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6 Seiten

Ein Traum in Weiß

Kurzgeschichten · Romantisches
Weiß ist die Parkbank. Frisch lackiert. Oben auf der Biberhöhe. Mit Blick über das nordwestliche Plön. Im Rücken das riesige Kreuz aus Holz.
Annika genießt die Mittagssonne. Angenehm wärmt sie ihre jungen Wangen. Durch die geschlossenen Lider schimmert es orange. Möwen kreischen in der Ferne. Ein Motorrad donnert von der Prinzenstraße herauf. Auf ihren Lippen der Geschmack des gesüßten Kaffees. Und der Wunsch, dieser Geschmack würde sich mischen mit den Lippen des Kommissars.
Tief sah er ihr in die Augen, als er ihr vorhin die Tasse übergeben hatte. Im Büro. Nach der Lagebesprechung zum Juwelenraub in Kiel und der mysteriösen Hausbesetzung in Plön. Im roten Backsteinhaus, schräg rechts unter ihren Füßen.
Seine Augen waren neugierig. Und entschlossen. Strahlten eine Gefahr aus, die Annika reizte. Sie liebt das Spielen mit brenzligen Situationen. Sonst wäre sie nicht Polizistin geworden. Sie weiß, Kommissar Sedemünder vermutet, dass sie sein Geheimnis entlarvt hat. Dadurch hat sie beim älteren Mann Interesse geweckt. In diesem Gefühl der neugewonnenen Wichtigkeit sonnt sie sich. Er wird nicht mehr um sie herum kommen. Und gerne lässt sie sich ihr Schweigen mit Küssen abkaufen. Bei diesem Gedanken schmunzelt sie.
Annika nimmt den über die Rückenlehne hängenden Kopf nach vorne.
Ihr Gesicht fällt in den Schatten.
Nur die gelben Lichtflecke sieht sie noch immer hinter ihren geschlossenen Augen.
Ein kleiner Windhauch streicht ihr an der Nase vorbei. Erzeugt von einer ganz nah vorübergehenden Person.
Diese setzt sich neben sie.
Annika hört, wie die fremde Hand sich auf das Holz legt.
Wie eine Spinne wandert ihre Hand dem Ankömmling entgegen.
Als ihr kleiner Finger seine Haut berührt, ergreift der Fremde ihre Hand.
Warm umschließt seine Hand die ihre. Hebt sie etwas an. Drückt sie.
Er ist wirklich gekommen.
Ihr Gesicht strahlt, als sie ihren Kopf gegen seine Schulter fallen lässt.

Die junge Polizistin spürt den Wind unter ihr weißes Sommerkleid fahren. Bis knapp übers Knie reicht es ihr, wenn sie steht. Jetzt ist es auf die Oberschenkel hoch gerutscht. Deutlich spürt sie die Kühle des Schattens auf den frei gelegten Knien. Gleich unterhalb dieser beginnen ihre weißen Schnürstiefel. Die mit den hohen Plateauabsätzen.
Wie eine frische Wolke weht sein Rasierwasser an ihre Nase.
Tief atmet sie ein.
Der Mann steht auf, zieht sie zu sich her.
Kurz weilt sie an seiner Brust, die Augen geschlossen. Ihr Herz hüpft in himmlischen Sphären. Gottes Sohn ganz nah, wird sie auf seine Arme gehoben.
Annikas Hände umschließen seinen Hals, ihre Wange legt sich an seine Brust. Sie spürt die kitzelnden Härchen, freut sich über das geöffnete Hemd des Kommissars. Dieser Beweis stimmt sie zufrieden. Er hat auch Lust.
Ihre Finger kriechen in seinen Ausschnitt. Sie muss seinen Körper einfach berühren.
Schüchternheit war gestern.
Nicht länger will sie sich verstecken.
Mutig verkündet sie der Welt ihre Liebe.
Ihre warmen Gefühle der Zuneigung und Hingabe sollen endlich zum Leben erweckt werden. Nicht mehr länger will sie in ihren heroischen Träumen schwelgen. Denn bisher war sie nur dort selbstsicher und cool.
Doch jetzt nimmt sie diesen attraktiven Mann in ihren Besitz und wird ihn nicht mehr hergeben.
Und er? Was wird er tun?
Auf seinen starken Armen soll er sie um den Trammer See tragen. Die ganze Zeit will sie in sein glückliches Gesicht schauen. Bis er am Abend in ihrem Schlafzimmer ankommt, sie in ihren weißen Himmel bettet, mit Kissen, so weich wie Wolken; und Berührungen, zart wie ein Windhauch. Und jedes sanfte Streichen über ihre Haut würde den Vulkan in ihr stärker zum Brodeln bringen.
Bis sie sich wandeln würde in reinste Begierde.
Sie würden sich küssen. Sie würden sich streicheln. Sie würden sich vereinen. Und nie wieder, nie wieder würde er sie aus seinem Herzen heraus lassen, redet Annika sich ein.
Wie in Trance öffnet sie die restlichen Knöpfe seines Hemdes. Anschließend legt sie ihre Handteller auf seine Brust und beginnt sie Zentimeter für Zentimeter abzutasten. Überaus glücklich, dass dieser kräftige Körper jetzt ihr gehört und ab heute sie beschützen würde, lässt sie erneut ihre Wange gegen seine Brust fallen. Gleich darauf eröffnen ihre Hände die Attacke gegen seinen Rücken. Sie streichelt, krault und kratzt.
Da setzt er sie ab.
Knüpft das Hemd wieder zu.
An seiner Hand fliegt sie hinter ihm her.
Die Serpentinen hinab, durch Prinzen- und Hans-Adolf-Straße, hinaus aus der Stadt, über die Felder nach Tramm. Von dort an den See; über die Wiesen nach Rathjendorf.
Jetzt schreitet sie vorweg. Warm und fest hält seine Hand die ihre. Ein Blick zurück in seine Augen. Sie leuchten sanft. Sagen Annika, von nun an würde es nur noch Liebe in ihrer Welt geben. Die Liebe zu diesem Mann in Weiß.
Ihr frisch geföhntes Haar und sein weißes Hemd wehen im Sommerwind um die Wette. Annika erinnert sich an Alain Delon im Film „Die Abenteurer“. Wie Alain trägt der Kommissar die ersten drei Knöpfe offen. Sonnengebräunt lächelt darunter seine Brust hervor. Die Ärmel sind bis knapp unter die Ellenbogen umgeschlagen, geben seine sehnigen Unterarme frei. Künden von Kraft. Von der Fähigkeit, zu beschützen. Und zur allergrößten Freude liegt seine weiße Jeans ganz knapp an. Stramm und rund drückt sich sein Hintern durch den Stoff. Eine wahre Augenweide.
Nur ein pechschwarzer Ledergürtel unterbricht das Weiß seiner Erscheinung.
Da spürt Annika einen leichten Zug in ihrer Hand. Wie eine Feder im Wind fliegt sie in seine Umarmung. Die Hände erneut um seinen Hals geschlungen, hüpft sie auf seine Arme.
Wie in einem Karussell fliegt sie im Kreis.

Sie sieht die Sonne, den strahlend blauen Himmel, das Grün der Bäume und Wiesen. Und hört immer wieder dieselben Worte: „Ich liebe Dich. Ich liebe Dich. Ich liebe Dich.“
Schwäne flüchten vor den Liebestollen, heimisch gewordenen Wildgänse watscheln zum Wasser. Oberhalb des Ufers, auf einer kleinen Anhöhe, setzt er seinen Liebling ab.
Über das Gebüsch und Ufer hinweg sehen sie die Marktkirche und das Schloss.
Kommissar Sedemünder schlingt seinen Arm um Annikas Taille und zieht sie zu sich heran. Erlöst lässt sie ihren Kopf an seine Schulter sinken. Zärtlich spürt sie seine andere Hand auf ihrer von ihm abgewandte Wange. Dem leichten Druck seines Handballens gibt sie mit Wohlwollen nach. Vor ihren Augen liegt sein großer Mund. Als sie ihre Lippen gegen die seinen drückt, schließt sie wieder die Augen.
Noch mit seiner Zunge spielend spürt sie seine Hand an ihrem Knie. Schlagartig lockert sich ihre Anspannung. Mit der Zartheit eines Rosenblütenblattes fährt die geliebte und heiß ersehnte Hand auf ihrer Haut auf und ab. Immer wieder und wieder. Und jedes Mal kommt sie ihrem Zentrum ein Stück näher.
Lange spielen seine Hände mit ihrem weißen Höschen aus Spitze.
Ehrfurchtsvoll führt er es über die Stiefel.
Lachend und vor Lust jauchzend dreht die junge Frau ihm den Rücken zu.
Zahn für Zahn öffnet sich der Reißverschluss.
Der warme Sommerwind kühlt ihre glühende Haut.
Sie sieht das Kleid von dannen fliegen. Dann ihren BH.
Nackt, nur noch in ihren weißen Schnürstiefeln, liegt sie vor ihm im Gras. Schaut zu, wie Hemd, Schuhe und Hosen hinweg segeln.
Voller Erwartung und Zuneigung zittert Annika mit ihm.
Ihr entkleideter Adonis ist eine Pracht.
Wie ein gefährlicher Tiger kommt er über sie gekrochen.
Tief dringt sein Blick in ihr Herz.
Langsam senkt sich das Raubtier ab.
Willig nimmt seine Beute ihn auf.
Leicht wie eine Feder liegt der Kommissar auf Annikas Brust. Aber die Zeit der Leichtigkeit ist vorbei. Fest umschließt sie seinen Körper. Krallt sich in ihn, klammert sich an ihm, presst ihm ihren Busen entgegen.
Da bricht sich die Wildheit Bahn.
Eng umschlungen rollen sie über die Wiese, kullern zum See hinab, fallen ins Nass, robben sich wieder hinaus, kriechen über das lange Gras und finden im Schatten der Büsche endlich ihre Erfüllung.
Lange hält sie danach ihren Kommissar gefangen. Dieses Spiel der Liebe ist umwerfend gewesen. Annika sprudelt voller Freude und Glück. Wie ein frisch eingeschenktes Glas Sekt.

Als sie erwacht, sitzt ein sehr alter Mann neben ihr. Nachdenklich zwirbelt der seinen Schnauzer.
Enttäuscht rückt Annika bis an das äußerste Ende der Bank.
„Schön, dass Du wieder aufwachst, Tochter.“
Was hat das zu bedeuten? Sie blickt auf ihre Armbanduhr. Über eine halbe Stunde ist vergangen. „Haben Sie die ganze Zeit neben mir gesessen?“
„Ja, und ich bereue es nicht.“ Gütig und verständnisvoll schaut der uralte Mann mit seinen tiefen Falten ihr tief in die Augen.
Unwillkürlich muss die junge Polizistin an ihren Großvater denken: „Aber warum?“
„Um auf Dich aufzupassen, Mädchen. Deine Sterne stehen unglücklich. Du bist in Gefahr.“
Zweifelnd versucht Annika in den Augen des gebrechlichen, alten Mannes den Sinn seiner Worte zu ergründen: „Und Sie hätten mich beschützen können?“
„Heute und hier ja. Nur kann ich das nicht rund um die Uhr tun.“
Das wäre ja noch schöner. Was sollten die Leute sagen, wenn ich die ganze Zeit mit einem Greis herum spazieren würde, denkt Annika. Langsam wird der Alte ihr unheimlich.
Da erst bemerkt sie, wie sie noch immer seine Hand hält. Eine Hand, groß, alt, schrumpelig und . . . warm. Vertrauen spendend.
„Wer sind Sie?“
„Ich bin Dein Onkel Wilhelm, Kindchen. Ein Vetter Deines Ururgroßvaters.“
„Vielen Dank, Onkel Wilhelm, dass Du auf mich aufgepasst hast. Da ich nun wach bin, kannst Du meine Hand wieder loslassen.“ Freundlich aber bestimmt zuckt Annika mit ihrer Hand. Und kriegt sie nicht frei. Stattdessen tätschelt der Opa sie väterlich mit seiner anderen Hand. Onkel Wilhelm? Nie hatten Mutter oder Vater von ihm gesprochen. Und dieser verschlissene, alte, ehemals graue Anzug – die feingliederige Kette, die vom Knopf der Weste zur winzigen Brusttasche führt, mit Sicherheit eine Taschenuhr beherbergend; das alles kommt ihr vor wie aus einer anderen Zeit. Ist sie noch immer im Traum? Warum aber hat sich dann über das Weiß ein Grauschleier gelegt? Welche Botschaft versteht sie nicht?
Sie muss ihn fragen. Sie muss sich fragen, ihr Unterbewusstsein. Vielleicht befördert sie so das Verdeckte ans Licht.
„War denn jemand gekommen, der mir Böses wollte?“
„Er kam, sah und verlor. Aber er wird wieder kommen. Schon sehr bald. Sei auf der Hut.“
„Wer ist es?“
„Du weißt es besser als ich.“

„Ach, Frau Czebrowska, finde ich Sie endlich.“ Kommissar Sedemünder tritt in seiner Dienstkleidung durch den Durchlass in der Hecke. Verlegen schlägt Annika die Augen nieder und zieht unwillkürlich den Kragen ihrer blauen Softshelljacke fester zu. So sehr sein Anblick sie erfreut, gerade jetzt platzt er ungünstig dazwischen. Annika hat die Verbindung zu ihren inneren Stimmen verloren.
„Kommen Sie zurück zur Arbeit. Wir haben noch einiges zu recherchieren. Und müssen pünktlich fertig werden. Meine Einladung haben Sie doch nicht vergessen, oder?“
Ein Frösteln geht durch Annikas Körper. Trotz der festen Kargohose. Sie kann es sich gar nicht erklären.
Gleich darauf spürt sie das Blut ihre Wangen erröten. Der graue Schleier ist entschwebt. Ob Kommissar Sedemünder mich heute Abend wirklich küssen wird? Oh je, wo ist das selbstsichere und coole Mädchen hin, welches ich eben noch gewesen bin?
Wie Annika ihren Kopf vom Kommissar wieder wegdreht, ist der alte Mann verschwunden. Er wird nie dagesessen haben. Dennoch will das mulmige Gefühl nicht weichen. Irgendetwas mit ihrem Traum in Weiß stimmt nicht.
Annika steht auf, schüttelt ihr Haar, sperrt das Reflektieren ein. Leider.
Erst spät in der Nacht wird sie wieder daran denken. Wenn sie in einem zugeschnürten Sack erwacht. Geweckt von der Kälte des Kleinen Plöner Sees. Und mit ihr wird das Wissen über das Geheimnis des Herrn Sedemünders für immer verschwinden.
 
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