es sie abwehren. Nathan rührte sich nicht. Sein Blick war eisig.
„Was willst Du?“ Seine rechte Hand hielt er vor seinen Körper, die Handfläche zeigte zum Boden, über das Silber gerichtet. Als er seine Hand an seine Seite zog, schien das Silber ihr zu folgen. Die Barriere zwischen Jade und ihm war verschwunden.
Ermutigt von seinem scheinbaren Zugeständnis, wagte Jade noch einen Schritt. Weniger als ein Meter trennte sie nun voneinander.
Ein leichter Wind kam auf und wirbelte das Laub auf dem Boden durcheinander, ließ ihre Haare tanzen und brachte wieder diesen einen Duft mit sich… so vertraut, doch unendlich fremd. Vorsichtig hob sie die Hand. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, Nathan zu berühren. Irgendetwas in ihr sagte ihr, sie würden dann alles erfahren, was sie wissen wollte.
Nathans Blick folgte ihrer Bewegung. Als er verstand, was sie vorhatte, griff er fest nach ihrem Handgelenk. „Tu das nicht!“ Seine Worte waren fast ein Zischen. Es gehörte nicht viel dazu, um zu verstehen, dass Nathan nicht viel von Jades Idee hielt, dennoch ließ er ihr Handgelenk nicht los.
„Wer bist du?“ Seine dunklen Augen nahmen sie gefangen, nicht bereit, sie ohne eine Antwort freizulassen.
Jade wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte ihm ja schlecht die Geschichte mit dem Wolf erzählen. Andererseits… er war es, der hier vor ihr stand und mit seiner bloßen Hand einen Schwall Silber kontrollieren konnte.
„Ich bin… Jade. Einfach nur Jade.“
Nathan lockerte den Griff um ihr Handgelenk ein wenig.
„Also… einfach nur Jade, was tust Du hier? Warum hast Du mich gesucht? Und warum treffen wir uns schon wieder?“
Jade zuckte die Schultern. Nur zu gern hätte sie geantwortet, aber sie kannte die Antwort nicht. Eisern hielt sie Nathans Blick stand, der versuchte, ihr das Unmögliche zu entlocken.
Nathan ließ ihr Handgelenk los, vergrößerte die Distanz zwischen ihnen aber nicht. Er schien zu merken, dass sie wirklich nicht weiter wusste.
„Pass gut auf!“ Nathan fasste sie am Kinn und richtete ihren Blick auf seine rechte Hand. Mit einem Zischen türmte sich das Silber auf und verschwand dann in Nathans Handfläche.
Jade schrie leise auf und sprang einen Schritt zurück. Sie sank zu Boden und in ihr brachen alle Dämme. Das war… das war einfach zu viel. Der Menge an Übernatürlichen, die sie die letzten Stunden erlebt hatte, konnte kein Mensch standhalten. Die Tränen flossen unaufhaltsam über ihre Wangen, mit entgeistertem Blick starrte sie unverwandt auf die Stelle, an der eben noch die kleine silberne Lache gewesen war.
„Was passiert hier? Was geht hier vor?“ Nur schwer konnte sie ihre Stimme kontrollieren. „Das kann doch alles nicht wahr sein!“
Nathan sah sie kurz an, drehte sich dann um und lief in den Wald hinein.
Oh nein! Das konnte er nicht machen! Jade sprang auf.
„Bleib gefälligst stehen!“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe. „Nathan! Du bleibst hier!“ Zu ihrer eigenen Überraschung blieb er stehen, auch wenn er sich nicht wieder zu ihr umdrehte. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm und baute sich hinter ihm auf. „Hör zu, Du kannst hier nicht einfach so einen billigen Zaubertrick abziehen und mich dann ohne eine Erklärung zurück lassen!“ Nathan rührte sich nicht. „Dreh dich gefälligst um! Ich rede mit Dir!“
Jade war wütend. Sie wusste, dass sie der Lösung ihres Problems ganz nahe war. Und sie wusste genauso gut, dass sie aus diesem sturen Mann vermutlich kein Wort herausbekommen würde. Und das machte sie furchtbar wütend!
Nathan drehte sich zu ihr um. Sein Blick war nicht minder wütend. Er schluckte. Wieder fasste er ihr Handgelenk, dieses Mal jedoch um einiges sanfter als zuvor. „Na los. Komm mit!“ Er zog sie hinter sich her.
Einen kurzen Moment dachte Jade an ihre Mutter und was sie dazu sagen würde, wenn sie wüsste, dass sie mit einem fremden Mann einfach in einen dunklen Wald lief. Florence würde sie verfluchen. Wieder zuckte Jade die Schultern. Das war jetzt auch schon egal.
Mit langen Schritten folgte sie ihm. Beide sprachen kein Wort, liefen immer tiefer in den Wald hinein, um sie herum wurde es immer dunkler. Bis sie endlich eine heruntergekommene Hütte im Wald erreichten…
 
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Kommentare  

Schön, dass du dran bleibst =)
Nein, ich gebe natürlich nicht auf ^^ War nur sehr eingespannt, aber seit ich wieder Schule mache, hab ich wieder deutlich mehr Zeit fürs Schreiben =)

Freue mich auf weiteres Feedback von Dir :)

LG
S.


Summer Peach (28.05.2014)

Freue mich, dass es mit dieser Geschichte weitergeht. Du gibst also nicht auf. War sehr spannend und geheimnisvoll. Wirklich gut gelungen. Ich hoffe doch, es kommt noch eine Fortsetzung?

Jochen (24.05.2014)

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