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10 Seiten

DER HIMMEL UEBER ROM, Teil 20 - FLIEGEN

Romane/Serien · Spannendes
Mit dem Dolch in der Hand stand sie vor der halboffenen Tür. Ihr Körper war bis aufs Äußerste gespannt, und sie versuchte, ihren Herzschlag zu kontrollieren, aber es gelang ihr nicht. Ihr Herz pochte so laut und so schnell, dass sie es hören konnte. Konnten die Einbrecher es auch hören?
Sie rechnete mit dem Schlimmsten, denn es gab noch ärmere Leute als sie in der Subura. Die stahlen, raubten und mordeten für ein paar Münzen, für ein Stück Papyrus...
„Vanadis, bist du das?“
Sie atmete tief aus, die Stimme, sie kam ihr allzu bekannt vor. Nein, das konnte nicht sein, aber es war so: Die Colonia hatte sie schließlich doch noch gefunden.
Zögernd trat sie in ihre Wohnung ein, und tatsächlich, da stand sie, die Kleine. Doch sie sah nicht aus wie vor über einem Jahr, ihr Gesicht wirkte betrübt, ihre Haltung schien verzweifelt zu sein, und Vanadis überkam ein ganz dummes Gefühl. Irgendetwas war da nicht in Ordnung, und sie wollte wissen, was es war. Hatte sie deswegen früher zurückkommen wollen? War es eine Ahnung? Etwas Schlimmes musste geschehen sein.
Trotzdem machte sie sich steif, denn gerade war ihr der kleine Marcus in den Sinn gekommen. Sie hatte ihn auf dem Flur gelassen. Sie eilte hinaus und griff sich den Kleinen. Eigentlich sollte die Colonia ihren Sohn nicht sehen, denn sie würde bestimmt Fragen stellen. Aber es ging nicht anders, und nun hieß es aufpassen, die Colonia war ein kluges Mädchen...
„Vanadis, das ist ja ein süßer kleiner Kerl! Es ist doch ein Junge, oder?“
Oh je, was sollte sie nun sagen? „Er… er ist das Kind meiner… Nachbarin, ja genau, meiner Nachbarin…“, stammelte sie schließlich.
Sie spürte, dass die Colonia sie aufmerksam anschaute. Ach verdammt, dieses Mädchen war so gescheit, man konnte es kaum täuschen.
Zu Vanadis’ Erleichterung hielt sich die Kleine nicht an dem Thema auf. Doch ihre Erleichterung dauerte nicht lange...
„Vanadis, bitte, du musst ihm helfen! Er hat eine furchtbare Wunde am Bein, und die Militärärzte sagen, dass sie sich entzündet hat. Er wird sterben, Vanadis, er wird sterben!“ Mit Tränen in den Augen sah die Colonia sie an.
Vanadis stutzte. Meinte sie etwa den Marcus? Wie ein Schock durchfuhr es sie, nein, das konnte nicht sein, der war doch ein Feldherr, ein Römer, unverwundbar, immer siegreich…
„Wen meinst du?“, fragte sie schließlich leise, obwohl sie die Antwort schon kannte.
„Vater natürlich! Bitte Vanadis, ich weiß, du hast Kenntnisse, die wir hier nicht haben! Du musst mitkommen, du musst ihn retten. Ohne dich wird er sterben!“
Vanadis wusste nicht, was sie sagen sollte. Natürlich wollte sie nicht, dass der Vater der Kleinen starb, aber wenn die Ärzte ihn schon aufgegeben hatten… Krampfhaft überlegte sie. Hatte ihre Mutter vielleicht eine Möglichkeit gehabt? Sie schloss ihre Augen und durchlebte ihre Vergangenheit. Nach einer für sie unendlichen Zeit fand sie etwas: Fliegen… Wieso Fliegen, Mutter?
Du musst ihre Eier nehmen und sie in die Wunde legen. Mit etwas Glück fressen sie alle verdorbenen Teile auf. Und damit sie nicht selber verdorbene Teile in die Wunde einbringen, lege sie vorher auf in Essigwasser getränkte Tücher. Sie müssen aber von bestimmten Fliegen stammen, von gold-grünen…
Von gold-grünen Fliegen… Das war einfach absurd. Es konnte nicht funktionieren… Oder doch? Hatte sie in ihrer Kindheit vielleicht so etwas miterlebt? Vanadis schüttelte den Kopf, wenn ja, dann hatte sie die Erinnerung daran verloren.
Die Colonia nahm sie bei den Armen und schüttelte sie: „Du weißt doch etwas, das sehe ich dir an! Bitte sage es mir!“
„Ach Kleine, es ist absurd! Aber wenn es nichts anderes gibt, dann müssen wir es wohl versuchen.“
Vanadis packte hastig ein paar Sachen zusammen, ein Messer, getrocknete Kräuter, die sie für wichtig hielt, vor allem dieses unscheinbare Blümlein, einen Schlauch mit Essig, goss reichlich Essig über ein Tuch und packte alles in einen Beutel. Jetzt fehlten nur noch die Fliegeneier. Hoffentlich fand sie welche. Und hoffentlich stammten sie von der richtigen Fliege…
„Ich muss noch schnell etwas erledigen“, sagte sie zur Colonia, die ihr gespannt zugeschaut hatte. „Nein, bleibe nicht hier, gehe schon mal nach unten. Ich komme sofort nach.“
Denn genauso wichtig wie der Marcus war auch ihr Sohn, sie klopfte an die Tür ihrer Nachbarin Gotilde – es war die, welche den Met machte – und vertraute ihn ihr an mit den Worten: „Ich muss weg, es ist dringend, bitte pass auf ihn auf!“ Die Nachbarin fragte nicht viel, sondern nahm das Kind lächelnd entgegen. Vanadis nickte ihr dankbar zu, die Gotilde war vertrauenswürdig, sie liebte den Kleinen und würde ihn gut versorgen. Dann hetzte sie die Treppe hinunter und überholte auf dem Weg die Colonia.
Unten auf der Straße fand sie die wichtigste Zutat, nämlich Fliegeneier, und sie hoffte, dass sie von der gold-grünen Fliege stammten, jedenfalls schwirrten ein paar davon über dem Unrat herum. Die Eier klebten auf einem verfaulten Stück Fleisch und hatten sich teilweise schon zu Maden entwickelt. Vanadis schabte sie mit dem Messer vorsichtig ab, beförderte sie auf das feuchte, mit Essigwasser getränkte Tuch und wickelte sie darin ein. Seltsam, das alles zu tun! Wenn das mal gut ging…
„Wo ist… er?“, fragte sie die Colonia, die neben ihr aufgetaucht war. Die Kleine hatte etwas länger gebraucht, um die endlose Treppe herunter zu hinken.
„In der Garnison vor den Toren Roms“, sagte diese, „eine Sänfte wird uns dorthin tragen.“
Die Sänfte wartete ein Stück weiter. Und nicht nur die beiden stummen Brüdern, sondern auch vier andere Sklaven standen neben ihr. Sie sahen kräftig aus und mussten neu im Hause Colonius sein. Vanadis überlegte kurz, ob sie zu Fuß laufen sollte, dann würde es vielleicht schneller gehen, aber sie entschied dagegen, denn die Colonia war ein Leichtgewicht und sie selber auch. Vanadis nickte allen zu, den beiden Brüdern etwas länger, keine Begrüßungsfloskeln, die Zeit war knapp. „Colonia, meine Kleine, wie hast du mich gefunden?“, fragte Vanadis, als sie beide ihrem Ziel entgegenschaukelten. Sie hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen und sei es auch noch so blödsinnig.
Die Colonia entgegnete nichts darauf, sie war wohl in Gedanken versunken. Hoffentlich dachte sie nicht drüber nach, wer der Vater dieses süßen kleinen Kerls war… Ach was, im Augenblick war ihr eigener Mist unwichtig, es galt nun einzig und allein, den Marcus zu retten.
„Ich habe dich gesucht, zuerst im Haus des kaiserlichen Bettenbauers“, sagte die Colonia leise. „Da warst du nicht, du wolltest wohl nicht, dass ich dich finde, aber ich habe dich trotzdem gefunden. Und dich in Ruhe gelassen. Bis jetzt.“
„Ach Colonia, es tut mir leid, aber es ging nicht anders...“
Es herrschte nicht viel Verkehr auf den Gassen und Straßen, die Ochsengespanne mit all ihren Waren würden erst bei Einbruch der Dunkelheit in die Stadt kommen und mit ihrem Lärm die Nachtruhe Roms stören. Es gab keinen Stau, und niemand hielt sie in der Sänfte auf, schließlich wurde diese von sechs starken Männern getragen.
Sie erreichten den Tiber, die Sonne stand schon tief am Horizont, und ihr Licht spiegelte sich rot im Fluss. War das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
Vanadis wurde auf einmal bewusst, worauf sie sich eingelassen hatte. War sie verrückt geworden? Sie hatte ihren Sohn bei der Nachbarin untergebracht, um Marcus zu retten? Verrückt, total verrückt! Und vor allem anderen handelte es sich bei ihr um eine entlaufene Sklavin. Aber sie war es der Colonia schuldig, denn Marcus war deren Vater…
Er ist aber auch der Vater deines Sohnes, sagte eine lästige Stimme in ihr. Sei ruhig, sie versuchte die Stimme zum Schweigen zu bringen, das geht niemand was an! Oh doch, sagte die Stimme, vielleicht den Vater deines Kindes? Halt den Mund, er ist Römer! Die Stimme verstummte. Und das war gut so, jetzt gab es Wichtigeres zu tun, als sich mit der Abstammung ihres Sohnes zu befassen.
„Colonia“, sagte sie eindringlich. „Ich weiß nicht, ob ich deinen Vater heilen kann, ich bin kein Arzt. Aber versprich mir, dass falls er es überlebt, du ihm nicht sagen wirst, dass ich bei ihm war! Du musst mir das versprechen!“
Nach einer kurzen Pause erwiderte die Colonia gequält: „Ja! Ja, Vanadis, ich verspreche es. Ich verspreche dir alles, was du willst.“
In diesem Augenblick verließen sie durch ein Tor die Stadt Rom. Draußen begann es zu dämmern, zusätzlich waren Wolken aufgezogen, schweigend saßen Vanadis und Colonia nebeneinander, bis sie schließlich die Garnison erreichten. Dort lagerten alle Truppen, die aus den Randbereichen des Imperiums zurück nach Rom kamen. Endlose Baracken und Lagerhäuser erstreckten sich vor ihnen, alles sah gleich aus, und Vanadis hatte Angst, dass die Colonia den Weg nicht wusste. Aber sie war wohl schon oft dagewesen, denn die Wachen kannten sie. „Geradeaus, Colonia, dann die nächste rechts, da ist die Krankenabteilung!“, rief ihnen ein Centurio zu.
Die Krankenabteilung erwies sich als ein verschmutzter Ort und das, obwohl er den höheren Offizieren vorbehalten war. Wenn DAS für die höheren Offiziere war, wie würden dann die niederen Mannschaftsgrade untergebracht sein?
In dem Raum befanden sich fünf Betten, von denen drei belegt waren. Die Colonia ging sofort in Richtung Fenster, da stand dann wohl das Bett des Marcus. Vanadis folgte ihr zögernd. Sie hatte Angst, und sie hoffte, er wäre nicht bei Bewusstsein. Denn wenn er wach wäre, dann würde er sie erkennen, und dann wäre es mit ihrer Freiheit vorbei. Noch mehr Angst hatte sie davor, dass er ihr ins Gesicht sehen würde. Aber wieso? Nein, sie wollte es nicht, egal warum.
Zögernd trat sie an das Feldbett heran und blickte auf ihn hinunter. Sein Gesicht sah blass und eingefallen aus, und sie hätte ihm am liebsten tröstend über die Stirn gestrichen. Absurdes Verlangen, sie schüttelte den Kopf. Er schlief nicht, er lag im Fieber, denn er murmelte unverständliche Worte vor sich hin, gerade in diesem Augenblick verkrampfte sich sein Körper und fing heftig an zu zittern. Nein, er war allem Anschein nach nicht bei vollem Bewusstsein.
Sie fühlte sich einerseits erleichtert, andererseits gefiel ihr das gar nicht, es verschaffte ihr Angst. Wenn es soweit gekommen war, dann hatte er bestimmt eine üble Entzündung. Eine, die schlecht oder gar nicht zu heilen war.
Ihr Blick riss sich von seinem Gesicht los und schweifte zu seinem Bein. Am rechten Oberschenkel klaffte eine große Wunde, sie sah aus, als hätten die Ärzte schon daran herumgeschnitten, die Wunde machte einen schlimmen Eindruck, ihr Rand verlief unregelmäßig und hatte sich schwärzlich verfärbt, außerdem roch es nach Verwesung. Und die Wunde selber, sie war tief. Sehr tief…
Wundbrand… Ganz sicher. Vanadis wusste nicht, woher sie diesen Ausdruck kannte, vielleicht hatte sie ihn damals von ihrer Mutter gehört, als die einen Kranken untersuchte. Aber sie wusste, dass es ein schlechtes Zeichen war.
„Das ist nicht gut“, sagte sie leise zu der Colonia.
„Das weiß ich!“, die Colonia sah aus, als würde sie die Tränen nur mühsam zurückhalten können. „Aber wir müssen es versuchen! DU musst es versuchen!“
Vanadis atmete tief durch. Gut, sie würde es tun. „Ich brauche heißes Wasser, um die Kräuter aufzubrühen!“
Das war nur der erste Schritt, die Kräuter alleine würden ihn nicht heilen, er brauchte die Fliegenmaden. Vanadis hörte nur noch nebenbei, wie die Colonia nach heißem Wasser verlangte und nach kleinen Gefäßen. Die Kleine dachte mit…
Dann fiel ihr noch etwas ein: „Am besten besorge zwei oder besser noch drei Männer, die ihn festhalten, er darf sich nicht bewegen, wenn es geschieht.“
Sie packte ihren Beutel aus und breitete den Inhalt auf einem Tisch vor dem Fenster aus. Da waren die getrockneten Blüten des Bellis perennis, daraus würde sie einen Aufguss machen, der dem Markus einflößt werden sollte, aber wichtiger war dieser als äußerliches Heilmittel. Er war schmerzlindernd, vertrieb außerdem die bösen Geister, die sich in der Wunde eingenistet hatten, und er musste von nun an immer auf dem Wundumschlag sein, damit dieser nicht austrocknete – und mit ihm die Maden. Mutter, so ist es doch, ich weiß es nicht genau…
Ihre Mutter schwieg, und Vanadis hoffte, dass sie das Richtige tat. Ihre Mutter hätte bestimmt ein anderes Kraut benutzt, doch das gab es hier nicht.
Noch war es am Fenster hell genug, doch das würde es nicht mehr lange sein. „Es wird gleich dunkel, Öllampen brauchen wir, ganz viele!“, rief sie der Colonia zu.
Dann besah sie sich die frischen Maden. Sie wuselten hungrig auf dem mit Essigwasser getränkten Tuch herum, sie hatten – den Göttern sei Dank – die Fahrt überlebt. Hoffentlich waren sie sauber genug, um in der Wunde nicht noch mehr Schaden anzurichten. Aber Essig reinigte, das wusste jeder, und es war egal, ob man ihn nun innerlich oder äußerlich anwendete.
Die Colonia hatte den Aufguss gemacht, sie hatte ihn sogar vor die Fensterluke gestellt, damit er abkühlte. Und drei Soldaten standen parat, um den Marcus bei Bedarf festzuhalten. Vanadis fing nun selber an zu zittern, sie verspürte Angst. Was wäre, wenn alles nichts brachte, wenn alles umsonst war. Er durfte doch nicht sterben! Einfach fort sein! Nein, das konnte sie nicht dulden!
„Tücher mit Aufguss tränken!“
Die Colonia reichte sie ihr, und Vanadis betupfte damit großflächig die Wunde. Dann riss sie sich zusammen, es ging los, und sie hoffte, dass es gut ging…
Sie träufelte Essig über ihre Hände, säuberte das Messer am Rand des mit Essig getränkten Tuches und wandte sich zögernd dem Marcus zu.
Dieser fing an zu stöhnen, und erschreckt darüber hielt Vanadis inne. „Sidonia…“, hörte sie ihn stammeln.
Nicht die, was hatte er nur mit der, Vanadis schüttelte den Kopf.
„Ich wollte das nicht, nicht so… Es war… ein Fehler…“. stammelte er und versuchte sich aufzubäumen, aber die drei Soldaten zwangen ihn auf sein Lager nieder.
Vanadis war wie erstarrt, was sollte sie tun? Meinte er das, was sie selber meinte? Diese Nacht voller Ekstase? Natürlich, das war ein Fehler gewesen, ein riesiger Fehler gewesen, unverzeihbar. Was bedeutete das für sie? Nichts anderes, als dass sie in Gefahr war und ihr Sohn damit auch.
Seine Augen starrten sie an. Vanadis wollte sich von ihm zurückziehen, aber dann merkte sie, dass er durch sie hindurchblickte und sie gar nicht wahrnahm. „Bitte komm zurück, bitte, ich brauche dich doch, liebe dich doch…“, flüsterte er heiser.
Ja. Schön! Genau das will man von dem Vater seines Kindes hören: Dass er seine tote Frau über alles liebt, dass er sie braucht und dass sie zurückkommen soll aus… verdammt noch mal Plutos Arsch! Denn da ist sie, nur da kann sie sein! Und da gehörst du selber auch hin, du abartiger Römer!
„Haltet ihn fest!“, befahl sie den Soldaten. Markus hatte seine Augen wieder geschlossen und war auf sein Feldbett zurückgesunken, wo er sich unruhig hin und her wälzte und heftig atmete. Er sah so hilflos aus, so verwundbar. Ich bin eben ein netter Mensch, dachte Vanadis, und ich werde ihn retten! Dann kann er für immer und ewig seiner Frau nachweinen. Es juckt mich nicht das Geringste!
„Wo sind die Öllampen?“, fragte sie gereizt. „Ich muss die Maden sehen, sie nur zu fühlen reicht nicht!“
„Da kommen sie gerade“, sagte die Colonia.
Tatsächlich wurde es merklich heller, um sie herum strahlten an die zehn Lampen – alle wurden gehalten von Soldaten – und diese leuchteten die Wunde von allen Seiten aus. So konnte man arbeiten!
„Ruhig, ganz ruhig“, hörte sie sich sagen. „Es wird alles gut werden…“ Und als ob Marcus sie gehört hätte, entspannte sich sein Körper, und auch sein Atem wurde flacher.
Vorsichtig platzierte sie die Maden mit der Rückseite des Messers in die Wunde, sie war wirklich tief, die Wunde, sie reichte schon bis zum Knochen, denn sie sah einen weißlichen Schimmer im Licht der vielen Öllampen. Oh nein, es konnte gar nicht anders als schief gehen, Vanadis biss sich verzweifelt auf die Lippen.
Doch sie machte weiter, eine innere Stimme geleitete sie: Du hast es doch bei mir gesehen, meine geliebte Tochter. Es ist lange her, doch manchmal muss man sich an so etwas erinnern, es ist Bestimmung. Nimm deine Hände zu Hilfe. Ja, so ist es gut, tief hinein, sonst bringt es nichts. Es sind die richtigen Maden von der richtigen Fliege. Aber nun muss alles mit einem Verband umschlossen werden, und dieser muss feucht sein und feucht bleiben. Die Maden dürfen nicht austrocknen. Und ja, er wird überleben, du musst nur fest daran glauben. Er bedeutet dir viel, nicht wahr?
Nein! Vanadis ächzte vor sich hin, während sie die letzten Maden in die Wunde gab. Er bedeutet mir gar nichts, er ist doch ein Römer.
Dein Vater war auch ein Römer, er war ein guter Mensch, und ich habe ihn geliebt. Manchmal muss man sich selber besiegen, liebe Tochter… Vanadis konnte sich kaum noch an ihren Vater erinnern, Manchmal sah sie im Traum ein freundliches Gesicht, das sich über sie beugte. Ihr Vater vielleicht? Die Stimme ihrer Mutter verstummte, und Vanadis fühlte sich auf einmal sehr allein.
Sie wandte sich an die Colonia, die ihr im Licht der Lampen – mittlerweile war es draußen merklich dunkler geworden – zugesehen hatte. „Mehr kann ich nicht tun, meine Kleine. Jetzt bist du dran: Alle ein bis zwei Wochen sollten die Maden erneuert werden, diese müssen von gold-grünen Fliegen stammen, und sie müssen sauber sein, das geschieht am besten durch Tücher, die mit Essigwasser getränkt sind. Die Wunde selber muss immer feucht gehalten werden, damit die Maden darin nicht austrocknen, und die Leinenumschläge müssen unbedingt sauber sein.“ Sie rang nach Luft, sie konnte es hier nicht mehr aushalten, und woher hatte sie überhaupt all diese Kenntnisse? Hoffentlich spann sie sich nicht etwas zusammen, hoffentlich waren die Kenntnisse wahr und nicht eine Ausgeburt ihrer Hoffnungen.
Sie nahm sich zusammen und sagte mühsam: „Ich lasse dir alles von dem Kraut hier, falls es nicht reicht, schaue auf den Tiberwiesen nach, dort wächst es. Und jetzt können wir jetzt nur noch hoffen.“
Vanadis fühlte sich furchtbar müde, das alles war zuviel für sie gewesen. Diese seltsamen Gefühle, diese Angst… Ja, Angst sollte sie haben, aber nur um ihren Sohn!
Die Colonia schaute sie stumm an, und tiefe Dankbarkeit stand in ihren Augen. „Ach Vanadis, was hätte ich ohne dich tun sollen.“
„Nein!“, sagte Vanadis entschieden. „Danke mir nicht! Ich habe keine Ahnung, ob das überhaupt eine Wirkung hat, aber ich wünsche es mir so sehr, meine Kleine.“ Es stimmte, sie wusste nicht warum, aber sie wünschte es sich wirklich.
„Wir wünschen es zusammen, dann wirkt es mehr! Ich habe alles verstanden, meine liebe Vanadis“, die Kleine kam, um sie zu umarmen. „Ab nun werde ich für ihn sorgen, und es soll alles nach deinen Anweisungen geschehen.“
Vanadis nickte, sie wollte nur noch fort von hier.
„Willst du noch hier bleiben oder willst du nach Hause gebracht werden?“
„Ich muss nach Hause, er wartet bestimmt schon auf mich, mein…“, Vanadis biss sich auf die Lippen, fast hätte sie ihr Geheimnis verraten, sie stammelte vor sich hin: „Der Schemuel, der wartet auf mich, er hat einen Auftrag für mich, den meinte ich. Und ich gehe zu Fuß, ich brauche die Sänftenträger nicht.“
Sie riss sich von der Colonia los, wollte den Raum schon verlassen, doch dann fiel ihr etwas ein, und sie drehte sich um. „Du hast mir etwas versprochen, und ich hoffe, du denkst daran, meine Kleine? Ich bin nie hier gewesen!“
„Jaaaa, in Dianas Namen, jaa…“, sagte die Colonia, und Vanadis konnte sogar im Licht der Öllampen sehen, wie schwer ihr dieses Versprechen fiel.
Benommen trat Vanadis den Rückweg an. Was war da gerade passiert? Sie hatte Marcus gesehen, den Vater ihres Kindes, und sie hatte versucht ihm das Leben zu retten. Sie hatte ihn sogar berührt, hatte sein Gesicht gestreichelt. Was war nur in sie gefahren? Verrückt, verrückt! Und währenddessen hatte er von der Sidonia gesprochen. Dieser Mann, er war ihr unverständlich. Sie musste ihn vergessen, musste diese Nacht vergessen, er war verrückt, er war Römer!
Niemand hielt sie auf, als sie durch das südliche Tor ging. Sie verspürte auf einmal den unverständlichen Wunsch zurückzugehen, um an seinem Bett zu sitzen und ihn zu pflegen. Ihn anzusehen, ihn zu trösten, seine Hände zu halten. Sie merkte, dass ihr Gesicht heiß geworden war. Was dachte sie da nur? Sie schüttelte den Kopf: Das war nicht ihre Aufgabe, dafür gab es genug andere Leute.
Lärmende Ochsenkarren dröhnten an ihr vorbei in Richtung Innenstadt, zuerst duckte sie sich an den Rand der Straße, um nicht aufzufallen. Aber niemand achtete auf sie, bestimmt hielt man sie für eine Prostituierte, die von ihren Diensten erschöpft aus der Garnison nach Rom zurückkehrte.
Wirre widersprüchliche Gedanken tobten in ihr, während sie vor sich hin trottete: Lass ihn gesund werden, lass ihn mich nicht finden, ich hasse ihn, er soll nicht sterben, sein Sohn ist nicht sein Sohn, er ist nur mein Sohn, er soll ihn nicht finden, aber er soll auch nicht sterben, und Sklaven sollen nicht fliegen, denn dann stürzen sie ab.
 
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Kommentare  

ich befürchte, dass die jetzt verwendeten antibiotika - egal ob durch übermäßigen gebrauch oder durch masseneinsatz beim vieh - irgendwann wirkungslos sein werden. und dann muss man sich auf andere, alternative sachen besinnen. und die gold-gelbe ist doch schon mal ein anfang. ;-) danke doska für deinen kommentar!

Ingrid Alias I (02.04.2015)

Ein ganz tolles Kapitel und, ja, zwar ekelig, aber erstaunlich. Was die Menschen doch früher für Tricks kannten? Dabei hat doch gerade die Gold-grüne in unserer Zeit nicht gerade den besten Ruf. Aber man greift immer häufiger auch heutzutage auf uralte Heilmittel zurück und vielleicht wird sich der Ruf der Goldgrünen eines Tages dadurch ganz erheblich bessern. Besonders gut gefallen hat mir auch der Schlusssatz dieses Kapitels.

doska (29.03.2015)

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