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9 Seiten

Lea (2) Gefangen

Romane/Serien · Schauriges
Von einem Moment auf den anderen veränderte sich alles. All dieses kurz aufgeflammte Glück und die Hoffnung, wurden von einer Sekunde auf die andere vernichtet, mit Füßen getreten und zu Staub zermalmt. Wie hatte ich nur an das Glück glauben können? Wieder einmal wurde meine Welt dunkel, nicht nur dunkel, schwarz, schwarz und leer…

Lea rannte lachend Richtung Haustür, kramte ihren Schlüssel aus der Hosentasche, sperrte auf und warf einen schnellen Blick über ihre Schulter, wobei ihre Haare einmal ihr Gesicht streiften und dann zurück auf ihren Platz huschten. Er stieg gerade aus. Sie schlüpfte hinein in ihr Haus und zog die Tür hinter sich zu…

Ich öffnete die Fahrertür und flitzte Lea mit einem Lächeln hinterher, das auf der Schwelle zum Haus zuerst erstarrte und dann zerlief, wie ein Eis in der Mittagssonne. Eisige Kälte und Dunkelheit umgaben mich, als ich in unser Haus kam. Es war als wäre ich statt durch die Haustür, durch ein unsichtbares Tor in eine andere Welt gekommen. Einer Welt ohne Sonne, Farbe, Licht und Glück. Ich spürte nur noch diese trostlose Schwärze um mich herum und hatte das Gefühl, alles sei in Watte gepackt, selbst die Geräusche waren dumpf und ohne Klang.
Meine Hand glitt zitternd zum Lichtschalter, aber nichts geschah. Die Dunkelheit blieb. Ich versuchte nach Lea zu rufen, aber nur ein seltsames raues Krächzen verließ meinen Mund. Ich fühlte mich, als wäre ich gerade schlafwandelnd gegen eine Wand gelaufen. Nichts ergab einen Sinn und meine Gedanken wollten sich einfach nicht sammeln. Ich versuchte durchzuatmen, doch selbst das war eine Qual, die Luft schien zu einer zähflüssigen Flüssigkeit geworden zu sein. Ich musste raus hier…
Als ich wieder zu mir kam lag ich zwischen dem Auto und dem Haus auf den alten Betonplatten. Es hatte angefangen zu regnen und es war dunkel geworden, obwohl es erst kurz vor Mittag war. Es war kein kräftiger Schauer, eher ein leichter Sprühregen, der beständig anhielt und mich durchnässte. Die Luft war nicht klar, jedoch besser als im Haus und ich konnte normal atmen.
„Lea!“, schoss es mir durch den Kopf und mit einem Satz war ich auf den Füssen. Ich sah zum Haus. Dunkel und still stand es vor mir und schien mich zu verhöhnen. Die Haustür war geschlossen und mein Schlüsselbund hing im Schloss. Ich rannte zum Auto, kramte aus dem Handschuhfach das Maglite und lief zur Haustür zurück. Was würde mich erwarten? Meine Hände zitterten wieder als ich nach dem Griff tastete. Langsam drücke ich die Klinke nach unten. Die Tür schwang auf und ich hatte für ein paar Sekunden die Hoffnung, dass alles normal sein würde.
Ich zögerte, als mich diese Dunkelheit und Kälte zum zweiten Mal empfing. Was war nur geschehen? Ich musste Lea finden! Der Schein der Taschenlampe erfasste den Flur und alles sah normal aus. Ich ging zwei Schritte hinein und hatte unbewusst den Atem angehalten. Jetzt zog ich die Luft umso gieriger ein und das wurde mir fast zum Verhängnis. Erneut hatte ich dieses Gefühl, eine Flüssigkeit zu atmen und ich spürte, wie mir die Lichter ausgehen wollten. Das durfte nicht geschehen! Ich musste sie finden! Ich übergab mich, einmal und dann noch einmal, raffte mich auf und schrie: „Lea!“ und dieses Mal kam nicht nur ein Krächzen, sondern ein wirklicher Schrei aus meinem Mund und das machte mir Mut. „Ich werde nicht aufgeben. Ich werde dich finden und nichts und niemand wird mich davon abhalten!“, schrie ich der Dunkelheit entgegen und glaubte, die Luft wäre ein wenig besser und die Dunkelheit ein wenig heller geworden. Wahrscheinlich bildete ich mir das nur ein, weil mein Gehirn mit zu wenig Sauerstoff versorgt wurde.
Ich ging von Raum zu Raum, von der Küche ins Wohnzimmer, dann nach oben ins Schlafzimmer, in ihr Zimmer, das Bad und über die alte wacklige Treppe zum Speicher, rief immer wieder ihren Namen doch ich fand sie einfach nicht. Es gab keine Spur von ihr, alles war so wie wir es verlassen hatten. Waren die Geister doch nicht verschwunden, hatten sie ihr etwas angetan? Nein, es war nicht wie vorher. Es war anders. Ich glaubte mittlerweile an Geister, Gespenster oder was auch immer. Verdammt ich hatte sie selber gesehen. Doch es war nicht nur diese Dunkelheit die alles änderte, es war dieses seltsame Gefühl, dass mir entgegenschlug. Es war etwas Böses, Wut und Hass! Etwas war hier und wollte nicht, dass ich im Haus bin. Es wollte Lea für sich alleine und es wollte mich loswerden. Aber was war dieses ES? Die Geister waren unheimlich gewesen, sie hatten meine Sicht auf die Welt verändert aber da war nicht dieser Hass gewesen. Dieses ES war etwas anderes und ich wusste nicht was!
„Eva, hilf mir!“, rief ich in meiner Verzweiflung und lauschte. Nichts. Kein Ton war zu hören. Kein Klappern, kein Summen irgendwelcher Geräte, kein Rauschen der Heizungsrohre - nur Totenstille.
Die Luft wurde zäher und die Dunkelheit noch schwärzer. Es wollte mich zum Aufgeben zwingen aber das würde es nicht schaffen. Das Wort Heizung hallte, wie ein endloses Echo durch meinen Kopf und mir wurde bewusst, dass ich den Keller vergessen hatte. Wieder rief ich ihren Namen, um mir selber etwas Mut zu machen und lief zurück zum Flur. Der Schlüssel steckte wie immer von außen in der Tür zum Keller. Eva hatte sie immer abgesperrt. Als ich die Klinke nach unten drückte, öffnete sich die Tür und ich glaubte auf der richtigen Spur zu sein. Aus Gewohnheit griff ich zum Lichtschalter und etwas glitt über meine Hand, die ich angeekelt zurückzog. Eine fette, behaarte schwarze Spinne erschien im Lichtstrahl der Taschenlampe. Ich stolperte zurück in den Flur und im hellen Strahl der Lampe sah ich noch mehr dieser grässlichen Viecher. Sie waren überall auf der Treppe und sie waren groß, sehr groß! Ich musste würgen. Als ich mich vornüber beugte, sah ich den Feuerlöscher in der Nische neben der Tür.
Wut stieg in mir auf und ich schnappte mir das Ding. Riss den Sicherungsstift heraus und zielte, die Taschenlampe zwischen den Zähnen haltend und den Feuerlöscher in den Händen, auf die Treppe und die hässlichen Spinnen. Ich drückte den Hebel nach unten und ging knurrend wie ein Hund und einen Nebel aus Löschpulver vor mir her sprühend die Treppe hinunter. Mit einem letzten Pfffff leerte sich der Feuerlöscher und ich stand mit rasendem Herzen vor den Tanks der Heizung. Die Spinnen waren verschwunden. Hatte es sie überhaupt gegeben? Ich nahm die Taschenlampe in die Hand und drehte mich einmal im Kreis. Die Tanks, die Heizung, alte Möbel und Kisten, die Regale mit allem Möglichen, alles wie immer und doch da war was. Zum ersten Mal in all den Jahren fiel mir auf, wie klein der Keller war, im Gegensatz zu diesem großen Bauernhaus. Es war halt nicht komplett unterkellert, das war nichts Besonderes, ging es mir durch den Kopf, doch ich wusste es besser. Ich wusste es nicht nur, ich spürte es. Noch was spukte kurz durch meinen Schädel, eine Sache, die ich mit meinem Freund über unser Haus herausgefunden hatte aber ich bekam es nicht zu fassen. Noch einmal ließ ich den Schein der Lampe die Wände und den Boden absuchen. In der Ecke zum Garten hin lag etwas und langsam ging ich darauf zu. Es war Leas Armband, eins dieser selbst gemachten Bänder aus Gummi, die wohl alle kleinen Mädchen schon hatten. Ich hob es auf und leuchtete zur Wand. Sie war mit Holz vertäfelt. Vor dieser Wand stand eine alte Werkbank mit allem möglichen Kram, alten Werkzeugen, Schrauben, Nägeln und einem alten Schleifstein, den ich nie benutzt hatte…

Als Lea langsam wieder zu sich kam, brummte ihr Kopf und sie fühlte sich schlecht, sehr schlecht, so als ob sie sich gleich übergeben müsste. Was war geschehen? Sie hatte die Haustür hinter sich zugezogen und dann? Dunkelheit! Sie hatte dieses Etwas kurz und heftig gespürt und dann war alles einfach in dieser Dunkelheit verschwunden und sie war ebenso von ihr verschluckt worden. Auch jetzt konnte sie dieses Etwas, dieses Böse, diesen Hass spüren und fühlen. Sie konnte um sich herum Wände aus Erde erkennen. Zwischen der Erde sah sie die Reste von Holz und Ständerwänden, als sei dieser Raum irgendwann einmal verschüttet worden. Es gab kein Licht nur ein seltsames, leichtes Dämmern, das vergeblich versuchte, die Dunkelheit zu verdrängen. Tränen liefen über ihr Gesicht und leise wisperte sie: „Was willst du von mir?!

Ich wusste, dass hier unten irgendwo Spaten, Gartenhacke, Äxte und anderes Werkzeug rumlagen. Ich fand alles angelehnt hinter der Treppe. Nachdem ich die Werkbank auf Seite gewuchtet hatte, versuchte ich mein Glück mit der Gartenhacke. Das Holz vor mir löste sich mit jedem Schlag mehr und mehr auf und dann brach der verdammte Stiel. Ich nahm die Axt und als ich sie über den Kopf hob, blieb mir das Herz fast stehen. Von einer Sekunde auf die andere war der Strom wieder da. Die Neonröhren leuchteten nach einem Zucken auf und an der Heizung funkelten kleine rote Lichter, die mich still betrachteten. „Es will dich nur ablenken.“, hallte Leas Stimme durch meinen Kopf und ich hob die Axt. Mit einem lauten Wuff sprang der Brenner an und erneut erschrak ich. Noch einmal sah ich mich um. Keine Spinnen, keine weiteren Überraschungen und hob wieder die Axt.

„Das weißt du doch!“, kam die grollende Antwort aus der Dunkelheit, schoss wie ein Blitz durch ihren Kopf und dieses Mal musste sie sich übergeben. Ihr ganzer Körper zitterte. Noch nie hatte sie so etwas abgrundtief Böses gespürt. Sie war schon immer anders gewesen, auch wenn niemand etwas davon wusste, außer ihrer Oma. Am Anfang war es für Lea ganz normal gewesen Geister zu sehen. Es gehörte einfach zu ihrem Leben dazu. Sie kannte es nicht anders. Erst mit fünf lernte sie die Schattenseite kennen. Die dunkle Seite dieser Gabe und an ihrem sechsten Geburtstag, hatte ihre Großmutter sie besucht, war mit ihr spazieren gegangen und hatte versucht ihr all das zu erklären.
Doch Lea verstand es nicht. Sie wusste nur, es durfte keiner erfahren, dass sie diese Macht, wie es Oma ausgedrückt hatte, besaß. Sie musste es verheimlichen und so tun, als wäre alles normal und das hatte sie auch perfekt hinbekommen. Es war nicht immer leicht das kleine Kind zu spielen, wenn man so viel sah und wusste wie sie.
Sie hatte gedacht alles würde gut werden. In den letzten Tagen war sie kurz davor gewesen, alles ihrem Vater zu erzählen, aber er war einfach noch zu sehr mit seiner Trauer beschäftigt gewesen. Und diese Geister waren harmlos gewesen, wenn in Lea auch die Angst immer größer geworden war, in dieser anderen Welt stecken zu bleiben, für immer da bleiben zu müssen. Wieder mal hatte Oma sie beruhigt und es war ja auch alles gut geworden. Die anderen Geister waren verschwunden, mit ihnen auch Mama, was ihr wehtat, aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit. War es schon zu spät, war sie jetzt für immer in dieser anderen Welt: der Schattenwelt?

Ich schlug immer und immer wieder zu und das Loch wurde grösser und grösser, als es plötzlich dunkel wurde. Der Brenner der Heizung lief noch, und immer noch verhöhnten mich die kleinen roten Leuchtdioden aber der Rest der Welt war tot. Nein, nicht ganz. Ein Geräusch, ein leises Kratzen und Schaben. Etwas war mit mir hier unten. Ich nahm die Taschenlampe von der Werkbank und leuchtete in alle Ecken des Kellers. Ruhe, nur mein wie verrückt schlagendes Herz, das Rauschen in meinen Ohren und mein unterdrücktes Atmen waren zu hören. Ich wollte mich schon umdrehen, als ich die Bewegung unter der Treppe wahrnahm. Waren es erneut diese Spinnen oder mit welchen verrückten Sachen wollte mich dieses Etwas jetzt aufhalten? Und wie in einem dieser bescheuerten Horrorfilme ging die Taschenlampe aus. Ein leises Quicken kam aus meinem Mund und ich rechnete jeden Moment mit einer Berührung. Mein eh schon auf Hochtouren laufendes Herz, hatte noch mal die Drehzahl erhöht, ich schwitzte und zitterte.
Leas Stimme rettete mich: „Es will dich nur loswerden und aufhalten! Hilf mir!“ Ich versuchte mich zu beruhigen. In einem der Regale rechts von mir standen noch zwei Taschenlampen. Ich hatte sie gesehen auf meiner Suche nach Lea. Langsam, Schritt für Schritt mit weit ausgestreckten Armen ging ich nach rechts, bis ich an das Regal anstieß. Wo auf dem Regal waren sie gewesen? Ziemlich weit rechts und in Brusthöhe. Ich sah das Bild jetzt klar vor mir und ich wusste nicht, ob es einfach aus meinem Unterbewusstsein kam oder es mir jemand geschickt hatte. Ich tastete mich voran und obwohl ich die ganze Zeit dachte, gleich reißt mir etwas die Finger ab, fand ich die Taschenlampen. Ich nahm die ganz rechts und betätigte den Schalter.

Sie spürte immer noch dieses überwältigende Böse aber auch ein Funken Hoffnung machte sich in ihrem Herzen breit. Ihr Papa war da, er suchte sie und er war schon sehr nahe. Sie musste ihm helfen und dieses Böse Ding irgendwie ablenken. „Du willst mich! Meine Macht, meine Gabe! Ist es das?“
Wieder schoss die Stimme durch ihren Kopf. Sie hörte sie nicht mit den Ohren, sondern direkt hinter ihrer Stirn. Laut, sehr laut. Sie tat weh. Doch dieses Mal war sie vorbereitet und brach nicht zusammen. „Ja ich will dich und deine Seele. Ihr habt mir meine Energie gestohlen. Drei Seelen sind verschwunden. Zuerst war ich sehr böse aber jetzt, da du da bist, ist alles anders. Du bist etwas Besonderes und ich brauche nur noch dich!“

Ich hatte die Lampe auf die Treppe gehalten und was ich in ihrem Lichtschein zu sehen bekam, ließ ein hysterisches, irres Lachen über meine Lippen kommen. Ein verdammter schwarzer Rabe saß keinen Meter vor mir auf dem Boden und starrte mich unbeweglich an. „Haha ist das alles? Willst du mich mit einem scheiß Vogel erschrecken?“, schrie ich dem blöden Vieh entgegen. Ich kicherte immer noch, als mir langsam klar wurde, dass es nicht nur ein beschissener Vogel war. Das Geräusch war zurück. Dieses leichte Rascheln und Kratzen und das blöde Vieh vor mir, legte den Kopf leicht schief, als würde es auch darauf reagieren. Dann kamen sie.
Der Funken Hoffnung in ihrem Herzen erstarb zu Staub. Sie sah, was ihr Vater sah. Hörte dieses Grollen in ihrem Kopf, das ein Lachen war, ein hämisches Lachen voller Hass.

Der Boden unter der Treppe bewegte sich auf einmal. Und diese Bewegung kam auf mich zu. Es dauerte bis ich endlich begriff, was ich da sah. Es waren Dutzende Raben. Eine schwarze Masse mit kleinen funkelnden Augen rollte auf mich zu.

Sie sah, wie diese schwarze Welle über ihren Vater herfiel. Sah es durch seine Augen. Sah die Flügel, die Schnäbel, die sich in seine Kleider verbissen. Sah die blutigen Arme und Hände, immer wieder im flackernden und tanzenden Licht der Taschenlampe. Dann wurde es dunkel.

Mit einem Mal waren sie über mir, neben mir, unter mir – überall. Ihre Flügel trafen mich im Gesicht und die Luft wurde schlechter, staubiger, erstickender aber das war nur das kleinere Übel. Ihre Schnäbel waren das Schlimme, kleine Spitze Dinger, die immer wieder in meiner Kleidung hängen blieben, in meinen Haaren und dann fanden sie meine Hände und ich schlug um mich, ich schrie, schlug, schrie und schrie, bis ich ihre Stimme hörte:
„Papa du musst dich wehren! Nicht mit deinem Körper – mit deinem Kopf! Diese Vögel sind nicht echt. ES schickt sie. Sie sind nur in deinem Kopf, in deinen Gedanken und Vorstellungen aber nicht wirklich real.“
„Ich sehe das Blut, fühle die Schmerzen!“
„Ja das ist alles da, aber nur weil du es zulässt. Hör auf mich. Denk dir was aus, denk an was Schönes. Du musst es schaffen, sonst bin ich alleine und werde für immer auf der dunklen Seite sein und ES wird mich töten. Langsam ganz langsam. Denk an die weißen Rosen.“
Ich sah sie vor mir. Die weißen Rosen. Ich sah Eva mit Lea in der Badewanne, lachend und glücklich. Ich sah die beiden im Krankenhaus bei der Geburt, sah uns drei auf einer Decke liegen und den blauen, wolkenlosen Himmel betrachten, sah uns gemeinsam am Meer, ihr erster Tag im Kindergarten, der erste Tag in der Schule und dann sah ich in Leas kleine schlauen Augen, als ich sie das erste Mal im Arm hielt. Der Moment, als ich wusste, es würde nie andere Mädels in meinem Leben geben als diese beiden. Sie brauchte mich, ich hatte Eva verloren. Lea würde ich nicht verlieren!
Ich sah die weißen Rosen, die riesigen, weiten und endlosen Felder von weißen Rosen aus Leas Traum, doch in meinem Traum sah ich auch die Raben. Es waren viele schwarze Raben, Dutzende, wie unten im Keller, aber sie hatten keine Chance gegen diese Übermacht aus weiß, aus Licht, aus Hoffnung und Glück. Sie stoben erschrocken auf und hoben ihre Flügel, mit denen sie über dieses Meer aus weißen Rosen flogen. Nein sie flogen nicht, sie flüchteten vor ihnen.
Um mich herum war es wieder dunkel. Mein Körper brannte, juckte, blutete und stank. Ich hustete, würgte und dann grinste ich. Ich lebte! Die verdammten Vögel waren weg. Ich hatte es geschafft. Ich stand auf. Ich brauchte die zweite Taschenlampe und dann musste ich zu Lea.
Auch Lea grinste. Der Funken Hoffnung war abermals da. Sie grinste und weinte, fing an zu schluchzen und legte sich auf den Boden. Rollte sich zusammen und dachte an ihre Mama. Sie war nicht mehr hier, nicht einmal mehr als Geist. Sie war jetzt auf der guten Seite, der hellen, der schönen Seite. Und doch würde sie immer ein Teil von ihr sein, da hatte Papa recht. Papa würde ihr helfen, da war sie sich ganz sicher. Lea spürte eine seltsame Kraft in sich aufsteigen, eine Energie, die sie nicht einzuordnen wusste. Ein unbändiges helles Licht, das seinen Weg an die Oberfläche suchte.

Ich fand die zweite Taschenlampe und machte mich an die Arbeit. Fing erneut an, die Wand mit der Axt zu bearbeiten, um das Loch größer und größer zu machen. Mit harten Schlägen, voller Wucht, schlug ich auf die Erde ein. Eine Welle der Energie hatte mich erfasst und selbst die Gedanken, die mir sagten, dass was ich hier tue sei völlig unlogisch, konnten mich nicht aufhalten. Diese Gedanken wollten mir einreden, dass es auf der anderen Seite nichts gab und das war auch logisch. Sie hatten recht und doch nicht. Da war keine Tür, kein Mensch hätte durch diese Wand in das, was auch immer auf der anderen Seite war, kommen können. Aber ich wusste, dass es so war, so wie ich wusste, dass auf den Tag die Nacht und auf die Nacht der Tag folgte.
Dann war ich durch. Die Wand aus feuchter fester Erde brach auf. Ich schlug wieder und wieder zu und der Durchgang wurde größer und größer.

Lea hörte das Klopfen und Schaben auf der anderen Seite und es wurde lauter und lauter. Sie setzte sich auf. Sah zur Wand und wartete und wurde immer unruhiger. Zuerst rollten nur kleine Brocken von der Wand aber dann entstand ein kleines Loch, keinen Meter von ihr entfernt. Es wuchs und wurde größer. Sie sah, wie die Axt immer wieder durch den Durchgang drang. Dann erspähte sie Hände, dreckige, blutige Hände. Sah, wie ihr Vater sich hindurchzwängte. Der Rest von ihm sah auch nicht wirklich gut aus. Er sah aus, als wäre er wochenlang ohne Dusche oder Wasser durch einen tiefen undurchdringlichen Wald gelaufen. Dann spürte sie seine Hände im Gesicht, am Hals, als Umarmung auf ihrem Rücken. Sie streckte die Arme aus und umarmte auch ihn.
„Ich hab dich gefunden!“ „Ja Papa, das hast du. Noch einmal folgte eine Umarmung aber dieses Glücksgefühl, das hätte da sein sollen, wollte sich einfach nicht einstellen. Etwas war nicht gut überhaupt nicht gut. Sie hatte es die ganze Zeit gespürt aber jetzt war dieses Gefühl riesig. Sie stand auf und nahm ihren Vater an der Hand. „Wir müssen von dem Durchgang weg. Jetzt!“

Sie sah mich an und auch ich spürte es. Ich nahm sie in den Arm und lief weiter hinein in den Raum, der mir wie eine Höhle vorkam und bevor ich durch die Luft geschleudert wurde, hörte ich diesen ohrenbetäubenden Knall. Die Druckwelle warf mich nach vorne und Lea fiel mir aus den Armen. Dann kam die Hitze, die den Sauerstoff stahl. Meine Lungen brannten und ich nahm den Lichtblitz wahr, der sofort wieder erstarb. Ruhe und Dunkelheit senkten sich über uns.
Ich fand die Taschenlampe im Dreck und sie funktionierte noch. Lea kroch auf das Licht zu. Wir umarmten uns, hielten uns fest und weinten. „Bist du verletzt?“ „Nein, ich glaub es sind nur ein paar Haare angesengt aber sonst geht es mir gut. Was war das Papa?“ „Ich glaube dieses Ding hat unsere Heizung in die Luft gejagt.“ „Wie kommen wir hier raus, dein Durchgang ist zugeschüttet?“ „Ich weiß es nicht aber wir werden einen Weg finden, Lea. Wir werden es schaffen hier rauszukommen. Wir werden dieses Etwas, was immer es auch sein mag besiegen. Gemeinsam.“

Würden sie es wirklich schaffen oder würden sie für immer hier gefangen sein, fragte sich Lea. Sie fühlte wieder dieses Licht in ihr, das seinen Weg suchte und wie vorhin, als sich das Glücksgefühl nicht einstellen wollte, so wollte jetzt keine Verzweiflung aufkommen. Sie waren nicht allein. Dieser kleine Funken Hoffnung in ihrem Innern wurde gerade zu einer Flamme…
 
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