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Das Schwert anhalten (Eine Unterweisung im Ken)

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Das Schwert anhalten


Die jungen Frauen wurden hitziger. Verbissenheit stand in Lians Gesicht geschrieben. Dunkel und böse ragten ihre Augen aus ihrem Gesicht. Wie zwei Raben auf einer alten Eiche im Winter. Der Streit mit Xue war noch nicht vorbei, erkannte der alte Meister. Gestern hatten sich beide in den Neuen verguckt.

Unerwarteter Weise hatte Xue die erste Runde gewonnen und war mit ihm abends stundenlang um den Teich gewandert. Gerade Xue, die sich nichts aus Männern machte. Ja, alles schien, als hätte sie es nur gemacht, um Lian eins auszuwischen. Und diese rächte sich nun mit ihrem Holzschwert. Hart drang sie auf ihre Konkurrentin ein. Laut knallte das Holz. Klack, Klack, Schepper. Dazwischen hörte er ihre kurzen Kampfschreie. Wellensittichen wäre das Herz stehen geblieben. Ihre Gesichter tropften, nass klebte das Haar in der Stirn und an den Wangen. Das Feuer der Eifersucht roch wie ein Lagerfeuer am nächsten Morgen. Schwelender Neid kroch wie Schlieren durch die Luft. Es war Zeit, die Schwerter zu stoppen.

Das Klatschen seiner Hände hallte wie eine Explosion im Universum. Schlagartig herrschte Stille. Wie Gespenster huschten die jungen Männer und Frauen an den Rand der Matte.
Nur das Japsen von zwanzig Kehlen war zu hören.

„Meine lieben Schülerinnen und Schüler“, besänftigte der alte Mönch die Stille, „in der letzten Stunde habe ich sehr stark vernommen, wie sehr ihr vom Ehrgeiz besessen wart, den Gegner zu besiegen. Das ist nicht gut. Dieser Ehrgeiz benebelt eure Gedanken. Er lässt in euch den Willen entstehen, zu siegen. Doch dieser Wille engt euch ein. Dieser Wille besiegt euren Geist. Dieser Wille beeinträchtigt eure Wahrnehmung. Nur noch das eine Ziel vor Augen, seht ihr den Rest der Welt nicht mehr. Das ist nicht die Bedeutung des Weges der Schwertkunst.“

„Was ist dann aber die Bedeutung des Weges der Schwertkunst?“, fragte Li nach.

„Das Ich zu erkennen!“, gab der Meister die Antwort.

„Was heißt dies, das Ich erkennen?“, fragte erneut die Schülerin.

„Sich selbst zu vergessen!“, gab der Meister die Erklärung.

„Ich soll mich erkennen, indem ich mich vergesse? Wie soll das gehen?“

„Beachte das Schwert, es wird es Dir sagen.“

„Ich denke, ich soll gerade nicht an das Schwert denken, wenn ich kämpfe.“

„Das ist wahr“, pflichtete der alte Mönch lächelnd bei, „und trotzdem musst Du wahrnehmen, was Du mit ihm machst, wie es sich Deinem Körper anpasst, oder auch nicht. Darüber wie Du kämpfst, wie Du die Waffen nutzt, welchen Erfolg Du mit den Waffen hast … darüber musst Du unbedingt Dich selber erkennen. Nur über diese Erkenntnis kannst Du Dich Stück für Stück weiter entwickeln.
Nutzt Du unsere Schwertstunden aber nur, um Deinen Körper zu ertüchtigen, wirst Du im ersten ernsthaften Kampf unweigerlich sterben. Denn Körperkraft und Technik alleine nützen Dir nicht viel.
Und ein Denken in der Art, wie kann ich den Gegner besiegen, lenkt Deine Aufmerksamkeit wieder von Deinem eigenen Körper weg zu einem anderen. Aber Du sollst nicht den Anderen erkennen, Du musst Dich erkennen. Du musst Deine Stärken und Deine Schwächen erkennen.“

„Was sind Stärken und was sind Schwächen?“, wollte Li näher wissen.

„Unachtsamkeit ist die größte Schwäche. Eine einzige Sekunde Unachtsamkeit kann im Kampf den Tod bedeuten. Denkst Du zu viel über das Besiegen Deines Gegners nach, ist Dein Geist mit Gedanken beschäftigt und unachtsam. Das wäre die Tür für Deinen Tod.
Aufmerksamkeit und Achtsamkeit sind somit die großen Stärken, die es zu entwickeln gilt. Sie entstehen, wenn wir aufhören zu denken und einfach nur wahrnehmen. In diesem Zustand können wir schnell und intuitiv reagieren.“

„Das habe ich selber schon oft gemerkt. Wenn ich vom Kopf her ganz ruhig bin, sehe ich sehr schnell, was der Gegner vorhat. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, der Gegner bewegt sich wie in Zeitlupe. Also anders gesagt, ich habe das Gefühl, dass ich sehr viel Zeit habe, bis ich mein Schwert bewegen muss.“

„Ja! Sehr gut!“, rief der alte Mönch erfreut aus, „das ist der Zustand, wenn Du Dich selber vergessen hast. In diesem Zustand hast Du völlig aufgehört zu denken. In diesem Zustand denkst Du auch nicht mehr an einen Gegner. Und wenn Du nicht an einen Gegner denkst, denkst Du nicht an Dich selber. Du hast Dein Ego gänzlich aufgegeben und bist eins geworden mit allen Dingen. Dann kann Dein ganzes Ich vollkommen intuitiv handeln. Erst wenn Du Dein Ego vergisst, wird Dein Ich ganzheitlich. Das meint man damit, sein Ich zu erkennen, indem man sich selber vergisst.“

„Ich glaube nicht, dass ich das eben alles verstanden habe.“

„Das ist nicht so wichtig, meine liebe Li. Wichtig ist, den Weg des Schwertes unablässig weiter zu gehen und zu üben. Vielleicht kommt irgendwann die Erkenntnis ganz von alleine.“

„Und wenn nicht, Meister“, fragte Li sichtlich verängstigt, „was ist dann?“

„Wenn es nicht passiert, ist es nicht weiter schlimm. Gehst Du den Weg mit der Absicht, das Ziel der Erkenntnis zu erreichen, so hast Du den Sinn des Weges nicht verstanden. Der Weg ist absichtslos. Der Weg hat kein Ziel. Der Weg ist einfach nur der Weg. Wenn Du das akzeptierst, wirst Du am ehesten die Erkenntnis erreichen.“

„Aber üben wir nicht auch, um uns im Notfall verteidigen zu können? Müssen wir dann nicht üben, den anderen zu töten? Wie sonst können wir uns verteidigen?“

„Das Töten sollte nie unser Ziel sein. Der Weg des Schwertes lehnt die Gewalt ab. Wenn schon, so sollte unser Ziel sein, nicht getötet zu werden und den anderen nicht zu töten. Wir dürfen im Kampf nicht in ein Konkurrenzdenken verfallen, wo wir uns durch das Töten des Gegners unsere eigene Größe beweisen wollen. Wahrlich groß sind wir, wenn wir das Schwert anhalten.“

„Das Schwert anhalten?“

„Ja Li, ein Schwert, das angehalten worden ist, bewegt sich nicht mehr. Ein Schwert, das sich nicht bewegt, will niemanden verletzen. Unser Schwert anhalten meint somit nur, nicht mehr kämpfen zu wollen.“

Lian und Xue drehten ihre Köpfe zueinander. Noch lag der Schatten der Zwietracht über ihnen. Aber am Eingang sammelte sich eine Wolke aus Rosen- und Jasminblüten.

Li nahm den Wink des Meisters auf. Leicht mahnend blickte sie auf ihre Freundinnen: „Sie meinen, wenn wir uns unserer eigenen Stärke bewusst sind, müssen wir nicht mehr kämpfen? Wenn wir uns unserem eigenen Wert bewusst sind, müssen wir nicht mehr neiden?“

Giftig grün funkelten Xues ansonsten braune Augen. Missmut kroch aus jeder Pore Lians. Die Luft erfüllte sich mit einem ranzigen Geruch. Li irritierte das nicht: „Dann können wir anfangen, friedlich miteinander zu leben.“

„Und den Wettstreit unter den Menschen überspringen. So leicht, wie ein Vogel das große Gebirge überfliegt. Wer der Bessere ist, hat keine Bedeutung mehr.“

„Das Ego aufgeben heißt, dieses Spiel der permanenten Wettstreiterei nicht mehr mitzugehen. Im Kampf nicht und im gesamten Leben nicht.“ Jetzt blickte Li ihre beiden Freundinnen offen an. Hoffte, Verständnis zu finden.

„Und wir benutzen den Weg des Schwertes in erster Linie, um eigene Stärke und eigene Zufriedenheit zu gewinnen. Nicht, um den Frieden anderer zu zerstören.“ Versöhnlich zwinkerte Lian ihrer großen und wunderhübschen Freundin Li zu. Gleichzeitig krabbelte ihre Hand wie eine Vogelspinne seitwärts über die Matte. Xue schreckte dies nicht. Behutsam legte sie ihre Hand auf die Spinne. Genoss die Wärme, spürte die Feuchte und fühlte den Felsen in ihrem Inneren zerbröseln. Umweht von einem Duft aus Rosen und Jasmin schämte sie sich und war gleichzeitig beglückt, sich mit Lian vertragen zu haben. Was hatte sie gestern nur geritten, die reife Lian so schamlos herauszufordern?

„Richtig, mein Kind“, setze der weise Mann Lis Gedanken fort, „wir zerschneiden einen imaginären Gegner nach dem Anderen, um unsere eigene Zerschnittenheit zu kitten. So lernen wir Achtsamkeit, die Meinungen anderer zu akzeptieren und zu wissen, dass eine andere Meinung nie unsere eigene Person angreifen kann. Deswegen müsste es eigentlich viel einfacher sein, eine andere Meinung zu akzeptieren als ein feindliches Schwert, das hassbringend auf einen zugesaust kommt.“

„Bei mir ist es noch umgekehrt. Ich kann eher ein feindliches Schwert akzeptieren, als eine andere Meinung.“

„Dann hast Du noch viel zu lernen, liebe Li. Doch lass uns nun zum Abendessen gehen. Es ist schon recht spät geworden.“


Ken = japanische Wort für Schwert
 
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Kommentare  

Hallo Christian,

vielen Dank für Dein Feedback zu dieser Geschichte sowie zur Fabel der zwei Flüsse. Dein Lob hat dazu beigetragen, dass ich in meinem nächsten Romanprojekt einige Fabeln mit aufnehmen werde.

Zu den fernöstlichen Gedankengängen gibt es einen sehr schönen Bildband von dem Zen-Mönch Thich Nhat Hanh. Titel: Sei liebevoll umarmt". Jedes der 52 wunderschönen Bilder ist mit einem kurzen Text versehen, der sehr zum Nachdenken anregt.

Ich wünsche Dir einen schönen Abend
Frank-Bao


Frank Bao Carter (05.05.2015)

Schöne Gedankengänge, die du da schilderst. Mir gefällt auch die fernöstlich angehauchte Ausdrucksweise und das bedächtige Erzählen.

Christian Dolle (11.03.2015)

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