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4 Seiten

Dein Garten

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Frühling/Ostern
Eine Fantasiereise

Du gehst einen Weg. Es ist ein Weg mit Verzweigungen. Er ist umsäumt von Hecken und von Wänden. Mal breiter und mal schmaler. Es ist ein Weg, der sich mehr und mehr verzweigt. Dir fällt auf, dass du dich in einem Labyrinth befindest. Es gibt überall Wege, Wände, Verzweigungen, Sackgassen. Die Höhe und die Beschaffenheit dieser Wände ändern sich auf deinem Weg, und immer wieder kannst du hinter ihnen Menschen erkennen, die ebenfalls in diesem Labyrinth umherirren. Du willst ihnen etwas zurufen, doch diese Wände schlucken viel Schall. Und auch die Menschen hinter den Wänden rufen manchmal laut, doch du kannst sie schlecht verstehen. Auf einmal hast du den Eindruck, dass gerade lautes Rufen die Wände höher wachsen lässt und sie noch mehr Schall verschlucken lässt. Du sehnst dich nach Überblick – danach, dass dieser Weg wieder einfacher und überschaubarer wird.

Du wandelst weiter, leicht ermüdet vom Umherirren, Rufen und Gerufenwerden. Du beginnst, an der Undurchdringlichkeit der Wände zu zweifeln. Du bleibst immer wieder stehen, um mit deiner Stirne und deinen Knöcheln leicht gegen eine Wand zu klopfen. Die Wände geben nicht nach. Du gehst weiter und bist wieder etwas müder geworden. Du zweifelst, bleibst stehen und klopfst mit Fingerknöcheln und auch mit deiner Stirn gegen die Wand. Vielleicht sogar etwas kräftiger als vorhin, so dass du einen leichten Schmerz fühlst. Du wendest dich ab und gehst weiter. Bist wieder müder geworden.

Ein drittes Mal hältst du inne. Erneut bist du in eine Sackgasse gelaufen. Du kannst es kaum glauben. Klopfst erneut, aber auch diese Wand gibt weder deinen Knöcheln noch deiner Stirne nach. Du wunderst dich über die Undurchdringlichkeit und Wirrnis dieses Labyrinths. Wieder bist du müder geworden. Und wieder wendest du dich langsam ab und gehst weiter. Wirst immer müder und gehst weiter. Auch an weiteren Stellen geben die Wände deiner Stirne und deinen Knöcheln nicht nach. In deiner Müdigkeit keimt ein Gedanke auf.

Bisher hast du immer versucht, aus dieser Wirrnis hinauszugelangen und anderen durch dein Rufen hinauszuhelfen. Was aber, wenn der Schlüssel zur Entwirrung in der Mitte des Labyrinths liegt? Wenn in der Mitte dieser Anlage aus Wirrungen sich zeigt, wie alle Wege auf magische Weise miteinander verbunden sind?

Du änderst deine Richtung. Den Weg zur Mitte zu finden ist leichter. Du hörst auf, dich durch Rufen und Klopfen anderer Irrender beeinflussen zu lassen. Der Ausgang aus diesem Labyrinth liegt irgendwo, und deshalb hattest du bisher keine Richtung. Auch wenn du noch kein Ziel hast, eine Richtung hast du jetzt. Du wirst müder. Die Wände werden niedriger und überschaubarer, je weiter du dich der Mitte näherst. Es wird stiller.

In der Mitte ist eine große runde Fläche aus Erde. Sie ist umgeben von Bänken. Auf eine dieser Bänke legst du deine Brille ab. Da du weich liegen möchtest, gehst du auf die Erdfläche. In der Mitte dieser Fläche legst du dich auf den Boden. Guter weicher Mutterboden, angenehm warm. Deine Füße und Beine sind schwer und warm vom langen Weg hierher. Auch deine Hände sind schwer und warm. Der erdige,schwere und etwas würzige Duft des Bodens hüllt dich ein. Deine Hände umfassen Erde, weich und bröselig und angenehm kühl. Du lässt etwas von dieser Erde auf deine Stirn fallen. Du spürst mit deiner Stirn die angenehme Kühle dieser Erde und ihren Duft. Du atmest ruhig und dein Puls ist gleichmäßig. Ruhig atmend und gleichmäßig pulsierend fühlst du dich mit der Erde verbunden. Den Duft eines Versprechens, dessen Erfüllung viel Zeit braucht. Den Duft nach aller Zeit, die die Erfüllung benötigt. Du vertraust dieser Erde. Sie löst und befreit dich. Du beginnst, dich Eins zu fühlen. Eins mit dieser Zeit, diesem Versprechen und dieser Erde. Du versinkst tief in dieses Gefühl der Einheit. Dein Vertrauen in diese Erde geht so tief, dass du träumst, zu Erde zu werden. Zu guter fruchtbarer Erde. Gelöst und befreit.

Ein Gärtner taucht auf. Zu Erde geworden, erkennst du diesen Gärtner. Du spürst, dass dieser Gärtner auch dich kennt. Ja, dieser Gärtner ist das Wesen, das dich versteht, mit dir verbunden ist und weiss, was zu tun ist. Der Gärtner und du, die Erde – ihr seid verbunden, seid eins miteinander. Der Gärtner betritt die Erde und löst einige kleine Pflanzen aus ihr heraus. Behutsam klopft er sie ab und setzt sie an anderer Stelle wieder ein, wo sie harmonisches Wachstum nicht mehr behindern können.

Du bist die Erde, und du bist auch der Gärtner, der diese Erde an einigen Stellen behutsam umgräbt.
Er legt Samen in sie hinein. An anderen Stellen lassen Vögel und Insekten Samen fallen.
Die Erde spürt, wie diese Samen allmählich Wurzeln schlagen. Wurzeln, die sie durchziehen und neue, lebendige, harmonische Strukturen entstehen lassen. Wachstum bekommt guten Halt. Und das, was dort auf diesem so weise bewirteten Boden wächst, ist ein kleines Wunder und bald eine wahre Pracht.
Vögel fliegen über dir. Ihre fröhliche süße Musik ist Loblied, eine Hymne an das Leben. Sie und die summenden Bienen und Käfer helfen dem Gärtner, einen Garten entstehen zu lassen. Ein Teil dieses Gartens liefert Nahrung. Ein anderer Teil ist einfach nur schön, auf natürliche Weise entstanden. Es gibt Gemüsebeete, Zierpflanzen, Wildwuchs und sogar ein paar Bäume. Es gibt auch einen Komposthaufen. Überfließende Fruchtbarkeit und Schönheit, jedoch keine Verschwendung. Alles hat seinen Platz. Alles ergänzt einander. Alles harmoniert miteinander im Fluss. Freie Entfaltung, Harmonie und Gleichgewicht im Fluss des Werdens. Eine Weile genießt du das Sein und das Werden in diesem Garten. Alles entsteht wie von selber und wird gut. Alles fügt sich in diese lebendige Harmonie des wunderschönen Gartens mit der süßen Musik der Vögel und dem Summen der Bienen und Hummeln, dem Flattern der Schmetterlinge ein und trägt zur Schönheit und zum Genuss bei.

Ein Glockenklang weckt dich. Eine Weile hast du geträumt, Garten und Gärtner zu sein. Nun wirst du wach und wunderst dich über seine Schönheit. Du stehst auf und beginnst, zur Musik der Vögel zu tanzen. Wiegst dich in der leichten Brise und atmest die Schönheit und den Duft der Gewächse in ihrer harmonischen Schönheit, in der auch Wildheit ihren Platz hat. Eine Weile tanzt du so, dann bewegst du dich wieder zum Rand des Gartens auf die Bänke zu. Da schau, auf einer der Bänke hattest du gestern deine Brille abgelegt. Gestern hattest du ermattet und in der Dunkelheit angenommen, dass du dich auf kahle Erde legst. Du steckst die Brille in deine Tasche und machst dich wieder auf den Weg. Heute weisst du, dass es ein Weg ist und kein Labyrinth.
Es gibt immer noch Wände. Du begegnest erneut anderen Menschen. Einige teilen dieses Wissen um den Garten und gehen oder tanzen mit dir.
Doch du begegnest auch noch vielen Menschen mit Brillen. Rufenden und irrenden Menschen. Du erkennst, dass sie selber den Weg zu ihrem Garten finden müssen. Du besinnst dich auf den Garten und seine Schönheit – jedes mal wenn du solchen Menschen begegnest. Du kannst sogar etwas von ihrem Rufen und ihren Bewegungen aufnehmen, ohne dich in ihnen zu verlieren. Wenn sie sich dann etwas besser angenommen und verstanden fühlen, fällt es dir leicht, dein Wissen um den Garten mit ihnen zu teilen. Dabei ist jeder deiner Bewegungen und Worte wie eine Blume aus diesem wunderbaren Garten.

Ab und an verlierst du dich dennoch ansatzweise in solchen Begegnungen. Dann holst du die Brille aus deiner Tasche und schaust sie an. Du setzt sie auf und nimmst sie wieder ab. Dir wird klar, dass dies die Brille deiner bisherigen Überzeugungen ist. Sie hatte den Kontakt zu den Wesen verhindert, denen du bisher begegnet bist, denen du zugerufen hattest und mit denen du die Wände aufgebaut hattest.
Mit jedem Schritt, mit jeder Begegnung wirst du wacher. Dein Weg führt in die Wirklichkeit. Nun weißt du, es ist ein Weg kleiner Schritte, ein Weg der Beharrlichkeit. Aber im Garten hast du erkannt, dass es ein Weg des Wachstums ist. Ein Weg, der dich die richtigen Dinge zur rechten Zeit sagen lässt, so dass jedes deiner Worte wie eine Blume oder Nahrung aus diesem Garten ist und jeder deiner Taten Teil dieses Tanzes. Du hörst zu und siehst hin, wenn du redest. Nun weisst du, dass es vielleicht für jeden einen Garten gibt.
 
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Kommentare  

Danke für die lieben Kommentare. Diese Fantasiereise kann ihre Wirkung am besten entfalten, wenn sie vorgelesen wird und wenn die Zuhörer es sich auf einem Stuhl oder besser noch auf einer Matte bequem gemacht haben - im Sitzen oder im Liegen.

Crazy Diamond (24.02.2012)

Da schließe ich mich an. Eine gute Idee überzeugend auf fantastische Weise umgesetzt.

Gerald W. (19.04.2011)

Das macht nachdenklich und lässt einen träumen.

Dieter Halle (18.04.2011)

Ich stimme meinen Vorrednern zu. Schöne Sätze, guter Text, tolle Metaphern.

Else08 (18.04.2011)

Wirklich gut geschrieben. Man versteht, was du meinst und deine Worte klingen ganz ausgezeichnet.

Jochen (17.04.2011)

Hallo Crazy Diamond, ich habe mir erlaubt deinen Text in die entsprechenden Rubriken einzusortieren.

Tlonk (17.04.2011)

Das ist dir aber ganz toll gelungen. Ich finde jedoch nicht, dass es "nur" etwas Fantastisches ist und es ist auch nichts Poetisches, wohin du es einsortiert hast. Es ist eher eine Parabel, eine philosophische Betrachtung.

doska (17.04.2011)

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