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9 Seiten

DER HIMMEL UEBER ROM, Teil 22 - OHNE DICH

Romane/Serien · Spannendes
Vanadis stand früh am Morgen vor dem Laden des Schemuel. Schemuel war ihr Freund und ihr Geschäftspartner, seine Religion verstand sie zwar nicht, er betete nämlich nur einen einzigen Gott an – dieser hieß Jawe oder so ähnlich, und dieser Gott kam ihr sehr streng vor mit seinen seltsamen Essensregeln und sonstigen Vorschriften – aber der Schemuel war zweifelsohne ein guter Mensch. Er war seiner Frau treu, und er liebte sie und ihre gemeinsamen Kinder über alle Maßen. Außerdem hatte er sich als zuverlässiger Geschäftspartner erwiesen – und er verkaufte gutes Brot und leckeres Pflaumenmus. Pflaumenmus mochte sie sehr.
Vanadis fragte sich, was ihr Sohn demnächst so mögen würde, jetzt stillte sie ihn ja noch. Sie lächelte vor sich hin. Er war prächtig geraten, ihr Sohn, er sah gut genährt und gesund aus, und er hatte sehr viel Ähnlichkeit mit einem Römer. Das war einerseits gut, denn er konnte mit seinem Aussehen als römischer Bürger durchgehen, aber andererseits erinnerte sie das Erscheinungsbild ihres Sohnes immer an dessen Vater.
Marcus… Er war gesund geworden, das wusste sie, denn die Colonia hatte dem Schemuel eine Nachricht geschickt, auf der stand: „Er lebt, es geht ihm gut. Ich danke dir dafür, meine Vanadis.“ Sie hatte, als sie die Nachricht erhielt, erleichtert aufgeatmet, er lebte, es ging ihm gut. Vorbei war das unnütze Denken an ihn, er lebte, es ging ihm gut, er war ein Römer, also musste es ihm gut gehen. Warum sollte sie überhaupt an ihn denken?
Unwillig schüttelte sie den Kopf und inspizierte die Brotauslage des Ladens. „Ich nehme drei Stück von dem Volksbrot mit dem Schafskäse darauf und ein Stück von dem weißen, das mit den Kräutern und dem Olivenöl“, sie deutete mit dem Finger auf die entsprechenden Brote.
Sie hatte den kleinen Marcus kurz abgesetzt – es schien ihr ungefährlich zu sein, denn es hielten sich kaum Leute zu dieser Tageszeit hier auf, sie hörte ihn neben sich krähen, natürlich konnte er noch nicht sprechen, aber seine Ausdrucksweise war auch jetzt schon kräftig und überzeugend. Der wusste, was er wollte, wieder musste sie lächeln. Er war so lieb, so schön, so klug, er war einzig und allein ihr Sohn, und niemand würde ihn ihr wegnehmen, das würde sie verhindern.
Dennoch hatte sie Angst. Sie lebte hier in diesem Armutsviertel, das gesetzfrei war, aber wenn sich herausstellte, dass sie eine entlaufene Sklavin war... dann würde das Gesetz sofort zuschlagen, dann würde ihr Sohn wieder ein Sklave werden, denn er war als Sklave geboren worden. Um sich selbst machte sie sich keine Sorgen, sie würde das ertragen können, die Knechtschaft, die Demütigungen oder den Tod. Aber ihr Sohn, ihr wunderbarer kleiner Sohn sollte das nicht mitmachen müssen, er sollte frei aufwachsen und…
In diesem Augenblick fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
Ihr Herzschlag stockte. Nein, nein, man hatte sie gefunden, es war aus! Vanadis tastete nach dem kleinen Dolch, den sie immer versteckt in einer Gürtelschnalle trug und drehte sich vorsichtig um.
Marcus stand vor ihr und er hielt ihren Sohn auf seinen Armen. Warum schrie der Kleine nicht, im Augenblick fremdelte er doch so, vor allem wenn ihm Unbekannte zu nahe kamen.
Mit weit geöffneten Augen starrte sie den Marcus an, dann griff sie ohne zu denken nach ihrem Sohn und riss ihn von Marcus weg.
Marcus machte nicht den geringsten Versuch, das zu verhindern und jetzt stand er mit leeren Armen vor ihr.
Sie fühlte sich schrecklich, fühlte sich aufgebracht, verwirrt, zornig, verzweifelt, hilflos. „Was willst du hier?“ Ihre Stimme klang hysterisch, das konnte sie sogar in ihrem Zorn noch hören.
Er schaute sie an, und seine Augen... Nein, das wollte sie nicht sehen. Er war Römer, und er hatte diese Frau geliebt. Geh einfach weg, geh doch weg! Ich brauche dich nicht!
„Ich wollte dich sehen.“
Ja und, warum wollte er sie sehen? Oh nein, die Colonia hatte ihr Versprechen gebrochen, hatte ausgeplappert, dass sie ... Aber warum wollte er sie sehen? Um sich für sein Leben zu bedanken? Sie hatte es schließlich gerettet, sie wusste zwar nicht warum, aber sie hatte es getan. Doch… jetzt fiel es ihr ein: Sie wollte der Colonia diesen Gefallen erweisen. Er war der Vater der Colonia. Richtig, so war es gewesen!
„Du hast mir das Leben gerettet. Warum? Bedeute ich dir etwas? Nicht viel vielleicht, aber vielleicht ein bisschen?“
Vanadis starrte ihn an. Oh, wie sie ihn hasste! Was bildete er sich ein? Was wollte er? Sie war nur eine Sklavin, und wen interessierte schon die Meinung einer Sklavin. „Bist du total verrückt geworden? Was habe ich mit dir zu schaffen?“, schleuderte sie ihm entgegen.
„Vanadis, bitte… Ich wollte dich nur sehen, und vor allem wollte ich mit dir sprechen.“
Seine grauen Augen… Was dachte sie da, nein, sie sahen nicht verletzt aus, alles nur Einbildung! „Warum?“, fragte sie schroff.
„Es hat sich vieles geändert“, sagte er knapp. „Du wohnst doch bestimmt in der Nähe, lass mich bitte mitkommen und es dir erklären. Hier auf der Straße ist es zu laut.“
„Ach was! Schämst du dich etwa, mit einer Sklavin gesehen zu werden, und dann noch mit der im Gespräch vertieft?“, sagte sie spöttisch.
Marcus sah sie daraufhin nur an, auf eine seltsame Weise sah er sie an, und Vanadis musste plötzlich daran denken, dass sie ja abhängig von ihm war. Die Zukunft ihres Sohnes hing an ihm. Wenn er sie verraten würde… Und vielleicht war es wirklich besser in ihrer sogenannten Wohnung, sie hatte keine Lust, hier in aller Öffentlichkeit ihr Dasein als entlaufene Sklavin kundzutun. Ihrem Stammbäcker und Geschäftsfreund war das zwar egal, aber um sie herum gab es bestimmt andere Ohren, die bestimmt neugierig dem Geschehen lauschten.
Also sagte sie widerwillig: „Ich wohne hier im Block, aber es ist keine Luxusbehausung. Und ich mache das nur, um kein Aufsehen zu erregen...“
Marcus nickte und folgte ihr schweigend. Sie betraten den Eingang des Mietshauses und quälten sich stumm die vier Etagen hoch. Vanadis fiel auf, dass er nicht gut laufen konnte, er zog das verwundete Bein ein wenig nach, und der Aufstieg schien ihm Mühe zu bereiten. Ein seltsames Gefühl erfasste sie. Am liebsten hätte sie ihn gestützt. Dumm, wie dumm von ihr…
In ihrer Wohnung angekommen, trat Vanadis hinter ihn zurück. Sie wies mit der Hand in das Zimmer und sagte höhnisch lächelnd: „Willkommen in meinem prächtigen Gemach! Es entspricht doch wohl deinem Gusto, oder etwa nicht?“
„Warum bist du fortgegangen?“
Vanadis starrte ihn an. Was sollte das jetzt? Lag es nicht auf der Hand, warum sie fortgegangen war? Konnte er sich das nicht denken? Nein, bestimmt nicht, er war ja ein freier Bürger Roms und hatte keine Vorstellung davon, wie eine Sklavin dachte und fühlte.
„Was meinst du wohl?“, gab sie höhnisch zurück.
„Ich habe eine Vermutung“, sagte Marcus zögernd.
„Du hast eine Vermutung? Da muss ich lachen! Was weißt du schon!“
Marcus stand vor ihr, und auf einmal verwandelte sich sein Gesichtsausdruck in den, den sie von früher kannte, in diesen undurchschaubaren, unbewegten. Was war los mit diesem Mann? Sie hätte es gerne gewusst, denn irgendetwas zog sie zu ihm hin… Ach verdammt!
„Die Caenis hatte dich schon freigelassen, und sie hätte es dir auch gesagt, doch dann kam der Skandal mit der Messalina dazwischen...“, Marcus machte eine Pause und fuhr dann fort, „und der Tod der Sidonia.“
„Was denn? Ich bin freigelassen?“ Vanadis konnte das nicht glauben, es war so fantastisch, so unmöglich, aber wenn es wahr wäre, dann wäre sie ja... Sie war frei! Sie schaute den Marcus fassungslos an.
Als erstes fiel eine Riesenlast von ihr ab: Sie musste sich nicht mehr verstecken, musste nicht mehr drauf lauern, ob sie verfolgt wurde, oder ob jemand nach ihr suchte, um sie dann ihrer Herrin auszuliefern. Das war vorbei. Und schon fragte sie sich, was sie nun wirklich tun konnte. Was hatte sie für Möglichkeiten? Anscheinend nicht viele, arbeiten musste sie weiterhin, aber es würde ein anderes Arbeiten sein, ein unbeschwerteres, und vielleicht konnte sie sich irgendwann eine andere Wohnung leisten, eine die nicht in diesem Elendsviertel lag, eine schönere, vielleicht eine im Erdgeschoss. Aber das Beste an allem war: Ihr Sohn würde frei sein, er würde kein Sklave mehr sein, denn die Kinder von Freigelassenen waren wirklich frei, während ihre Eltern nicht das volle römische Bürgerrecht besaßen. Diese waren immer noch ihren ehemaligen Herren verpflichtet in vielerlei Beziehung.
Doch ihr Sohn würde wirklich frei sein. Versonnen schaute sie vor sich hin.
Marcus Stimme holte sie aus ihren Gedanken zurück: „Ich dachte vielleicht, dass du zurückkommst“, er schaute sie dabei bittend an. Jedenfalls sah es so aus.
„Was soll ich da?“, Vanadis schüttelte den Kopf.
Mit einem wie sie meinte geringschätzigen Blick prüfte er daraufhin die Örtlichkeiten, diese schienen ihm nicht zu gefallen, denn er sagte: „Wir könnten unserem Sohn Besseres bieten als das hier.“
Kein Wunder, er war Besseres gewohnt. Dann fiel ihr auf, dass er „unserem Sohn“ gesagt hatte, und eine Welle von Wut erfasste sie. „Verdammter Mistkerl, du willst mir MEINEN Sohn wegnehmen? Das schaffst du nicht! Ich brauche dich nicht, und MEIN Sohn braucht dich auch nicht. Wir leben hier ganz gut! Und wie kommst du überhaupt darauf, dass DU sein Vater bist!“
„Ist er es nicht?“
Vanadis spürte, wie ihr Gesicht errötete. Sie biss sich auf die Lippen und schwieg.
„Bitte Vanadis, ich wollte dich nicht kränken. Aber ich könnte mir vorstellen, dass der Kleine auf dem Lande besser leben könnte. In Britannien zum Beispiel.“
„Ach, und wie soll das vonstatten gehen? Gib es doch einfach zu. Du willst ihn mir wegnehmen. Aber ohne mich!“
„Ich liebe dich, Vanadis. Ich glaube, ich habe es schon getan, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.“
Sie schaute ihn sprachlos an. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte.
„Es fällt mir schwer, das zu sagen, ich bin es nicht gewohnt, so etwas zu sagen, aber es ist die Wahrheit. Ich möchte dich bei mir haben und den Kleinen auch. Und es gibt eine Lösung dafür.“
„Eine Lösung? Was meinst du damit?“ Vanadis lachte ihm ins Gesicht. „Ach ja, das Konkubinat... Tolle Sache ist das. Aber ich will es nicht. Ich will DICH nicht! Ich will nur jemanden heiraten, den ich liebe, und sei es auch der geringste Sklave im Römischen Reich. Dich will ich nicht! Dich und den ganzen römischen Mist mit all seinen Regeln und Gesetzen und Sklaven und freigelassenen Sklaven und Herren vor allem!“ Sie verstummte atemlos. Und plötzlich fiel ihr ein, dass er gar nicht von Konkubinat, geschweige denn von Heirat geredet hatte. Oh nein, sie fühlte sich gedemütigt und beschämt. Was war nur in sie gefahren? Allein der Gedanke an eine wie auch immer geartete Zweisamkeit war unmöglich, war pervers! Er liebte sie? Er hatte auch seine Frau geliebt, dieses Ungeheuer!
Marcus trat einen Schritt zurück. Er sah verletzt aus, oder war das nur Einbildung von ihr? Nein, sie wollte ihm schließlich ihm seinen Sohn vorenthalten.
„Sage mir nur eins…“
„Was meinst du?“, fragte sie unwirsch.
„Ich weiß, dass du mein Leben gerettet hast. Und ich danke dir dafür. Sage mir einfach nur, warum du das getan hast.“
Vanadis wand sich hin und her, denn sie wusste im Grunde keine Antwort darauf. Sie hasste und verachtete ihn, obwohl er ihr höchste Lust beschert hatte. Vielleicht hasste sie ihn deswegen so sehr. Andererseits hatte sie ihn schon vorher gehasst…
„Ich bin nun mal so, ich kann keinen Menschen leiden sehen. Außerdem bist du der Vater der Colonia, und ich weiß, wie sehr sie dich liebt.“ Gut, Vanadis, du hast ihn abgelenkt. Aber wovon? Mittlerweile fühlte sie sich so verwirrt, dass sie selber nicht mehr wusste, was sie für ihn empfand. War es Hass, Mitleid oder ganz etwas anderes?
„Wenn das dein einziger Grund ist, dann wünschte ich, ich wäre besser gestorben an der Verwundung. Ich mag nicht mehr in Rom sein, ich bin aus dem Dienst ausgeschieden und wünsche mir ein neues Leben. Aber nur eines mit dir.“
„Du lebst, und du bist ein Bürger Roms, das ist eine ganze Menge! Du willst noch einen anderen Grund? Du hast mich aus dem Bacchustempel gerettet, und ich habe dich dafür von deiner Krankheit geheilt. Wir sind quitt, wir schulden uns nichts mehr. Und jetzt gehe bitte! Gehe nach Britannien oder sonst wohin!“ Vanadis war es furchtbar zumute, dieses Gespräch nahm eine Wendung, die seltsam war und die ihr wehtat. Sie wollte das nicht, obwohl sie dem Marcus nicht traute. Er hatte seine Frau immer beschützt, diese Schlampe. Bis zu ihrem letzten Atemzug hatte er es getan. Er konnte sie, Vanadis nicht lieben. Trotzdem fühlte sie sich verunsichert, nein, das war untertrieben, sie fühlte sich furchtbar, als ob sie im Unrecht wäre.
„Gut“, sagte er. „Dann bleibe ich hier.“
Jetzt war Vanadis total verwirrt. Was sollte das? Was wollte er? Wollte er hierbleiben, um seinen Sohn zu sehen, um ihn zu erziehen vielleicht. Um ihn ihr wegzunehmen?
„Mach dir keine Mühe! Gehe fort! Ich brauche dich nicht, und mein Sohn braucht dich auch nicht!“
Er ging einen Schritt auf sie zu, machte dann Halt und blickte zu Boden, dann zog er etwas aus seinem Hemd heraus, es war eine Papyrusrolle, er legte sie auf ihre Bettstatt und blieb dort stehen, als wäre er gelähmt.
Warum blieb er dort stehen? Sie konnte seine Bewegungslosigkeit nicht ertragen, sie tat ihr weh. „Warum gehst du nicht?“, sagte sie
Er ging ohne Widerrede. Und obwohl sie ihn gebeten hatte zu gehen, musste sie ihm dennoch bis zur letzten Sekunde hinterher starren. Er trug diese germanischen Hosen, und er sah so hilflos aus, als er die Stufen herab hinkte. Das Bein, es war nicht mehr richtig in Ordnung.
Er verschwand aus ihrem Blickfeld, und sie lauschte den unregelmäßigen Schritten, die er auf der Treppe hinterließ.
In der Nachbarschaft spielte jemand auf einer Flöte eine einfache Melodie. Eine seltsame Melodie war das, sie brachte Aufruhr in ihr Innerstes, sie fühlte sich verletzlich und sie spürte, dass ihre Augen feucht wurden. So etwas kannte sie gar nicht, was war nur los mit ihr?
Der kleine Marcus war auf sie zugekrabbelt, schmiegte sich an sie und sah sie erstaunt an.
Sie streichelte ihn und sagte: „Das war dein Vater. Wenn ich nur wüsste, was er von mir will... Und wenn ich nur wüsste, was das Beste für dich ist, mein Kleiner…“
Müde ließ sie sich auf die verschlissene Matratze fallen. Sie überlegte hin und her, kam aber zu keinem Ergebnis. Auch das Wissen darüber, dass sie nun eine Freigelassene war, bereitete ihr kein Vergnügen mehr. Irgendetwas an der Sache war grundverkehrt. Sie müsste doch der glücklichste Mensch auf Erden sein, aber nein, sie saß hier und versuchte mühsam ihre Tränen zurückzuhalten.
Der kleine Marcus schien ihren Zustand zu ahnen, er drängte sich eng an sie und blickte sie mit seinen grauen Augen – es waren die Augen seines Vaters, wie sie schmerzlich dachte – fassungslos an. In so einem Zustand hatte er sie noch nie gesehen, der Kleine.
„Mama?“, fragte er.
Sein erstes verständliches Wort. Nun kamen Vanadis wirklich die Tränen, sie liefen ungehemmt über ihr Gesicht. Sie zog ihn an sich und küsste ihn. „Ja, ich bin deine Mama, und du bist mein Sohn.“
Sie hielt ihn ein wenig von sich weg, um seine Schönheit in sich aufzunehmen. Er juchzte vor sich hin, und das machte sie einerseits glücklich und dann sofort wieder traurig. Was hatte er hier für Möglichkeiten? Hier, in diesem Moloch Rom, in diesem Wirrwarr von Menschen, Sklaven und Freigelassenen. Wie würde sein Leben hier verlaufen? Mit den feuchtkalten Wintern, durchdrungen vom beizenden Geruch der Kohlebecken. Mit der brütenden Hitze im Sommer. Mit den Fäkalien und den toten Hunden und Katzen, die auf den Gassen und Straßen lagen. Mit der braunen Brühe, in die das Trinkwasser sich verwandelt hatte. Mit der Willkür der Herrschenden. Mit der allgemeinen Hoffnungslosigkeit.
Sie musste hier heraus, sie musste in eine bessere Gegend ziehen, ihrem Sohn zuliebe. Ihr Sohn sollte einen klaren Himmel sehen, nicht den verräucherten von Rom, sondern den richtigen Himmel. Sie vermisste ihn so sehr!
Sie nahm die Schriftrolle, die Marcus auf das Bett gelegt hatte, vorsichtig an sich und wog sie in der Hand. Was würde darin stehen? Zögernd fing sie an zu lesen. Es war eine detaillierte Beschreibung, wann ein gewisses Schiff vom Hafen Portus nach Britannien fuhr, an welchem Kai es liegen würde und zu welcher Stunde seine Reise begann. Ganz am Schluss stand der Satz: „Bitte, komme mit. Auch wenn du mich nicht lieben kannst.“
Dieser Satz erschütterte sie. Er tat ihr weh, aber sie wusste nicht warum. „Mein Kleiner“, sie drückte ihren Sohn zart an sich. „Willst du vielleicht auf dem Land leben? Vielleicht sogar im fernen Britannien? Meine Mutter lebte in der Bretagne - das hört sich ähnlich an wie Britannien - und ich weiß, dass es schön da ist, sie hat es mir erzählt, denn ihre Vorfahren kamen von dort. Sie folgte einem Römer, den sie liebte – und der dann starb. Dein Großvater war auch ein Römer. Ist schon seltsam.“
Vanadis grübelte vor sich hin, während der kleine Marcus anfing zu lachen, er warf seine Arme hoch und umarmte stürmisch seine Mutter. Sie konnte nicht anders und musste auch lachen, trotzdem grübelte sie weiter:
Könnte das eine Parallele sein zu ihrem eigenen Leben? Nein, nein, nein, Marcus war ein Römer und somit ihr Feind, sie würde ihm nur folgen, weil es nützlich für ihren Sohn wäre. Sie selber spielte dabei keine Rolle. Und Marcus war bestimmt gut für ihn. Marcus liebte seine Tochter sehr, obwohl sie ein Mädchen war und außerdem noch behindert. Die meisten Römer hätten das Kind nach seiner Geburt töten lassen, aber er hatte das nicht getan. Im Gegenteil, er verhinderte, dass es von seiner Mutter gequält wurde, wenn er denn mal zu Hause war.
Wie würde es wohl in Britannien sein? Sie stellte sich sanfte grüne Hügel vor und natürlich ein anderes Wetter als hier in Rom. Alles wäre gemildert, viel Regen im Sommer, viel Regen im Winter. Sie liebte den Regen. Auch die Sonne brannte dort sicher nicht so erbarmungslos vom Himmel wie hier. Und der Himmel erst einmal, er war bestimmt tiefblau, dicke graue Wolken standen in ihm und brachten ihn zum Leuchten…
Vanadis stöhnte auf. Was sollte sie nur tun? Und wieso fühlte sie sich so aufgelöst? So, als ob ihr etwas abhanden gekommen wäre, auf dessen Gegenwart sie nie viel Wert gelegt hatte, obwohl sie es doch brauchte. Und das bald aus ihrem Leben verschwinden würde, wenn sie nichts unternahm. Sie fühlte sich wie gelähmt. Sie musste sich entscheiden. Aber es war schwer, so schwer…
Sie wusste nur, ohne ihn ging es nicht, und diese Erkenntnis war erschreckend. Sie hasste und verabscheute ihn doch. Dennoch war diese Liebesnacht ihrem Körper eingeprägt, diese Lust, diese Zärtlichkeit, diese Hingabe… Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so gefühlt. Und es hinterher auf die Drogen geschoben, die man ihr in der Nacht zuvor verabreichte hatte.
Aber das konnte nicht der wahre Grund gewesen sein. Empfand sie etwas für Marcus? Etwas das nicht vergleichbar war mit ihren Gefühlen für Thumelicus? Die Gefühle für Thumelicus waren dagegen lauwarm gewesen. solche Leidenschaften hätte er nie bei ihr nicht erwecken können, sie hatte ihn angebetet auf eine absonderliche Art, die wie sie jetzt erkannte, nichts mit Liebe zu tun hatte.
Aber war das Liebe, was sie für Marcus empfand? Nein, es ging nicht, sie verabscheute ihn und sein Verhalten, ihn und seine Ehe, ihn und seine Frau. Wer so etwas wie die liebte, den konnte sie, Vanadis, nicht mögen, geschweige denn lieben.
Den kann ich nicht lieben, kann ich nicht lieben, murmelte sie immer wieder vor sich hin. Obwohl sein Körper sie unwiderstehlich anzog, und wenn sie sich vorstellte, in seinen Armen zu liegen, musste sie aufstöhnen.
So wälzte sie sich die ganze Nacht auf ihrer Matratze herum und kam zu keinem Ergebnis. Sie wusste nur, dass ihr etwas fehlen würde, wenn Marcus nicht mehr da wäre. Er hatte ihrem Dasein einen Sinn gegeben. Oder der Hass auf ihn? Ohne diesen Hass hätte sie nicht überleben wollen. Aber war es denn Hass?
Im Morgengrauen hörte sie ihren Sohn krähen. Sie machte die Augen auf und sah ihn direkt über sich. Er war aus seiner winzigen Bettstatt gekrabbelt und richtete sich an ihrer Matratze hoch. Fing er schon an, die ersten Schritte zu üben? War das vielleicht ein Zeichen?
„Oh mein Kleiner, du kannst ja fast schon laufen. Und bist doch noch so winzig“, sie schloss ihn in ihre Arme. „Was soll ich nur tun? Hier kannst du nie im Leben glücklich werden. Aber in Britannien hast du vielleicht die Möglichkeit dazu.“
Der kleine Marcus wackelte mit seinem Kopf, es sah zustimmend aus – und dann schlang er seine Ärmchen um sie.
„Was meinst du, kämst du mit ihm klar?“, sagte Vanadis ihm leise ins Ohr .Was für eine blöde Frage an einen nicht mal Einjährigen, sie musste lachen. Aber ihr Lachen gefiel dem kleinen Marcus wohl, denn ein Strahlen überzog sein Gesicht, und sie nahm das wieder als ein Zeichen.
„Nun ja, wir werden sehen, aber ich bin mir gar nicht sicher.“ Vanadis drückte dem Kleinen einen Kuss auf seine Stirn. Und grübelte weiter.
 
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Kommentare  

kannten die alten römer auch schon eine gewisse romantik? einige bestimmt. ich glaube, man nennt das liebe oder so ähnlich. ;-)

Ingrid Alias I (21.04.2015)

Wunderschön romantisch. Eine Liebesgeschichte aus jener Zeit der Römer, wo sie noch die meiste Macht hatten. Es ist rührend, wie sich Marcus um Vanadis bemüht, obwohl sie doch nur eine Sklavin ist und nicht nur seinen Sohn von ihr fordert. Man kann begreifen, welch ein Hin-und- her sich in Vanadis Kopf abspielt.

doska (17.04.2015)

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