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Solche Momente

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Er schaute mit zusammengekniffenen Augen nach oben, und sah dort durch das Blätterdach über ihm die Sonne hindurchblitzen. Am Rande seines Blickfeldes bemerkte er auch Schmetterlinge, die durch eine von Pollen durchdrungene Luft, welche in Bewegung war; welche förmlich selbst zu leben schien, flatterten. Dann schloß er seine Augen und hörte das Rauschen der Blätter der vielen Bäume um ihn herum. Er sog die vielfältigen Geräusche, die er vernehmen konnte, tief und gierig in sich auf. Er fühlte sich dabei Eins mit sich und seiner Umgebung, gerade so, als schmeckte er das Leben auf seiner Zunge; als spürte er es auf seiner Haut; als vernähme er es mit seinen Ohren; als röche er es mit seiner Nase. Es roch nach Blütenstaub von unzähligen Pflanzen, die gerade im Begriff waren, sich fortzupflanzen. Und es roch ganz deutlich nach diesen typischen Gerüchen, die man immer riechen konnte, wenn es in einem Wald zuerst heftig geregnet hatte und anschließend die Sonne darauf schien. Überall um ihn herum dampfte es, während es ihm gleichzeitig wohlig warm war.

In solchen Momenten, in denen er sich fühlte, als würde er ein impressionistisches Gemälde nicht nur betrachten, sondern förmlich in ihm leben; es mit all seinen Sinnen erfahren, ja, im gewissen Sinne selbst sein, in solchen Momenten erlebte er sich nicht nur als Individuum; als solipsistischer Geist, der von seiner Außenwelt vollständig abgetrennt ist, sondern als Teil eines großen Ganzen. Eines Ganzen, das etwas Gutes, das etwas Wertvolles war. Etwas, das es lohnte zu existieren; zu erleben; zu sein.

Für solche Momente lebte er. Alles andere interessierte ihn nicht; war lediglich ein menschliches Beiwerk von Verrichtungen, die es zu verrichten galt, um das Menschsein so zu verwirklichen, wie es von der Allgemeinheit anscheinend als Standard definiert wurde. Ein Standard, auf den sich irgendwer mit irgendwem irgendwo irgendwann einmal geeinigt hatte, und der seit dem im Sinne von „Es muss so und so und auf keinen Fall irgendwie anders sein!“ propagiert wurde.

Doch da gab es noch viele andere Welten; andere Standarts; andere Seinsmöglichkeiten zu entdecken. Um diese aber entdecken zu können, musste sich irgendwer auf die Reise machen; musste irgendwer dazu bereit sein, hierfür alles, was ihm vorgegeben war, über Bord zu werfen, um so Neues angehen zu können; um so neue Wege beschreiten zu können; um sich so selbst und das, was als menschlich galt, völlig frei und neu erfinden zu können.

Für ihn waren es diese Momente, die sein Leben ausmachten und für die er lebte. Es war nicht sein Auto in seiner Garage; sein gut gelegenes Haus auf einem der Hügel in seiner Stadt oder ein Urlaub auf Teneriffa. Einzig und alleine diese Momente waren es, und sonst rein gar nichts.

Aber umso mehr er „erreichte“; umso mehr er Sachen anhäufte, von denen die Gelsellschaft, insbesondere die Werbung, ihm immer und immer wieder aufs Neue zu suggerieren schien, dass es genau das war, was er bräuchte, um glücklich sein zu können; dass er genau diese Schuhe, und keine anderen, bräuchte, um einen Wert in der Gesellschaft haben zu können; dass er exakt dieses Auto fahren müsse, und kein anderes, damit er von seinen Mitmenschen respektiert werden könnte, umso weniger hatte er Gelegenheit, diese kurzen Momente, die ihm in seinem Leben wirklich wichtig waren, zu erleben.

Schon sein ganzes Leben lang hatte er sich gegen diese Betrachtungsweise, die ihm seine Gesellschaft anscheinend ständig und überall aufzuzwingen versuchte, gewehrt, und doch hatte er ihr Schritt für Schritt, ohne dass er sich dieses Prozesses wirklich bewusst gewesen wäre, vielleicht wie der Frosch im Bottich voll mit Wasser, das man nur langsam erwärmte; bis es kochte; bis der Frosch darin schließlich zu Tode kam, nachgegeben. Und nun lebte er ein Leben, das mit beiden Beinen „mitten im Leben stand“, wie es die Gesellschaft immer wieder gerne zu formulieren pflegte, aber weitestgehend außerhalb seines Lebens, wie er es leben wollte; wie er es für sich als richtig empfand.

Was sollte er nun also tun? Vielleicht sein Haus und sein Auto verkaufen? Seinen Job und seine Freundschaften kündigen? Anschließend ein gänzlich neues Leben beginnen? Ein neues Leben, das außerhalb der Gesellschaft stattfand; das er selbst in der Hand hatte; das er selbst gestalten konnte, wie er es nur wollte, ohne dabei irgendwelche Kompromisse eingehen zu müssen? Ein Leben, in dem er so viele Momente erleben konnte, wie er nur wollte, ohne diese von seinen Verpflichtungen, das heißt von seinem derzeitigen Leben, regelrech abringen zu müssen?

(Kurz musste er an dieser Stelle an Diogenes von Sinope denken, und natürlich auch an dessen Tonne.)

Was wäre dies wohl für ein Leben? Ein Leben als Aussteiger; als Penner; als Trunkenbold? Ein gesellschaftlicher Tumor, der keinerlei Wert für diese hatte, da er selbstsüchtig stets lediglich seinen eigenen Bedürfnissen nachging?

Angesichts all dieser Gedanken war „sein Moment“ von vorhin schon längstens wieder entschwunden; regelrecht zerplatz, wie eine zu groß geratene Seifenblase. Kein Schmetterling oder Geruch konnte diesen nun wieder zurückholen. Er klang lediglich noch als sich leise verblassende Erinnerung nach, die so schnell, wie es ein altmodisches Foto auf Papier im Zeitraffer, in dem ein Jahr wie eine Sekunde verliefe, tun würde, verblasste. Es war eine ihn alles durchdrungene Erkennsnis, welche dies ausgelöst hatte. Es war die Erkennis darüber, dass er im Grunde gar keine Wahl hatte, wie er von nun an sein Leben gestaltete. Zu vieles war von nun an schon vorgegeben; vorgezeichnet, weshalb er sich mit diesem Leben einfach irgendwie arrangieren musste, so schmerzahft sich für ihn dieser Prozeß auch gestalten sollte.

Und doch konnte er selbst dieser ihm in diesem Moment als verzweifelt erscheinenden Lage, in der er sich nun zu befinden schien, noch einen positiven Aspekt abringen: Denn dadurch, dass durch sein derzeitiges Leben diese Momente, für die er lebte, die ihm so wichtig waren, so selten waren; dass er diese seinem Leben regelrecht abtrotzen musste, um sie erleben zu können, waren sie gerade deshalb nur um so kostbarer für ihn geworden; erlangten sie einen nur um so höheren Wert für ihn; erlebte er diese nur um so intensiver.

Am nächsten Tag ging er mit einer viel größeren Zuversicht in Bezug auf seine Zukunft zu seiner Arbeit, als es noch viel zu viele Tage zuvor der Fall gewesen war.
 
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Kommentare  

Ein Text, der nicht nur Text, nicht mahnerisches Daseinsgeschwafel ist, sondern ein Text der aus dem Innersten eines fühlenden, lebendigen und nach dem Wert des Lebens orientierten Herzens kommt.
Wie oft hört man, dieses und das zum Thema Wert des Lebens; Richtig leben; dem Leben einen Sinn geben ....
und doch sind wir alle in diesem Laufrad des Lebens ein Stück weit gefangen, von Normen, Gesetzen und Fremdbestimmung eingeengt, die dann irgend wann zur Gewohnheit wurde und so absurd es auch scheint, auch zur Bequehmlichkeit mutierte, dass häufig erst Krankheit oder ein traumatisierendes Ereignis diese Mauern sichtbar werden lässt und manchmal sogar zum Einsturz zu bringen vermag. Wer seine Wertskala ausschließlich von seiner Umwelt abhängig macht, der hat sich doch schon weitgehend verloren und wer seinen Lebensweg ausschließlich darin sieht alles zu tun um andere glücklich zu machen muss irgend wann scheitern, weil er sich selber dabei so sehr vernachlässigt hat, dass er zum Nichts geworden ist. Keiner vermag ihm zu helfen, dann wenn er es ist der Hilfe braucht, weil wer alles und immer kann, der bedarf keiner Hilfe, der ist zum helfen und nicht zum Pflegen da.
In einer Zeit wo die Innere Einkehr und Betrachtung, die Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung kaum noch verglichen wird, aus Angst vor der Erkenntnis und den daraus zu ziehenden Verhaltens- und Denkmusteränderungen. Solche Momente machen den meisten Menschen Angst und so ist es bequemer zu überleben als selbstbestimmt zu leben.
Zurecht hast du diese Geschichte unter "Nachdenkliches" eingestellt und bei mir hat das mit dem Nach- und Überdenken auch ein Stückchen geklappt. Von Herzen Dank für diesen wohlgemeinten und von Zeit zu Zeit notwendigen Denkanstoß von siehdichfuer oder realer noch von Rolf Fütterer


Siehdichfuer (19.09.2014)

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