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Der Rauch des Tees

Kurzgeschichten · Romantisches
Es packte ihn jedes Mal eine Art von Panik, wenn ihm ihr Gesicht zu entschwinden drohte, wenn sein inneres Auge ihre Augen, den Schnitt von Nase und Mund, die Linie ihres Haaransatzes nicht mehr genau sehen konnte. Dann musste er so schnell als möglich ihr Bild in dem Silberrahmen ansehen, das auf dem kleinen Tisch neben seinem Lehnstuhl stand, meist geschmückt mit einem Strauss frischer Blumen, manchmal auch nur mit einer einzelnen Rose.
Es gab noch eine zweite Möglichkeit, ihre Präsenz in sein Inneres zurück zu holen. Er schaffte es mit bloßer Vorstellungskraft. Dabei half ihm die immer gleiche Erinnerung, die aus vielen Stunden in eine einzige zusammengeschmolzen war: Seine Frau im späten Nachmittagslicht, am Tisch ihm gegenüber, die zartwandige Teetasse in der Hand, ihn anlächelnd. Mit dieser Vorstellung konnte er sich das Bild in aller Lebendigkeit in die Gegenwart zurückholen, besser als mit jeder Fotografie.
Sie hatten jeden Nachmittag Tee zusammen getrunken, hatten sich damit eine kleine, unbeschwerte Insel im Alltag geschaffen. Nach seiner Pensionierung hatten sie damit angefangen, zuerst mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. Mitten im Nachmittag einfach nichts tun, einfach nur sitzen. Wann immer es ging am Tisch draußen, unter dem alten Baum. Die Jahreszeiten vorbeiziehen lassen, Jahr für Jahr.
Eigentlich war er ein Kaffeetrinker gewesen, hatte sich gerne während seiner Arbeitszeit hie und da einen Espresso gegönnt. Aber seine Frau war Teeliebhaberin, die sich mit der Zeit zur Kennerin entwickelt hatte.
„Was möchtest du heute“, hatte sie gefragt, wenn der Nachmittag langsam in den Abend überzugehen begann, „einen Assam, einen Darjeeling oder einen Olong?“
„Was würdest du denn am liebsten trinken“, hatte er meist zurück gefragt und sie entscheiden lassen.
Sie hatte den Tee immer sehr sorgfältig aufgebrüht und sich dann über das duftende, bernsteinfarbene Getränk in den beinahe durchscheinenden Tassen gefreut. Manchmal hatten sie zusammen gesprochen, keine tiefgründigen Gespräche, leichtes Geplauder über Kleinigkeiten des Alltags. Mit den Jahren war das Gesprochene dann immer mehr einer vertrauten Schweigsamkeit gewichen. Es war eine gute Stille zwischen ihnen, die der gemeinsamen Teestunde nichts von ihrer Leichtigkeit nahm.
Nicht einmal dann, als seine Frau immer schwächer wurde, zarter, als sie oft die kalten Finger an der heißen Tasse wärmte und ihn über deren Rand anblickte. Über einer Tasse Olong, Assam, Darjeeling. Dieses Bild war ihm überall verfügbar, auch jetzt in seinem einsamen Zimmer im Altersheim.
Er wurde durch das leichte Pochen an der Türe aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Die aufmerksame asiatische Pflegerin, die er so gerne mochte, streckte den Kopf herein, kam auf ihn zu:
„Haben Sie einen Wunsch, Herr Steinbrech,“ fragte sie in ihrem gebrochenen Deutsch und lächelte ihn an.
„Ja“, antwortete er, „könnte ich eine Tasse Darjeeling haben?“


Angeregt durch ein Haiku von Issa:
Der Rauch des Tees
und die Weide, zusammen
tanzen sie.
 
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Kommentare  

Eine kleine Geschichte ohne jeden Schnörkel und dennoch sehr zu Herzen gehend. Ich hatte Tränen in den Augen.

Evi Apfel (25.09.2014)

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