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35 Seiten

Die Augen des Magiers

Romane/Serien · Fantastisches
Es war einmal ein Müller, der hatte seine Frau vor Jahren verloren. Aber er war trotzdem ein glücklicher Mann, denn er hatte fünf Söhne, die Tag für Tag mit ihm in seiner Mühle arbeiteten. Der Müller und seine Söhne waren einfache, hart arbeitende Menschen, nicht die klügsten, aber stark wie Ochsen. Alle, bis auf seinen jüngsten. David war ebenso fleißig wie seine Brüder, gutherzig, ein simples Gemüt, aber mit seinen fünfzehn Jahren dennoch ein Hänfling, der kaum einen Mehlsack tragen konnte, wo seine Brüder sich zwei auf ihre breiten Rücken hoben. Der Müller machte sich oft Sorgen wegen David, denn so würde aus ihm nie ein ordentlicher Müller werden.
Eines Tages arbeiteten sie alle wieder fleißig, als eine Kutsche zu der Mühle kam. Solch ein Gefährt hatte noch niemand von ihnen gesehen, denn die Kutsche war vollkommen schwarz. Sie bestand aus einem merkwürdigen Holz, das glänzend und glatt war und kein Licht widerspiegelte. Stattdessen erschien es so, als würde sie alles Licht aufsaugen. Die Fenster waren mit schweren, schwarzen Vorhängen zugezogen und kein Kutscher saß auf dem Bock um das schwarze Pferd anzutreiben, das wild schnaubend das Gefährt zog. Dampfwolken entstiegen seinen Nüstern. Die Sonne verschwand hinter einer dicken Wolke, die ganz plötzlich herangezogen war, sodass es beinah Nacht wurde.
Der Müller und seine Söhne sahen von ihrer Arbeit auf und starrten die Kutsche an. Sie alle hatten eine Gänsehaut und verspürten Angst, ohne so recht sagen zu können wieso. Auch David, der starr vor Panik und unfähig sich zu rühren war.
In diesem Moment glitt die Tür der Kutsche lautlos auf und ein Mann stieg aus. Auch fast alles an ihm war schwarz, sein Mantel, sein Hut und sogar seine Augen, nur seine Haare waren schlohweiß. Einen Augenblick sah er sich um, seine pupillenlosen, schwarzen Augen glitten von einem der Müllerssöhne zum anderen und er rümpfte bei jedem die Nase, bis sie schließlich einen Moment auf David ruhen blieben. Er musterte ihn von oben bis unten und ein verkniffenes Lächeln erschien in seinem faltigen Gesicht.
"Komm her, Junge", befahl der Alte und David kam gar nicht auf den Gedanken seiner Aufforderung nicht zu folgen. Beinah ohne sein eigenes Zutun stellte er sich direkt vor den Besucher.
"Wie heißt du, Junge?"
"David, Herr." Seine Stimme bebte.
Der Alte streckte seine knorrigen Finger nach ihm aus, befühlte seine Arme, seine Haut, seine Haare, sein Gesicht, schaute in seine Augen und sogar in seinen Mund wie bei einer Viehauktion. Wieder verzog er angewidert die Lippen, seufzte dann aber. "Ein hartes Stück Arbeit, aber was bleibt mir übrig?", brummte er zu sich selbst.
"Kann ich Euch behilflich sein, Herr?" traute sich nun endlich der Müller zu fragen. Er hatte seine Mütze abgesetzt und knetete sie nervös in seinen Händen.
"Nein, Müller. Es ist eher so, dass ich dir helfen werde", entgegnete der Alte, nahm aber seine Augen währenddessen nicht von David, der immer noch wie gelähmt dastand.
"Mir, Herr? Ihr wollt mir helfen?"
"Ja, ich werde dir diesen unnützen Esser abnehmen."
"Er ist mein Sohn, Herr."
Endlich wandte sich der Alte von David ab und es war ihm, als könnte er sich erst jetzt wieder rühren.
"Er ist dumm und schwächlich. Sage mir nicht, dass er einen ordentlichen Müller abgibt."
"Nein, Herr. Da habt Ihr Recht, aber er ist auch noch jung und kann lernen."
"Er ist ein unnützer Esser, Müller. Du hast vier starke Söhne, du brauchst ihn nicht", sagte der Alte und fixierte nun Davids Vater mit seinen schwarzen Augen. "Bei mir wird er es gut haben. Ich werde ihn ausbilden und formen, sodass du ihn in einem Jahr schon nicht mehr wieder erkennen würdest."
Der Blick seines Vaters leerte sich zusehends.
"Gib ihn mir", forderte der Alte. "Es ist das Beste für ihn."
"Ja, Herr. Nehmt ihn, es ist das Beste für ihn", sagte sein Vater mit einer tonlosen Stimme, drehte sich um und schien im nächsten Moment vergessen zu haben, dass er einen fünften Sohn hatte. Auch die anderen vier arbeiteten weiter wie zuvor und sahen nicht mehr auf.
"Komm, Junge", forderte er und David folgte ihm in die Kutsche. Auch er verdrängte sein Heim und seine Familie sobald sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren.

Die schwarze Kutsche schien nur wenige Minuten über die Straßen zu rumpeln und doch kam David nichts bekannt vor als er aus der Tür kletterte. Der Himmel über ihm war grau und düster, er befand sich in einem schmalen Tal um das sich kahle, graue Felsen erhoben, spitz und abweisend. Nur der Weg, auf dem sie gekommen waren, führte an diesen einsamen Ort. Vor ihm lag ein kleines, dunkles Haus, mit windschiefen Türmen, kleinen Fenstern und einem löchrigen Dach.
"Willkommen, David, in deinem neuen Zuhause", sagte der Alte.
"Es ist unheimlich hier, Herr."
"Du wirst dich daran gewöhnen und nun tu, was ein Lehrling tun sollte: spann ab und bring das Pferd in den Stall, dann komm herein und wir werden beginnen uns um dich zu kümmern."
David war immer noch verwirrt, aber das Gefühl war ihm nicht fremd. Er wusste, dass er nicht klug war und es war normal für ihn, dass er nicht verstand, was um ihn herum geschah. Wie gewohnt tat er, was man von ihm erwartete. Wenn sein Vater meinte, dass es das Beste für ihn war, dann stimmte das wohl. Sein Vater – so schnell wie er sich an den Müller erinnerte hatte er ihn schon wieder vergessen.
Das Pferd war schwierig zu versorgen, denn der Rappe versuchte immer wieder nach David zu schnappen. Erst nach fast einer Stunde hatte er ihm das Geschirr abgenommen, ihn trocken gerieben und mit frischem Hafer versorgt.
Dann gab es nichts mehr zu tun und einen Moment stand er unentschlossen vor dem Haus. Inzwischen war es dunkel geworden – noch dunkler als es sowieso schon gewesen war. Das Haus wirkte noch viel unheimlicher, überall schienen sich die Schatten zu bewegen, aber wenigstens fiel Licht zwischen den Ritzen der Fensterläden hindurch. David überlegte wegzurennen, aber das, was hinter ihm lag, erschien ihm fast noch unheimlicher als das Haus. Überall an den kahlen Berghängen schienen sich grässliche Schatten zu bewegen, Geräusche drangen zu ihm hinab, die ihm Gänsehaut verursachten.
Vorsichtig stieß er die Tür auf und glotzte erstaunt. Die Hütte war von innen ein wahres Herrenhaus, größer als es von außen ausgesehen hatte. Ein freundliches Feuer begrüßte ihn und er sah Möbel, die so ganz anders waren, als alles, was er bisher kannte. Noch nie hatte er ein Sofa gesehen, einen Ohrensessel oder eine so kunstvoll geschnitzte Tafel. Nirgendwo zog es hinein, obwohl die Fenster von außen schief ausgesehen hatten und auch das Dach eher baufällig und löcherig gewirkt hatte.
"Ah, da bist du ja", bemerkte der Alte seine Anwesenheit. Gerade hatte er aus einem Regal an der Wand eine ganze Batterie von Flaschen und Flakons heraus gesucht und begutachtete das Etikett jeder einzelnen bevor er sich auf dem Tisch arrangierte oder zurückstellte.
David sah sich immer noch staunend um.
"Gefällt dir dein neues Zuhause, Junge?" fragte der Alte.
Er konnte nur nicken. "Seid Ihr ein Zauberer, Herr?" Er wusste nicht, welche Antwort ihm keine Angst gemacht hätte.
"In der Tat. Mein Name ist Wirald, aber du wirst mich Meister nennen."
"Ja, Meister."
"Gut, jetzt wo das geklärt ist, müssen wir anfangen uns um dich zu kümmern. Zieh dich aus, Junge."
David hatte viel zu viel Angst um zu widersprechen und beeilte sich, sich aus seinen alten Arbeitskleidern zu schälen. Sie waren so viel schäbiger und schmutziger als alles, was der Magier besaß. Deshalb traute er sich nicht, seine Hose, seinen Kittel, seine Strümpfe und seine Schuhe auf die Sessellehne oder den Stuhl zu legen. Kurz entschlossen legte er sie auf einen Haufen auf den Boden. Kaum hatte das letzte Kleidungsstück die Holzdielen berührt, ging der gesamte Stapel in Flammen auf. In Sekunden verbrannte alles restlos. Fassungslos starrte David auf den Boden. Auf den Dielen gab es keine Spur von seinen Sachen oder dem Feuer. Solche Angst hatte er noch nie verspürt.
"Diese Lumpen kann ich hier nicht dulden", sprach Wirald und begutachtete David nun noch einmal von oben bis unten so gründlich wie es nur ging. "Bei allen…, achtest du denn gar nicht auf dich, Junge?"
"Oh doch, Meister", widersprach David zitternd. "Ich bade einmal im Monat im Fluss."
Wirald lachte freudlos auf. "Schon gut, du kannst es nicht besser wissen. Aber du wirst es lernen. Hier", er hielt ihm einen schweren Tiegel mit einer weißen Lotion darin hin, "vom Hals bis zu den Füßen auftragen und vergiss keine Stelle."
David hatte Angst vor allem, was er von dem Magier bekam, aber er wagte es gar nicht sich zu verweigern. Wirald hätte einen Wurm aus ihm machen können wie es die Magier in den Geschichten so oft taten. Also folgte er, nahm einen ordentlichen Hieb der fettigen Lotion aus dem Tiegel und schmierte sie sich auf jeden Zentimeter seiner Haut. Es schmerzte und brannte, aber er dachte keinen Moment daran es zu lassen. Er hatte seine Anweisungen bekommen.
Wirald war währenddessen wieder an das Regal getreten und suchte geschäftig zwischen den Flaschen, Tiegeln und Kräutern herum.
"Steig in die Wanne und wasche es ab", sagte er über seine Schulter ohne David auch nur anzusehen. Es war genau der Moment, indem er den letzten Zentimeter eingeschmiert hatte.
Er hatte gar nicht gesehen, dass eine Wanne da war, aber als er sich umwandte stand ein großer Zinnzuber mit dampfendem, schaumigem Wasser vor ihm. Er war froh, denn das Wasser löste die Lotion, das Brennen verschwand, aber seine Haut kribbelte und David fürchtete schon, der Magier hätte Ameisen unter seine Haut gezaubert. Nun reichte ihm Wirald eine weitere Flasche mit deren Inhalt er sich die Haare waschen musste und eine weitere für sein Gesicht. Als er nach über einer Stunde aus dem Bad steigen durfte, brannte seine gesamte Haut und war krebsrot.
Aber es war seltsam. Nicht nur, dass ihn keine Läuse und Flöhe mehr zwickten, sondern es juckte ihn auch nirgends mehr. Seine Haut war seltsam weich, denn alle Schwielen waren verschwunden.
Wirald nickte zufrieden und warf ihm einen einfachen Leinenkittel zu. "Und das machst du nun jede Woche."
"Jawohl, Meister."
"Aber nun müssen wir uns um das schlimmste Problem kümmern: deine Zähne."
Das wunderte David doch. Er hatte noch fast alle seiner Zähne, nur drei waren faul und die anderen nur etwas gelb. Sein neuer Meister sah das allerdings anders. Er reichte ihm einen Becher, dessen Inhalt seltsam brodelte und süßlich roch. Wie befohlen nahm David einen großen Schluck, spülte seinen Mund und würgte den Rest herunter. Augenblicklich fühlte er sich komisch. Sein gesamter Kiefer schmerzte und er sank auf die Knie. Überall drückte und stach es und dann fielen ihm eine ganze Reihe seiner Zähne aus dem Mund. Es waren die, die besonders gelb oder faul gewesen waren. Stattdessen schienen ihm neue Zähne zu wachsen und auch die anderen prickelten und brannten.
Wirald ließ ihm etwa fünf Minuten, dann zog er ihn vom Boden hoch und blickte ihm in den Mund. "Sehr gut. So kann man dich herzeigen."
"Danke, Herr", fühlte David sich genötigt zu sagen. "Aber darf ich etwas fragen?"
"Natürlich."
"Wieso tut Ihr das mit mir?" Es kostete ihn allen Mut das zu sagen und ihm standen die Tränen in den Augen.
"Ich habe einen Ruf zu verlieren. Mein Lehrling darf nicht aussehen wie ein verlauster Vagabund. Leg dich nun ins Bett, morgen werden wir mit deiner Ausbildung beginnen."

Von nun an sollte David jeden Morgen mit Muskelkater erwachen. Seine Arme, Beine und sogar sein Rücken schmerzten wie von schwerer Arbeit, obwohl sein Dienst bei Wirald nicht körperlich anstrengend war. Ihm fiel auf, dass ihm seine Hosen jeden Tag etwas kürzer zu sein schienen und auch seine Ärmel bedeckten jeden Tag weniger seiner Hände und Arme und spannten über seinen Muskeln.
Seit er jede Woche die schmerzhafte Prozedur mit der Creme und dem Bad vollziehen musste, war seine Haut makellos geworden. Die Narbe, wo er sich als Kind im Wald verletzt hatte, war restlos verschwunden, genau wie alles andere, was seine Haut verunziert hatte. Wenn er sich in einem der Spiegel in Wiralds Haus ansah, kam es ihm vor, als würde ihn ein Fremder ansehen. Er hatte sich verändert, war reifer und männlicher geworden.
Jeden Tag unterwies ihn Wirald in verschiedenen Dingen. Er begann damit ihn lesen zu lehren und was er nie zuvor begriffen hatte, lernte er von dem Magier in wenigen Tagen. Es fiel im sowieso sehr viel leichter als früher Dinge zu lernen und zu begreifen.
"Ihr verändert mich, Meister", sagte er eines Abends als er Wirald half ein paar Pflanzen und Kräuter zu reinigen und zum Trocknen aufzuhängen. Er hatte den ganzen Tag darüber nachgedacht und allein das schon war eine unheimliche Veränderung.
"Das ist offensichtlich, David. Sieh dich nur an."
"Ich meine nicht, dass ich größer und stärker werde, sondern dass ich anfange nachzudenken. Vor etwa einer Woche habe ich damit angefangen, ganz plötzlich und ich kann nicht mehr damit aufhören." So viele Worte hatte er vorher noch nie auf einmal benutzt.
Wirald lachte. "Ich hatte gehofft, dass es wirkt, aber es erstaunt mich, wie schnell es bei dir geschieht."
"Was geschieht, Meister?"
"Ich forme dich. Du bist wie ein Klumpen Ton und ich werde ein Kunstwerk aus dir machen."
Die Worte machten David Angst. "Aber aus welchem Grund, Meister?"
"Ich kann mit einem dummen Lehrling ebenso wenig anfangen wie mit einem verlotterten."
"Wieso habt Ihr mich dann ausgewählt? Ihr hättet doch gleich einen Jungen nehmen können, der von Anfang an mehr Euren Anforderungen entsprach als ich."
"Nein, das hätte ich nicht. Ich habe Jahre nach dir gesucht, denn nicht jeder hätte all das ertragen können und nicht jeder ist geeignet von mir Magie zu empfangen."
"Magie?"
"Ja, sie ist in mir und wie ich sie von meinem Meister erhielt, wirst du sie nun Stück für Stück von mir erhalten. Von eintausend Menschen ist höchstens einer geeignet dies zu verkraften. Bist du bereit dazu?"
David dachte einen Moment darüber nach, sein Blick fiel auf seine nun perfekten Hände mit den glatten, sauberen Fingernägeln, die ihm immer noch so fremd waren. "Ja, Meister. Bitte tut es."
Das Lächeln seines Meisters wurde breiter. Er hob seine faltigen, fleckigen Hände, drückte die Zeigefinger an Davids Schläfen und seine Daumen auf dessen Augen. Einen Moment geschah nichts, aber dann wurden die Finger des Zauberers heiß. Sie brannten und etwas stach schmerzhaft in sein Gehirn. David schrie auf, aber kurz bevor es unerträglich zu werden drohte, löste sein Meister seinen Griff. Ihm war schwindelig, er fühlte sich gleichzeitig schwach und stark.
"Hat es funktioniert?" fragte er gepresst. Reden tat weh, aber er musste es wissen.
"Sieh hin." Wirald wies auf einen kleinen Spiegel an der Wand und erst sah David nicht, was er meinte, aber dann bemerkte er es. Seine Iris waren etwas dunkler geworden.
"Finde es heraus", forderte Wirald und ließ eine Kerze auf dem Tisch erscheinen. "Puste die Kerze an."
Erst hielt er es für unmöglich, aber dann begann er sich die Kerzenflamme vorzustellen und sah sie plötzlich ganz deutlich vor sich. Er pustete und tatsächlich flammte ein kleiner Funke auf.
"War ich das?"
"Wer sonst? Es ist ein Anfang. Du wirst sehr mächtig werden."
Lächelnd legte der Magier seine Finger aneinander und betrachtete befriedigt sein Werk.

Es war Davids zwanzigster Geburtstag. Zumindest war er fast sicher, dass dies der Tag sein könnte. So genau hatte man das in seinem alten Leben nicht genommen. Wirald hingegen nahm Jahrestage sehr genau. Er richtete sein ganzen Leben und damit auch Davids nach dem Mond, der Sonne, der Natur und den Jahreszeiten aus. Deshalb wusste David auch genau, dass er seit nun beinah fünf Jahren bei dem Magier war. Jeden Monat hatte der Magier ihm einen kleinen Teil Magie geschenkt und genau wie Davids Körper gereift und gewachsen war, waren auch sein Geist und seine Fertigkeiten gereift. Aber Wirald war ein sehr strenger Lehrherr. Er duldete keinerlei Fehler oder Ungenauigkeiten und oft musste David bis tief in die Nacht eine Übung wiederholen bis sein Meister mit ihm zufrieden war.
Auf dem Weg aus seiner Schlafkammer unter dem Dach kam er an einem großen Wandspiegel mit einem geschliffenen Rand vorbei. Er hatte es sich angewöhnt, sich immer nach neuen Veränderungen abzusuchen, denn die meisten waren nachts geschehen. Aber seit über einem Jahr hatte der Magier seinen Körper nicht mehr geformt. Nun vollzogen sich an ihm nur noch natürliche Änderungen. Einzig seine Augen verdunkelten sich mehr und mehr. Umso mehr Magie er aufnahm, desto dunkler wurden sie. Als er nun in den Spiegel sah, blickte er in fast schwarze Iris und sogar seine Augäpfel waren nicht mehr weiß, sondern unnatürlich dunkel. Seltsamerweise sah er damit seinem Meister sehr ähnlich.
Kopfschüttelnd riss er sich von seinem Anblick los und war in wenigen Sätzen die Treppe hinunter. Sein Meister erwartete ihn bereits und hieß ihn wie jeden Morgen das Frühstück zuzubereiten. Schon seit geraumer Zeit dürfte er dafür nur noch Magie verwenden und es nicht mehr mit seinen Händen tun. Eigentlich tat er so gut wie alles im Haus nur noch mit Hilfe der Zauberei. Wirald sagte ihm, was er tun sollte und er tat es. Er befahl Töpfen und Messern, Wasser, Luft, Erde und Feuer, ließ Dinge erscheinen und verschwinden.
Während er frisches Brot mit dem Feuer seiner Magie erwärmte, betrachtete ihn sein Meister nachdenklich. "Ich werde dich heute prüfen, ob du bereit bist."
David glaubte es kaum, was er da hörte. Schon vor geraumer Zeit hatte ihm Wirald gesagt, dass er am Ende seiner Lehrzeit eine Prüfung ablegen musste. Sehr oft hatte er den Magier gefragt, wann diese sein würde, aber die Antwort war immer nur gewesen, dass Wirald es ihm schon sagen würde, wenn er soweit war und anscheinend war es heute soweit.
Freudige Erregung stieg in ihm auf. Würde er diese Prüfung bestehen, er wäre endlich ein richtiger Magier. Er könnte… Er würde… Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Aber natürlich hatte er auch Angst. Was, wenn er die Prüfung nicht bestand?
Der alte Magier erhob sich schwerfällig. In den letzten Jahren war er rapide alt geworden. Sein Körper war faltig und er schien so zerbrechlich wie ein Stück Pergament. Beim Gehen musste er sich auf einen Stock stützen und so schlurfte er langsam hinaus in den Garten.
"Zeige mir, dass du die Elemente beherrschst", forderte Wirald.
David gehorchte. Noch einmal ließ er ein Feuer in seinen Händen aufflammen, formte Ringe und Kugeln daraus. Er brachte das Wasser des nahen Bachs dazu sein Bett zu verlassen und in einer hohen Fontaine in den Himmel zu spritzen. Seine Magie ließ die Erde erzittern und eine Windhose über die Berge fegen. Wirald nickte zufrieden.
"Beweise mir deinen starken Willen", stellte der Zauberer die nächste Aufgabe.
Kurz musste David überlegen. Nur einen Stein oder einen Apfel zu bewegen hätte er in seinem ersten Jahr schon fertig gebracht, Wirald würde mehr sehen wollen. In diesem Moment sah er einen silbrigen Fisch, der durch den Bach schwamm. Wie er es gelernt hatte, nahm David ein Stück seines eigenen Willens und schickte ihn auf den Fisch. Das Tier hielt inne, drehte sich ein paar Mal um sich selbst, dann hatte David seinen eigenen Willen verdrängt. Beim ersten Versuch hatte es ihn verwirrt an zwei Orten gleichzeitig zu sein, jetzt störte es ihn nicht mehr, dass etwas von ihm nun im eiskalten Wasser des Baches trieb, während der Rest von ihm neben seinem Meister stand. Er zwang den Fisch auf das Ufer zu zu schwimmen und kämpfte den Instinkt nieder als er ihn auf das trockene Land springen ließ. Das Tier zappelte und rang nach Luft. David unterdrückte die Panik in sich und formte eine Kugel aus Wasser, in die er den Fisch einschloss. Dann zog er seinen Willen aus ihm zurück.
"Gut", sagte Davids Meister nur. Hätte er ihn nicht besser gekannt, er hätte gefürchtet, die Aufgabe nicht ausreichend gelöst zu haben. So bemerkte er ein Funkeln in Wiralds Augen und fühlte einen gewissen Stolz in sich.
"Und nun", fuhr der Magier fort, "ändere die Form."
Dies war David schon immer am schwersten gefallen. Es war kein Problem Kleinigkeiten zu ändern, seine Kleider oder die Farbe von Gegenständen. Aber das würde nicht ausreichen. Wirald verlangte, dass er die Form änderte und zwar seine und das völlig. Die Frage war nur in welche. Er überlegte und bemerkte den ungeduldigen Blick seines Meisters. Da kam ihm die rettende Idee.
Dieses Mal konzentrierte er seine Macht auf sein Innerstes, verschob und veränderte seinen Körper bis er sich sicher war, dass er das genaue Ebenbild seines Meisters war.
Nun konnte man Wirald seine Begeisterung endlich wirklich ansehen. Zum ersten Mal seit David ihn kannte, strahlte er über sein ganzes faltiges Gesicht. "Wahrhaftig, endlich bist du bereit."
"Heißt das, ich bin endlich ein Zauberer?" freute sich David, während er in seine wahre Gestalt zurückkehrte. Er war so glücklich wie schon seit langem nicht mehr.
"Ein Zauberer? Ja, das wirst du von nun an sein." Er lachte beinah boshaft. "Du wirst ein Zauberer sein, aber du wirst nichts davon haben."
Zuerst glaube David an einen Scherz, aber er wusste, dass Wirald nie scherzte. Seine Hochstimmung verschwand beinah so schnell wie sie gekommen war.
"Was meint Ihr damit, Meister?"
Der Alte kam näher, viel aufgerichteter als er in den ganzen letzten Jahren gegangen war. Eine mächtige Aura umspielte ihn, vor der David unbewusst zurückwich.
"Hast du wirklich geglaubt, dass ich dich zu meinem Nachfolger ausbilden wollte?"
"Ich…"
"Sei endlich still. So lange habe ich auf diesen Tag gewartet. Glaubst du, ich habe all das getan, damit du ein großer Magier wirst? Ich habe deinen minderwertigen Körper und deinen tumben Geist geformt und die Hälfte meiner Magie auf dich übertragen und jeden Tag auf diesen Moment gewartet." Wahnsinn stand in seinen Augen, aber zum ersten Mal bemerkte David, dass sie nicht mehr so schwarz waren wie früher. Die Augäpfel waren von kranker, grauer Farbe und die Iris hatte einen dunklen Schlammton.
"Was bedeutet das, Meister?" David begriff nichts mehr. Er fühlte sich beinah wie noch zu der Zeit, in der er noch unwissend gewesen war.
"Du dummer Junge, hast du es noch nicht verstanden? Ich habe dich zu einem neuen Gefäß für mich gemacht. Dieser Körper verrottet und stirbt, aber ich habe die Macht mein Selbst und meine Magie in deinen zu übertragen, einen jungen, starken Körper."
David konnte nicht fassen, was der Zauberer da sagte. "Aber wieso habt Ihr mich dann all dies gelehrt und meinen Verstand gebildet?"
"Ich brauchte ein perfektes Gefäß. Dein tumbes Gehirn wäre gar nicht fähig gewesen mein Wissen und mein Selbst aufzunehmen, es musste trainiert werden und wenn dein Körper nicht daran gewöhnt worden wäre Magie zu verwenden, hätte meine Macht ihn verbrannt. Jetzt bist du bereit, endlich."
David war immer weiter zurückgewichen und stieß plötzlich an die raue Rinde eines großen Baums. Genau darauf schien der alte Magier gewartet zu haben, denn kaum hatte David den Stamm berührt, schossen die Hände des Magiers nach vorne. Magische Energie blitzte auf und Davids Arme wurden nach hinten gedrückt. Er wehrte sich nach Leibeskräften, konnte aber nicht verhindern, dass sich etwas um seine Handgelenke wandte und sich schmerzhaft zuzog. Dann schlängelte sich ein weiterer Strick um seine Füße. Er konnte sich nicht mehr rühren und war dem Magier komplett ausgeliefert.
Die Augen des Alten blitzten auf, ein irres Grinsen umspielte seine Lippen und seine Finger wanderten auf die Punkte an Davids Schläfen und Augen zu, über die er ihm immer schon die Magie übertragen hat. David warf den Kopf zur Seite, aber Wirald verstärkte seinen Griff nur noch. Seine Finger wurden heiß und brannten auf der Haut seines Lehrlings und Blitze tanzten vor seinen Augen.
Aber Wirald hatte ihm beigebracht seinen Verstand ruhig und logisch zu gebrauchen und so kämpfte er die Panik nieder. Könnte er nur seine Hände oder Füße gebrauchen, körperlich wäre er dem Magier überlegen. Er hatte seine Muskeln gestärkt durch Training und dadurch, dass er ab und an Hausarbeiten noch mit seinen Händen verrichtet hatte. Erst gestern Abend hatte er mit einer Axt das Kaminholz gespalten. Die Axt!
Er hatte sie nicht wieder in den Schuppen gebracht, sondern am Spaltblock liegen gelassen. Ohne auf den Magier zu achten, konzentrierte er seine Macht auf das Beil und ließ es mit einem Hieb auf seine Beinfesseln niedergehen. Seine Füße waren frei und mit aller Kraft trat er nach seinem Lehrherren. Wirald jaulte auf, fand aber recht schnell sein Gleichgewicht wieder.
"Du wagst es?" kreischte er.
David schaffte es, die Axt nun auch auf seine Handstricke zuzusteuern, aber Wirald hatte sich wieder gefangen. Das Beil entglitt Davids Kontrolle und nun zerrten beide Energien an der Waffe. Sie waren beinah gleichstark, aber eben nur beinah. David merkte, wie es sich Millimeterweise von den Stricken entfernte, der Zauberer würde ihn wieder fesseln und ein zweites Mal würde er nicht die Chance bekommen sich zu befreien. Er musste Wirald anders ablenken.
In diesem Moment kam ihm die rettende Idee. Er löste seine Macht so abrupt von der Waffe, dass Wirald schwankend zurückprallte. Stattdessen fokussierte er nun alle seine Reserven auf die Holzstücke, die neben dem Spaltblock lagen. Die Klötze schnellten auf den Magier zu und trafen ihn überall am Körper und am Kopf. Wirald verdrehte die Augen, stöhnte schmerzvoll und brach auf dem Boden zusammen. Ein dünnes Rinnsal Blut rann seine Stirn hinunter und bildete schnell eine Lache.
David fühlte sich ausgelaugt und müde, aber er mobilisierte noch einmal seine Kräfte um endlich die Handfesseln zu durchschneiden. Er hätte sich hinunter beugen und nachsehen müssen, ob der Alte noch lebte, aber er tat es nicht. Er wollte nur noch weg von hier.
Schwankend ging er ein paar Schritte. Seine Knie waren weich und ihm wurde immer wieder schwarz vor Augen. Aber er musste weg, er musste. Wie immer war der Himmel bedeckt und David sah sich um. Er hatte sich in all den Jahren nie darüber Gedanken gemacht, wo das Haus des Zauberers überhaupt lag und wie man von hier wegkam. Die Berge waren ihm nie so nah und so bedrohlich vorgekommen. Zu Fuß würde er es nie schaffen.
Er schleppte sich hinüber zum Stall, in dem das schwarze Pferd des Magiers stand. Zu Beginn seiner Lehrzeit hatte der Rappe ihn immer nur angefaucht, aber nach und nach hatte David mit kleinen Leckereien sein Vertrauen und seine Freundschaft gewonnen. Als er herausgefunden hatte, dass das Pferd keinen Namen hatte, hatte er ihn Nachtfell genannt, was diesem anscheinend gefallen hatte.
Nun begrüßte ihn das Pferd wie einen alten Freund, ließ sich ohne Murren aus dem Stall führen, sich satteln und David mit letzter Kraft aufsitzen. Schließlich verließen ihn doch die Energien, er krallte sich in die Mähne des Pferds, aber noch bevor es auf der staubigen Straße in einen ruhigen Trab verfallen war, war David bewusstlos geworden.

Jemand war bei ihm. Er lag auf einem einfachen Strohsack und hörte, wie eine Person durch den Raum ging. Noch fehlte ihm die Kraft um seine Augen zu öffnen, aber langsam funktionierte sein Kopf. Er erinnerte sich an Wirald und schreckte augenblicklich hoch. Aber es war nicht das Haus des Magiers, in dem er erwacht war. Er sah einfache Lehmwände, einen sauber gekehrten Boden und kleine Fenster, durch deren Pergament trübe das Sonnenlicht fiel. Alles kam ihm bekannt vor, sogar der Geruch, aber erst als er den Mann im Raum ansah, kehrte die Erinnerung mit einem Schlag zu ihm zurück.
Seine Bewegung hatte den anderen auf ihn aufmerksam gemacht. Nun kam er mit eiligen Schritten zu ihm herüber. Er war älter geworden, graue Strähnen durchzogen seinen Bart und Falten hatten sich tief um seine Augen gegraben. Aber es war eindeutig der Müller Bernhardt, sein Vater.
"Du bist erwacht. Wir dachten schon, du würdest gar nicht mehr zu dir kommen", sagte sein Vater und half David einen Schluck aus einem Tonbecher zu trinken. Es war ein herber Honigwein, der seine Lebensgeister wieder erweckte.
"Ich danke dir", antwortete er.
Aber in diesem Moment bemerkte sein Vater seine schwarzen Augen und wich ängstlich einen Schritt zurück. "Verzeiht, Herr. Ich wusste nicht, dass Ihr ein Magier seid. Ich fand keine Insignien der Gilde an Euch oder Eurem Pferd. Wenn ich gewusst hätte, ich hätte die Gilde verständigen lassen." Seine Stimme überschlug sich fast.
David fand die Energie sich aufzusetzen und die Hände seins Vaters zu ergreifen. "Beruhige dich. Erkennst du mich denn nicht. Ich bin es, Vater, David."
Sein Vater schien einen Moment zu brauchen, bis er seine Worte aufgenommen und verstanden hatte. Ungläubig starrte er seinen Sohn an.
"Ihr wollt David sein? Mein Sohn David?"
"Genau der."
"Aber David war klein und schwächlich, kein Herr und auch kein Magier."
"Erinnere dich an den Alten, der vor nun fast fünf Jahren zu uns zu Mühle kam. Er war ein Magier und formte mich zu einem." Vorerst wollte er seinem Vater die weiteren Details ersparen. Der einfache Mann würde dies sowieso nicht verstehen. Wenn schon er selbst es eigentlich nicht verstand.
Man konnte dem Müller ansehen, dass er zweifelte und nachdachte. Das war auch kein Wunder. Von Kindheit an hatte er Geschichten von den Magiern gehört, die sich einen Spaß daraus machten, einfache Menschen hereinzulegen und ihnen böse Streiche zu spielen. Natürlich glaubte er ihm nicht.
"Ich weiß, dass ich mich verändert habe, Vater, aber ich bin es. Nach Daniel, Andreas, Martin und Karl bin ich dein jüngster Sohn."
Er hatte gehofft, dass die Tatsache, dass er seine Brüder mit Namen nennen konnte, seinen Vater überzeugen würde, aber es schien nicht zu reichen.
"Zeige mir die Narbe, die mein Sohn seit seinem fünften Lebensjahr am Körper trug und ich will dir glauben."
Davids Mut sank. Der Zauberer hatte ihm seine Familie genommen und nun auch die Möglichkeit zu ihr zurückzukehren. Zauberei! Das konnte auch die Lösung sein. David konzentrierte seine Macht auf sein rechtes Bein, wo früher die Narbe gewesen war.
Als er nun seine Hose nach oben schob, ließ er unauffällig seine Hand über die Haut fahren und schon war die breite, verblasste Narbe wieder genau da, wo sie immer gewesen war.
Seinem Vater blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Dann fiel er seinem Sohn endlich um den Hals. Beide konnten die Tränen nicht mehr zurückhalten.
"Mein Sohn, mein lieber, geliebter Sohn", schluchzte sein Vater. "Ich fürchtete du wärst tot. Deine Brüder werden sich so freuen, dich wieder zu sehen."
David löste sich aus der Umarmung. "Vater, vielleicht wäre es gut, wenn es erst mal nicht bekannt werden würde, dass ich zurück bin. Ich habe nicht das Bedürfnis mit der Gilde in Kontakt zu kommen." Der Gedanke an die Magiergilde machte ihm Angst. Zweifellos wussten sie von dem, was Wirald mit ihm vorgehabt hatte. Vielleicht war es üblich und wahrscheinlich würden sie ihn mit diesem Wissen nicht am Leben lassen.
"Aber deine Brüder…"
"Sag auch ihnen bitte vorerst nichts. Du würdest sie in Gefahr bringen. Eigentlich wäre es besser, wenn ich euch so schnell wie möglich wieder verlassen würde."
Er erhob sich langsam von seinem Strohlager, aber sofort wurde ihm wieder schwindelig.
"So etwas will ich gar nicht hören. Gerade erst habe ich dich wieder bekommen und schon willst du wieder fort? Nein! Du bleibst bei uns."
David war so warm ums Herz als sein Vater dies aus voller Inbrunst sagte. Er wünschte sich, wieder hier zuhause zu sein und tief in ihm freute er sich über die Herzlichkeit.
"Aber was sagen wir deinen Brüdern und den Nachbarn, wer du bist?"
"Sag ihnen ich wäre ein durchreisender Geselle."
"Mit den Augen eines Magiers?"
Das war nun Davids geringstes Problem. Er hob seine Hand vor seine Augen und als er sie wegnahm, hatten sie seine Pupillen eine dunkelblaue Farbe angenommen. Es war ein sehr dunkles Blau, etwas Helleres brachte er nicht zu Stande. Eine ungewöhnliche Farbe, aber keiner der einfachen Leute würde bei ihr an die schwarzen Augen eines Magiers denken.
"Solche Dinge sind widernatürlich, David", mahnte sein Vater. Selbstverständlich dachte er so. Im Grunde seines Herzens war er abergläubisch und wusste kaum mehr von der Welt als das, was rund um die Mühle und den Ort geschah. Magie war für ihn etwas Böses, aber David würde ihm zeigen, dass sie genauso gut wie böse sein könnte.
"Mattis, Vater. Nenn mich von nun an Mattis."

"Wozu brauchen wir noch einen Gesellen, Vater? Nur ein zusätzlicher Esser, aber keine Hand, die wir brauchen." Martin war nicht gerade begeistert als sein Vater beim Abendessen verkündete, dass Mattis in nächster Zeit mithelfen würde.
Davids älteste Brüder, Daniel und Andreas, lebten inzwischen nicht mehr in der Mühle. Beide hatten geheiratet und waren mit ihren Frauen in deren Haushalte gegangen. Seither war Martin nun der älteste Müllersohn und spielte sich in dieser Rolle sehr auf. Er kam David noch größer vor als in seiner Jugend. Obwohl Martin nur zwei Jahre älter war als David wirkte er verlebt, sein Haaransatz war höher geworden und er hatte einen rundlichen Bierbauch angesetzt.
"Aber, Martin, Papa hat doch entschieden…" Karl schien nicht ganz so abgeneigt zu sein. Der zweitjüngste der Familie traf also immer noch keine eigenen Entscheidungen, sondern hielt sich an das, was man ihm sagte.
Doch Martin unterbrach ihn. "Wir schaffen die Arbeit hier. Kein Problem. Ich sage, wir brauchen ihn nicht."
"Und ich sage, er bleibt und Schluss", sprach sein Vater ein Machtwort.
David fühlte sich unwohl, weil er sich wie ein Fremder in seinem eigenen Heim vorkam. Kurz wünschte er sich, seinen Brüdern sagen zu können, wer er wirklich war, aber damit brachte er sich und seine Familie in Gefahr. Schon früher hatte Martin gern aufgeschnitten und Karl war ebenso einfältig, wie er selbst es einst gewesen war. Er war sich einfach nicht sicher, ob sie es für sich behalten konnten.
"Was hast du gelernt?" wandte sich Martin nun an ihn, es klang resignierend. Er wagte es also immer noch nicht seinem Vater zu widersprechen.
"Ich kenne die Arbeit in der Mühle, ich bin in einer wie dieser aufgewachsen", antwortete er ausweichend.
"Dann komm mit und beweise es", forderte Martin, erhob sich und ging aus der Stube.
David blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen und sogar Karl und sein Vater standen auf und kamen ihnen nach. Schnurstracks war Martin auf die Mühle zugestampft, neben der wie fast immer eine ganze Reihe Mehlsäcke lagen.
"Wer hier arbeiten will, muss zupacken können", erklärte er.
David wusste, was er nun vorhatte. Schon früher hatten seine Brüder ihn so auf die Probe gestellt, nur hatte er als Junge dabei immer verloren. Eilig bemühte er sich festen Stand zu finden, denn schon flog der erste pralle Mehlsack auf ihn zu, eine Spur aus Staub hinter sich herziehend. Es fiel ihm nicht schwer ihn aufzufangen und dabei auch noch stehen zu bleiben. Wie oft war er bei diesem Spiel unter dem Sack zusammengebrochen und so das Ziel des Spotts seiner Brüder geworden. Dieses Mal nicht, denn er blieb sogar stehen, als Martin ihm einen zweiten auflud.
"Wo willst du sie hinhaben, Martin?" fragte er nach einer Weile. Martin starrte ihn aus großen Augen an, denn nur Daniel und Karl hatten es früher geschafft mit zwei Säcken so lange stehen zu bleiben.
Davids Vater brach plötzlich in Gelächter aus. Er musste sich daran erinnern, wie sein Sohn früher bei dieser Probe versagt hatte. Anerkennend schlug er David mit seiner riesigen Hand auf die Schulter, so dass er beinah trotz allem noch das Gleichgewicht verloren hätte.
"Siehst du Martin, er ist eine Bereicherung für uns."

David fühlte sich glücklich. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeitete er Seite an Seite mit seinen Brüdern und seinem Vater. Das war alles so anders geworden und hätte er nicht noch immer über seine Magie verfügt, er hätte geglaubt, dass sein Leben bei Wirald nur ein Albtraum gewesen war. Noch immer fiel es ihm manchmal schwer die Dinge wieder mit seinen Händen zu erledigen. Der Magier hatte ihn doch immer genötigt auch die einfachsten Dinge durch Zauberei geschehen zu lassen. Ihn schauderte bei dem Gedanken, wieso er das alles getan hatte. Aber der Schrecken war vorbei und es wurde Zeit für ihn darüber nachzudenken, wie er sein Leben weiterführen wollte. Aber er schob die Entscheidung immer weiter vor sich her.
Sehr zu Martins Unwillen hatte ihm sein Vater die Führung der Bücher überlassen und er hatte sogar ein paar Ideen gehabt, wie der Müller seinen Gewinn erhöhen konnte. Blieb die Frage, ob seine Zukunft tatsächlich in der Mühle lag.
Abends fiel er müde auf sein Lager und schlief sofort ein.
"Undankbarer Lump!" Er hörte eine Stimme, konnte aber nichts und niemanden sehen. "So dankst du mir, was ich für dich getan habe."
David wurde klar, dass er träumte und dass die Stimme Wirald gehörte, auch wenn er den alten Magier nicht sehen konnte.
"Ihr habt nichts für mich getan, Ihr wolltet mich vernichten", entgegnete er.
"Ich habe dich geschaffen, du gehörst mir."
Um ihn herum zogen Nebel auf und daraus trat eine Gestalt hervor, die einen langen, pechschwarzen Mantel mit Kapuze trug. Sofort wusste er, dass es Wirald war.
"Ich gehöre mir!"
"Schweig und gib mir, was mir zusteht!"
"Ihr seid tot. Ihr braucht keinen Körper mehr."
"Tot? Du denkst also, dass du mich vernichten könntest. Ich gab dir zwar die Hälfte meiner Macht, aber dennoch bist du ein Nichts. Du kannst mich nicht vernichten. Ich werde dich finden und mir nehmen, was mein ist." Mit diesen Worten griff er den Rand seiner Kapuze und strich sie nach unten. Aber statt des alten, faltigen Gesichts des Zauberers, blickte David in sein eigenes Gesicht, verzogen zu einer grinsenden Fratze mit bodenlosen, schwarzen Augen.
David schrie vor Angst und erwachte. Er war wieder in seiner Kammer und der helle Vollmond erleuchtete spärlich den Raum. Seine Haut war feucht von Schweiß und sein Atem ging nur stoßweise. Er versuchte sich zu beruhigen, dass er nur geträumt hatte, aber etwas in ihm war sicher, dass es tatsächlich Wirald gewesen war. Entgegen jeder Hoffnung hatte der Alte den Kampf überlebt und sann nun auf Rache. Der Magier hatte ihn gewarnt, er würde ihn finden.
Die Wände der kleinen Kammer drohten ihn zu ersticken. David schlüpfte in seine Schuhe und hinaus in den Garten. Die kalte Nachtluft half ihm wieder klar zu denken. Aber immer noch fand er keine Lösung. Was sollte er tun? Wenn Wirald tatsächlich noch lebte, war seine Familie hier in Gefahr, wenn er blieb. Aber war sie das nicht auch, wenn er sie jetzt schutzlos allein ließ? Vielleicht sollte er sich doch an die Gilde der Magier wenden. Es war doch möglich, dass ihm die anderen Zauberer gegen Wirald halfen. Nur müsste er sich ihnen dafür offenbaren und damit Gefahr laufen, dass er damit doch in die Fänge seines ehemaligen Meisters geriet. Derzeit saß er in einer Zwickmühle.
"Kannst wohl nicht schlafen, Mattis?" fragte eine barsche Stimme aus dem Schatten.
Etwas glomm auf und dann trat Martin ins Mondlicht, eine seiner stinkenden Zigarren hing in seinem Mundwinkel. David erinnerte sich, dass er die Dinger selbst drehte. Nur die Göttin allein wusste, welches Zeug er hineintat.
"Nur ein kleiner Albtraum", wiegelte David ab, er wollte nicht darüber reden.
Martin musterte ihn. "Papa sagt immer, dass einem was auf der Seele brennt, wenn man Albträume hat. Was brennt auf deiner Seele, Mattis?" Besorgt klang es jedenfalls nicht.
"Nichts. Gar nichts."
Langsam kam Martin auf ihn zu und presste ihm seinen Finger gegen die Brust. "Hör mir mal zu, ich mag dich nicht und ich weiß, dass du etwas Schlimmes in unser Haus bringst. Gefährdest du meine Familie oder meine Mühle, dann mache ich dich fertig. Kapiert?"
"Ich bringe euch nicht in Gefahr", erklärte David. Er wünschte sich genauso sicher dabei zu sein. "Ich kann euch vielleicht sogar beschützen."
"Beschützen? Dafür brauchen wir dich nicht. Dafür hat Papa mich und meine Brüder. Du bist unerwünscht. Hau einfach ab!"
"Du weißt gar nicht, was du da sagst und vor allem weißt du nicht, welche Gefahr euch droht."
"Dann sag es mir, Mattis. Du bist doch so schlau."
"Wieso dir etwas sagen, wovon du sowieso nichts verstehst?" Er würde alles tun um die Familie zu schützen und dabei vermutlich etwas sehr Dummes tun. Drohend funkelte David ihn an und ließ ihn dann stehen.
Wahrscheinlich hätte er besser daran getan daran zu denken, dass seine Augen ohne sein magisches Zutun fast schwarz waren, wie die aller Magier.

Martin hatte die Fahrten der Familie nach Losa immer gemocht. Alle halbe Jahre zogen sie ihre guten Sachen an, spannten den Karren an und fuhren gemeinsam in die nahe Stadt zum Markt. So viel Spaß hatte Martin sonst das ganze Jahr nicht und besonders sah er Daniel und Andreas wieder, die mit ihren Familien in Losa lebten.
Aber wie fast alles in letzter Zeit ruinierte Mattis seine gute Stimmung. Der Fremde hatte sich in seine Familie geschlichen und wenn man ihn fragte, seinen Vater verhext. Der alte Müller benahm sich seltsam seit Mattis da war, er hatte noch nie einen fremden Lehrling gebraucht und auch nie gewollt, aber seit dem Tag als er auf seinem teuren, unheimlichen Rappen an der Mühle angekommen war, war alles falsch gelaufen. Sein Vater ließ ihn die Rechnungsbücher führen und inzwischen sogar die Verhandlungen mit den Bauern. Er vertraute ihm und hatte keinen Grund dafür.
Martin hatte die ganze Zeit schon vermutet, dass irgendetwas mit Mattis nicht stimmte, aber seit der Nacht im Garten wusste er es genau: Mattis war ein Magier und hatte seinen Vater behext. So sehr, dass der ihn sogar mit in die Stadt genommen hatte.
Anscheinend hatte er auch Karl schon unter seinem Bann, denn als Martin seinem kleinen Bruder von seinem Verdacht erzählt hatte, hatte Karl nur gesagt: "Ich mag Mattis." Er brauchte einen Beweis.
Kaum hatten sie das Stadttor passiert, hatte der Müller seinen Söhnen und Mattis die Erlaubnis gegeben, sich bis zum Mittag frei in den belebten Straßen zu bewegen. Erst hatte Martin auch so getan, als wenn er diese Freiheit auch ausnutzen würde, sich aber dann unsichtbar an Mattis’ Fersen gehängt.
Eine Weile war der andere einfach nur durch die Straßen gestreift und dabei von Stand zu Stand gewandert. Durch nichts machte er sich verdächtig. Er war gerissener als Martin gedacht hatte.
Am Rande des Marktes blieb er schließlich stehen und beobachtete eine Weile einen Stand. Sehr interessiert betrachtete er die Waren und vor allem den feisten Mann, der hinter diesen thronte. Er stopfte mit den Fingern Teile eines undefinierbaren Fleisches in den Mund, Fett lief seine Finger hinunter und tropfte auf sein Wams und seine Hosen. Trotzdem schaffte er es, nebenbei den Leuten die verschiedensten Tiegel und Fläschchen anzudrehen. Mattis sprach ihn an und Martin musste sich näher heranschleichen um mitzubekommen, was da gesagt wurde.
"…und das ist?" fragte Mattis gerade und deute auf eine Tonflasche.
"Steht doch drauf, Junge. Das hilft bei Ohrenschmerzen, Zahnschmerzen und gegen alle anderen Zipperlein."
"Darf ich?" Ohne auf Antwort zu warten, zog Mattis den Stöpsel aus der Flasche und schnupperte an dem Inhalt. Dann verzog er angewidert das Gesicht. "Das riecht wie Kuhpisse", stieß er hervor.
"Was weißt du von magischen Heiltränken?"
"Magisch? Wenn man davon nicht erst krank wird, wäre das pure Magie", erklärte er mit fester Stimme.
Das war doch der Beweis, dass er ein Magier war. Woher sollte er sonst solche Dinge wissen? Martin schob sich noch etwas näher um nichts zu verpassen.
Mattis drehte in diesem Moment die Flasche um und kippte den stinkenden Inhalt in die Gosse. Der feiste Verkäufer sprang entsetzt auf.
"Was machst du da? Lass das sofort sein, du Lump."
Das beeindruckte den frechen Kerl natürlich kein bisschen. Erst als die Flasche leer war, stellte er sie an seinen Platz zurück.
"Das bezahlst du mir, oder sonst…"
"Sonst? Selbst wenn das Zeug auch nur einen Pfennig wert wäre, du hättest dir schon das 20fache bei den Leuten in die Tasche gehamstert, die vor mir hier waren."
"Du unverschämter… Ich werde dich…" Das Gesicht des Mannes wurde rot vor Wut und er angelte nach einem knotigen Stock, der neben ihm an der Mauer gelehnt hatte und schwang ihn nach Mattis.
Der blieb außergewöhnlich ruhig, hob nur die Hand, woraufhin der Stock einfach durchbrach. Dann drehte er sich um und ließ den Mann stehen.
"Ich rufe die Wache!" drohte der Verkäufer.
Mattis hatte sich nicht noch einmal umgedreht, aber Martin sah, dass er kurz seine Hand auf den Stand richtete. Mit einem lauten Klirren platzten nacheinander alle Tiegel und Flaschen. Eine stinkende Lache ergoss sich über den Stand und schließlich auf den Boden.
"Verdien dein Geld lieber mit ehrlicher Arbeit", sagte er nur noch, dann verschwand er zwischen den Ständen. Der fluchende Verkäufer blieb zurück und Martin auch. Er hatte genug gesehen.

Eigentlich war David von sich selbst enttäuscht. Er hatte unauffällig bleiben wollen, aber der Verkäufer hatte ihn wütend gemacht. Obwohl es gar nicht nur der Verkäufer gewesen war, der Mann hatte nur den letzten Tropfen bedeutet, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Im Grunde waren es mehrere Dinge. Seit Wochen ließ ihn Wirald nicht richtig schlafen, sondern quälte ihn mit Albträumen. Er hatte gehofft von dem Händler einen Kräutertrunk gegen die Träume zu bekommen. Sein Meister hatte ihn nie gelehrt Zaubertränke zuzubereiten. Es war ja auch gar nicht nötig gewesen in Wiralds Plänen. Dazu kam die Feindseligkeit, die ihm Martin immer offener gegenüber zeigte. Vielleicht sollte er ihm endlich sagen, dass er vor ihm nichts zu befürchten hatte. Er hatte sich gehen lassen und konnte nur hoffen, dass er deswegen keine Folgen fürchten musste.
Da es schon beinah Mittag war, ging er langsam zu dem Gasthaus zurück, in dem er seinen Vater, Martin, Karl und zum ersten Mal Daniel, Andreas und ihre Familien treffen würde. Ein paar Mal atmete er tief durch und versuchte sich wieder zu beruhigen. Er war nervös wie seine älteren Brüder auf ihn reagieren würden. Mit Karl verstand er sich inzwischen ganz gut, aber es war eine Distanz zwischen ihnen, die er wohl nie wieder schließen könnte.
Die Gaststube war voller Menschen, rauchige, verbrauchte Luft quoll aus der Tür, als David sie öffnete. Im Zwielicht fiel es ihm sehr schwer, seine Familie zu finden, die einen Tisch in einer Nische besetzt hatte. Daniel und Andreas waren zwei stattliche Männer, wobei der ältere schon dünneres Haar bekommen hatte. In Andreas’ Gesicht gab es eine lange Narbe quer über sein Gesicht. Hinter den beiden saßen zwei hübsche Frauen – Daniels Frau Miranda und Andreas’ Frau Estella –, die eine war schwanger, die andere hatte ein Kind auf dem Arm und ein zweites neben sich sitzen. Alle sieben Erwachsenen waren in eine so heftige Diskussion verwickelt, dass niemand sein Eintreffen bemerkte.
"Halte deinen Mund, Martin", sagte Davids Vater nicht gerade freundlich.
"Vater, ich sage dir…", begann Martin.
"Du hast doch Papa gehört", unterbrach ihn Daniel mit seiner ruhigen, tiefen Stimme.
Karl bemerkte, dass David etwas abseits stand und nicht so recht wusste, wie er reagieren sollte.
"Papa, Mattis ist da", machte er die anderen auf ihn aufmerksam.
Alle Gesichter wandten sich ihm zu. Nur Karl lächelte, sein Vater wirkte müde und aus Martins Augen blickte ihm pure Feindseligkeit entgegen. Alle anderen musterten ihn mit Neugier. Keiner sagte etwas.
"Das ist also Mattis", brach Daniel das Schweigen und machte keinen Hehl daraus, dass er David unverhohlen anstarrte.
"Du musst Daniel sein", antworte David. Er wollte sich sein Unbehagen nicht ansehen lassen.
"Lass dich von seiner Freundlichkeit nicht einwickeln", warnte Martin seinen Bruder.
"Hör endlich auf, Martin, du machst dich lächerlich", warf sein Vater ein.
"Nein, Vater. Du musst doch merken, dass er dich verhext hat. Er ist ein Magier, ein böser Magier."
"Ich habe niemanden behext", verteidigte sich David.
"Und was war mit dem Händler?"
David merkte, dass ihm das Blut in die Wangen stieg. "Ich weiß nicht, wovon du redest."
"Lügner!"
"Sag die Wahrheit, Bursche", forderte ihn Daniel auf.
"Er braucht euch gar nichts zu sagen. Es reicht, wenn ich weiß, wer er ist", unterbrach sein Vater.
"Bist du dir sicher, dass er kein Magier ist, Vater?" wollte nun Andreas wissen.
Sein Vater setzte zu einer Antwort an, aber David unterbrach ihn. Er war die Geheimnisse leid. Er wollte wieder Teil dieser Familie sein und nicht ein Störfaktor. Er bat die Frauen und die Kinder sie einen Moment allein zu lassen. Sollten Daniel und Andreas doch entscheiden, ob sie ihre Familien in diese Dinge einbezogen. Als sie den Raum verlassen hatten, errichtete er eine unsichtbare Wand. So würde niemand mithören oder sie stören können.
"Er hat uns eingesperrt", beschwerte sich Martin.
"Lass ihn reden und halt deine vorlaute Klappe", mahnte sein Vater.
Martin verschränkte beleidigt die Arme und lehnte sich erwartungsvoll zurück.
David begann langsam, er war aufgeregt wie nie zuvor. Wie würden ihn seine Brüder aufnehmen?
"Ich muss euch sagen, dass Martin Recht hat. Ich bin ein Magier."
Karl riss erschrocken die Augen auf und machte ein kleines, abergläubisches Zeichen zur Abwehr des Bösen. In Martins Gesicht erschien ein breites zufriedenes Lächeln, aber wenigstens sagte er nichts. Seine anderen beiden Brüder sahen ihn versteinert an.
"Ihr habt vor mir nichts zu befürchten", versicherte David Karl eilig. "Ich würde euch nie etwas tun."
"Aber was willst du dann von uns?" fragte Andreas. "Wir sind nur einfache Leute. Niemand, der einen Magier interessieren könnte."
"Und doch seid ihr das Wichtigste auf der Welt für mich. Ihr seid meine Familie."
"Was?" Daniel sah ernsthaft erstaunt aus.
"Lügner. Alles nur ein Trick!" schrie Martin auf.
"Wie meinst du das?" wollte Andreas wissen.
Nur Karl hatte nichts gesagt. Er starrte David immer noch aus weit aufgerissenen Augen an. "David", flüsterte er.
Nun ruhten alle Augen auf ihm. Sogar David und sein Vater waren erstaunt.
"Was sagst du da?" fuhr Martin ihn an. "David ist tot."
"Nein, er hat Recht. Gott hat uns unseren David zurück geschickt." Sein Vater sah ihn voller Liebe an, in seinen Augen standen Tränen.
"Vater, du träumst! Er sieht David nicht einmal ähnlich", mahnte Martin und Andreas stimmte zu.
David atmete tief durch. "Das ist auch ein Teil meiner Ausbildung zum Magier", wich er aus. "Glaubt mir einfach, ich bin euer Bruder David."
"Und er hat die Narbe, Davids Narbe", ergänzte sein Vater. Das hätte er besser nicht getan.
Bevor er reagieren konnte, hatte Martin ihm das Hosenbein hochgerissen. Es war zu spät. Er sah es in den Augen seines Vaters.
"Vater, lass es mich erklären…", flehte er.
Ungläubig strich sein Vater über die makellose Haut. "Da ist keine Narbe und da war nie eine", sagte er tonlos.
"Doch Vater, ich…"
Martins Faust krachte in seinen Magen bevor er den Satz beenden konnte und raubte ihm die Luft. Mehrere Tritte folgten. "Halt den Rand, du Betrüger! Du kannst nichts mehr bei uns ausrichten. Jedes Kind weiß, dass ihr machtlos seid, wenn man eure Tricks durchschaut."
Nein, so beruhigte man nur Kinder. Aber die Wahrheit war, dass David in diesem Moment wehrlos war. Etwas in den Augen seines Vaters war zerbrochen, kalt und gefühllos geworden. Er konnte nichts tun als immer wieder zu betteln: "Vater! Vater!"
Der alte Müller warf einen letzten Blick auf ihn und stand auf. "Ich will nach Hause, Andreas", sagte er und stützte sich auf seinen Sohn. Er sah aus, als wäre er um Jahre gealtert.
"Abschaum!" spie Daniel ihm entgegen und spuckte sogar noch auf ihn. Dann gingen sie.
"Nein, Vater, ich…" schrie David auf. Tränen der Verzweiflung brannten in seinen Augen.
"Bist du mein Bruder oder nicht?" fragte plötzlich jemand hinter ihm. Er hatte gar nicht gemerkt, dass Karl geblieben war. Reglos saß er auf seinem Stuhl, die breiten Lippen zu einem Strich zusammengepresst.
"Was nützt es, wenn ich jetzt ja sage?"
"Dass du mir die Wahrheit sagen würdest", entgegnete Karl.
David rappelte sich hoch. Dank seiner Konstitution taten die körperlichen Blessuren kaum noch weh. "Dann würdest du mir glauben, Karl?" fragte er verwirrt.
"Ich gebe dir die Gelegenheit es zu versuchen. Sag mir, woher du die Narbe hattest?"
"Ich war unvorsichtig beim Holzhacken im Wald als ich fünf war", gab er die Antwort, die er immer gegeben hatte.
"Das haben wir Papa erzählt. Sag mir die Wahrheit oder ich gehe!"
David stockte. Er hätte nun lügen können, um Karl zu schützen. Sein Bruder hätte sich abgewandt wie der Rest seiner Familie, aber die Wahrheit war, dass er es nicht ertragen hätte.
Fast tonlos und ohne sein Zutun begann er zu berichten. "Wir waren im Wald, du, Andreas, Martin und ich. Daniel war bei Papa in der Mühle geblieben. Ihr habt den Baum geschlagen, ich habe Reisig und Äste gesammelt. Da fing Martin an zu prahlen, dass er die Axt genauso gut und zielsicher werfen könnte, wie die Gaukler auf dem Markt. Andreas hat ihm nicht geglaubt. Irgendwann haben sie gewettet. Anfangs hat Martin alle Ziele getroffen und da kamen sie auf die Idee mich als Zielscheibe zu verwenden." Die Erinnerung hatte ihn immer geschmerzt. Die Schneide hatte sich tief in sein Fleisch gebohrt und er hatte geschrien vor Qualen, fest davon überzeugt das Bein verloren zu haben. Jetzt sah er den erstaunten Blick seines Bruders.
"Du bist es!" stieß Karl hervor und schloss ihn in seine kräftigen Arme, so dass ihm beinah die Luft wegblieb. "Das müssen wir den anderen sagen."
David löste sich aus der Umarmung. "Sie würden es nicht glauben. Sie würden denken, du hättest dich von mir verhexen lassen."
"Aber jeder weiß doch, dass man Dumme nicht verhexen kann", lachte Karl.
David konnte es nicht verhindern, dass sich ein erleichtertes Lächeln auf seine Züge schlich.
"Bitte, erzähl mir, was dir geschehen ist", bat Karl.
Er wusste, dass er es nicht sollte, aber das Band zwischen ihm und seinem älteren Bruder war noch so dünn, so frisch. Es würde Geheimnisse nicht aushalten. Also berichtete er von Wirald, von seiner Ausbildung und seiner Verwandlung und dieses Mal ließ er den Verrat seines Meisters nicht aus.
Wieder machte Karl ein Zeichen zur Abwehr des Bösen, aber dieses Mal war es gegen Wirald gerichtet.
"Ich fürchte sogar, dass ich ihm nun etwas ähnele", beendete David seine Erzählung.
"Kannst du nicht einfach machen, dass du wieder so aussiehst wie früher? Dann würden Papa, Daniel, Andreas und Martin dir sicher glauben", schlug Karl vor.
Langsam schüttelte David den Kopf. "Ich kann nichts ändern, was geschehen ist." Zum Beweis strich er mit der Hand an seinem Gesicht vorbei. Seine Züge wurden wieder wie sie mit fünfzehn gewesen waren, vor Wirald.
"Genau das meine ich", freute sich Karl.
"Magie ist mehr Schein als Sein", entgegnete David und ließ die Illusion wieder fallen. "Ich könnte wieder so aussehen, aber das bin ich nicht mehr. Verzweifelt griff er ein scharfes Messer vom Tisch und zog es dort über sein Bein, wo die Narbe gewesen war.
"David!" schrie Karl auf.
Aber das Blut versiegte, die Haut zog sich zusammen und heilte als wäre nichts geschehen. "Siehst du, nichts kann ich ändern", sagte er verbittert.
Karl starrte auf die nun wieder makellose Haut. "Allein vielleicht nichts, aber du bist nicht mehr allein. Dein großer Bruder wird dir von nun an helfen, ob du willst oder nicht."

Wirald stapfte durch den Schlamm der Gassen. Sein Ischias machte ihm zu schaffen, die Gicht brannte in seinen Fingern und das feuchte Wetter schmerzte in jedem seiner alten Knochen. Es war nicht richtig. Ein mächtiger Mann wie er sollte nicht alt sein müssen, er sollte den kräftigen Körper eines jungen Mannes haben und nicht die vermodernde Hülle eines Greises.
Wie er den Jungen hasste. Mit jeder Faser verabscheute er diesen einfältigen Tropf. Er hatte Dankbarkeit erwartet. Nicht jeder bekam die Gelegenheit seinen Körper einem der machtvollsten Magier der Welt zu überlassen und immerhin hatte er ihm fast fünf Jahre in einer gesunden und vor Kraft strotzenden Hülle und noch dazu die reinste Magie geschenkt. Wiralds Emotionen gingen weit über Wut und Empörung hinaus.
Mühsam schleppte er sich durch die Gassen und war schon völlig durchnässt, als er an eine schwere, hölzerne Tür trat.
Es war der letzte Ausweg sich an die Gilde zu wenden. Magier waren ungesellige Menschen. Der König hatte die Gründung der Gilde verlangt um den einfachen Bürgern das Gefühl zu geben, sie hätten irgendetwas zu sagen. Dabei hatten sie sich selbstverständlich nicht in Dinge einzumischen, die die Magie betrafen. Und auch die Gilde mischte sich normalerweise nie ungefragt in die Belange einzelner Magier ein.
Aber jetzt brauchte Wirald Hilfe und dafür war dieser unnütze Verein doch hoffentlich zu gebrauchen. Gerade hob er die Hand um zu klopfen, als auf der Straße eine kleine Gruppe Bauern vorbeiging. Normalerweise hätte er ihr belangloses Gerede ignoriert, aber in diesem Moment sagte einer von ihnen das Schlüsselwort: David!
"Hör auf mit deinem: Ich habe es doch gewusst", zürnte einer der jungen Männer einen anderen an.
"Mein David ist tot", jammerte der älteste der Gruppe und stützte sich schwer auf den dritten jungen Mann. "Wie konnte mich dieser Mistkerl so hereinlegen?"
"Du konntest nichts dafür, Vater. Er hat dich verhext. Sei froh, dass wir ihn enttarnt haben."
"Und wenn es doch David war? Karl war so sicher. Ihr habt gesehen, was er mit seinen Augen tun konnte. Vielleicht hat er auch seine Narbe…"
"Hör auf, Vater. Wir sollten Beschwerde bei der Gilde einlegen."
"Das würde ich nicht tun, wenn ich ihr wäre", mischte sich Wirald ein. Er hatte seine Augen weiß werden lassen, als wäre er blind und stützte sich mehr als er musste auf seinen Stock. "Entschuldigt, dass ich mitgehört habe. Ihr hattet Probleme mit einem bösen Magier?"
Die vier Männer sahen ihn erstaunt an, aber sie sahen, was sie sehen sollten, einen harmlosen Alten.
"Was geht’s dich an?" fragte der eine wenig freundlich.
"Nichts. Ich fürchtete nur aus den wenigen Fetzen, dass wir dem gleichen Spötter zum Opfer gefallen sind. Ich wollte eben Beschwerde einlegen, aber die Gilde kümmern einfache Leute wie wir nicht."
"Vor vielen Jahren wurde mir der Sohn und den Jungen der Bruder genommen. David hieß er. Dann tauchte vor einem Monat ein verletzter Reiter auf und behauptete mein Sohn zu sein. Wir mussten erkennen, dass man uns narrte", berichtet der Vater.

Karl schlief nicht. Es gab viel zu viel worüber er nachzudenken hatte und alleine schon die Tatsache, dass er grübeln musste, verschaffte ihm Kopfweh. All die Dinge, die David ihm erzählt hatte, das plötzliche Auftauchen seines Bruders und die Reaktion seiner Familie, das war alles viel zu viel für ihn. Er zweifelte keine Minute an dem, was David berichtet hatte. Karl hatte früh gelernt, dass er kein intelligenter Mann war und vertraute deshalb auf sein Bauchgefühl.
Ganz abgesehen davon, war dies eine der ersten Nächte, in der er nicht in der Mühle auf seinem bequemen Strohlager schlafen sollte. Da David völlig erschöpft gewesen war und Karl sich geweigert hatte, ihn alleine zu lassen, hatte er alles versucht, ein Zimmer in dem Gasthof für sie beide zu bekommen. Die große Schlafstube war wegen des Marktes völlig überfüllt gewesen und ein Gastzimmer hätten sie sich eigentlich nicht leisten können. Aber dann hatte David eine seiner Kupfermünzen genommen und ein paar Sekunden später, dem erstaunten Wirt eine silberne unter die Nase gehalten. Sofort hatten sie dieses schöne, saubere Zimmer unter dem Dach des Hauses bekommen. Karl war sich nicht sicher, ob es nicht Diebstahl war, was sie hier taten. Mit David hatte er nicht mehr darüber reden können, denn der war sofort eingeschlafen, als sie die Kammer erreicht hatten.
Und das war auch der dritte Grund, weshalb Karl gar nicht an Schlafen denken konnte: David warf sich stöhnend die ganze Zeit von einer Seite auf die andere. Seine Haut war schweißnass, aber Karl wagte es gar nicht ihn zu wecken.
"Nein, Wirald. Nein!" schrie David.
Gerade überlegte Karl, ob es eine gute Idee war, einen Magier aus einem Albtraum zu wecken, als es heftig an der Tür des Zimmers klopfte. David wurde davon nicht wach, so entzündete Karl den Kerzenstumpen neben dem Bett und beeilte sich zu öffnen. Aber schon klopfte es erneut.
Er brauchte einen Moment um sie zu erkennen. Es war seine Schwägerin Estella. Andreas’ Frau atmete schwer und aufgeregt, ihre Augen waren gerötet und einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Knoten gelöst.
"Karl, sind sie hier?" stieß sie hervor.
"Wer?"
"Andreas. Euer Vater. Daniel. Martin."
"Die sind schon vor Stunden gegangen", erklärte er. Aber er spürte die Angst in ihrer Stimme. "Sind sie denn nicht zu Hause?"
Sie schob sich neben ihm ins Zimmer. "Als ihr uns weggeschickt habt, haben wir in unserem Haus auf euch gewartet, aber niemand kam. Da habe ich Miranda die Kinder gelassen und bin zur Mühle geritten, aber auch dort war niemand. Karl, was ist hier geschehen? Wo sind sie? Hat es was mit diesem Zauberer zu tun?" Langsam wurde es Panik.
Karl wusste nicht, was er sagen sollte. "David hat damit sicher nichts zu tun", begann er.
"Wo sind sie dann, Karl? Wieso bist du nicht bei ihnen?"
Einen Moment zögerte er. "Es gab… einen Streit. Ich… ich hielt es für besser, bei David zu bleiben."
"David?" Erst jetzt schien ihr klar zu werden, was er gesagt hatte. "Euer Bruder? Aber Andreas sagte, David wäre tot."
"Das wird jetzt zu kompliziert. Wir müssen herausfinden, wo Vater und die anderen sind."
"Ich weiß, was mit ihnen geschehen ist." Davids Stimme klang trocken und gehetzt.
Estella war mit zwei Schritten bei ihm und packte mit ihren groben Händen seine Schultern. "Dann schnell, sag es mir", bettelte sie.
"Sie sind in Gefahr", antwortete er langsam. "Aber ich werde sie retten. Er will mich, nicht sie."
"NEIN!" Verzweifelt begann sie ihn mit ihren Fäusten zu bearbeiten. "Verdammt, Martin hatte Recht. Du bringst das Böse in diese Familie."
Karl riss sie von ihm weg. David hatte sich keinen Zentimeter gerührt. Er hatte, er will mich gesagt und Karl fröstelte, als er erkannte, dass er von dem Magier Wirald gesprochen haben musste. "Hör auf. Nur er kann sie retten."
"Ja, das kann ich." David klang plötzlich entschlossen und voller Tatendrang. Er griff nach seinem Mantel und war schon zur Tür hinaus.
Nur mit Mühe schaffte es Karl ihm zu folgen. Wie sein Bruder ignorierte er Estellas verzweifelte Versuche sie aufzuhalten.

Die Mühle lag still da und nur das Mühlrad und der Bach vollführten ihren ewigen Tanz. Alles war finster und auch keins der Fenster zeigte Licht. Dennoch war David ganz sicher, dass er sowohl Wirald als auch seine Familie hier finden würde. Fast kam er sich albern vor, dass er sich anschlich, denn der Magier hatte ihm im Traum quasi eingeladen und das Geschäft hatte er auch genannt: das Leben seiner Familie gegen sein eigenes.
"Bist du sicher, dass du ihn besiegen kannst?" fragte Karl neben ihm.
Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn sein Bruder bei den beiden Frauen und dem Kind geblieben wäre, aber Karl hatte sich nicht abwimmeln lassen. Er kauerte neben ihm hinter der Hecke, wie sie sich als Kind schon dort versteckt hatten. Verzweifelt versuchte er etwas im Dunklen zu sehen. Aber natürlich konnte er nicht das magische Siegel sehen, das die Eingangstür des Wohnhauses versperrte. Zudem hatte Wirald einen Zauber um das Haus gelegt. In dem Moment, in dem sie den Hof betraten, er würde es wissen.
"Ja, ich werde hineingehen und Papa und die anderen retten." Er hatte keine Chance gegen Wirald, aber er musste es Karl ja nicht sagen, dass er sich ergeben würde. Sein Körper gegen seine Familie. Karl würde es nicht verstehen und vor allem würde der großherzige Mann ihn nicht gehen lassen. "Aber du musst mir versprechen, dich nicht sehen zu lassen. Er weiß nichts von dir und du könntest unser Trumpf sein."
"Aber David, wenn er so mächtig ist, wie du sagst. Vielleicht solltest du doch in der Gilde um Hilfe fragen."
Um sich dann eventuell noch mehr Gegnern gegenüber zu sehen. Statt zu antworten, erhob sich David aus der unbequemen Hockstellung. "Egal, wie das hier endet, bring unsere Familie in Sicherheit." Es war ein Abschied.
Ohne noch einmal zurück zu sehen, ging er auf das Haus zu.
Das Innere des Gebäudes hatte sich verändert. Wie auch schon sein Heim, hatte Wirald das Mühlenhaus nach seinen Wünschen hergerichtet. Er thronte auf einem samtbezogenen Sessel und auch sein mit Köstlichkeiten gedeckter Tisch hatte den Weg hierher gefunden. Ein warmes Feuer brachte Licht und Wärme und warf zuckende Schatten an die Wände und auf das faltige Gesicht des Magiers.
"Ah, der Ehrengast ist da", freute sich Wirald. "Freut mich, dass du meiner Einladung gefolgt bist, David."
David ging nicht darauf ein, sondern untersuchte besorgt seine Familie. Sein Vater und seine drei Brüder standen dicht zusammen gedrängt und er erkannte die magische Barriere, die sie festhielt. Es musste den Magier viel Kraft kosten, deswegen stand er wohl auch nicht auf.
"Geht es euch gut?" fragte er.
"David, was tust du hier?" Sein Vater wirkte besorgt um ihn.
"Euch retten. Was sonst?"
"Du willst uns immer noch retten, nach allem was wir… was ich…" Zum ersten Mal war Martin verlegen. Es sollte David freuen, dass sie ihn endlich akzeptierten.
"Dafür hat man doch Brüder."
"Genug!" gebot Wirald ihnen Einhalt. "Ihr erspart euch besser eure Familienvereinigung, denn euer Bruder wird sowieso nicht mehr lange existieren. Das ist mein Körper, den er da mit sich herumträgt und es wird Zeit, dass ich ihn auch bekomme."
"Ja, es wird Zeit", bestätigte David.
"Ironisch, nicht wahr, David?" Wirald lächelte. "Als ich deine Familie traf, wollten sie sich gerade an die Gilde wenden. Hätten sie ihnen von meinen Plänen erzählt, sie hätten dich retten können." Der Magier brach in Lachen aus, das sich aber schnell in ein keuchendes Husten verwandelte.
"Das hätten sie gar nicht gekonnt", wandte David ein. "Sie wussten nichts von deinen Plänen." Er versuchte ruhig zu bleiben und dabei kam in ihm Verzweiflung hoch. Die Gilde! Dort hätte er Hilfe bekommen und keine weiteren Probleme. Er hatte es geahnt und Karl hatte es so oft vorgeschlagen, aber seine Angst hatte ihn davon abgehalten den einzigen Weg einzuschlagen, der seine Rettung bedeutet hätte.
"Lass meine Familie gehen", forderte er als er sich wieder unter Kontrolle hatte.
Wirald kämpfte gegen den Husten. "Was soll ich noch mit ihnen, wenn ich meinen Besitz habe? Aber wenn ich sie jetzt gehen lasse, kommst du vielleicht doch noch auf dumme Gedanken. Deshalb werde ich sie vernichten, in der Sekunde, in der du etwas tust, was mich von meinem Recht abhält."
"Ich verspreche dir, ich werde nichts dergleichen tun. Also bringen wir es hinter uns." Ergeben kniete er sich vor Wirald, so dass der ohne aufzustehen die Übertragung durchführen konnte.
Erneut wurde Wirald von Husten geschüttelt. Er erhob die Hände, ließ sie aber fast sofort wieder sinken. "Nein. Du und deine Sippe haben mich zu viel Kraft gekostet. Diese letzte Nacht lasse ich dir noch. Bei Sonnenaufgang werde ich dann die Welt durch deine Augen sehen."
Widerstandslos ließ David sich von ihm fesseln und dieses Mal tat Wirald es extra gründlich und verband ihm sogar die Augen. Er würde keine Chance haben sich zu befreien.
Raunend hörte er nach einer Weile die Stimme von Martin. "David, er ist eingeschlafen. Los, befrei uns!"
Er wusste, dass er es nicht konnte. Aller Mut hatte ihn verlassen. Noch ein paar Mal versuchte Martin ihn auf sich aufmerksam zu machen, aber er antwortete nicht. Er würde nie wieder mit jemandem aus seiner Familie reden.

Die Nacht schleppte sich dahin. Ewigkeiten schienen zu vergehen. Irgendwann war Martin verstummt und er hörte nur noch den pfeifenden Atem des Magiers, der wenige Meter vor ihm im Sessel schlief.
Es musste schon bald Morgen sein, als sich der Alte endlich rührte. Stöhnend und keuchend erhob er sich und löste Davids Augenbinde, aber die Fesseln ließ er vorsichtshalber unangetastet.
"Eine gute nette letzte Nacht gehabt", spottete er.
"Bring es endlich hinter dich!"
"So eilig?" Wirald schien außerordentlich gute Laune zu haben. Wen wunderte es, wo er doch endlich am Ziel seiner Träume war, für das er nun über fünf Jahre gearbeitet hatte.
Aber endlich hob er seine knochigen Finger.
Draußen stieg die Sonne über den Horizont, der Himmel hatte ein krankes Rosa angenommen. David empfand es als passende Stimmung für seine letzten Minuten.
Die spinnenartigen Hände des Magiers schienen sich in grausamer Langsamkeit zu senken. Funken seiner Zauberei sprangen zwischen den scharfen Krallennägeln hin und her.
"David!" hörte er die tränenerstickte Stimme seines Vaters, dann spürte er die Berührung.
Ein gewaltiger Knall hob die Tür aus ihren Angeln und ließ das alte Holz splittern. Wirald wurde von den Füßen gefegt und taumelte gegen seinen Sessel, bevor er stöhnend auf dem Boden landete, wo er einen Moment liegen blieb.
"Lasst ab!" warnte eine gebieterische Frauenstimme. "Im Namen der Gilde gebiete ich es."
Im fahlen Gegenlicht erkannte David eine große Gestalt in einer aufwendigen Robe. Sie hatte entschieden die Hände gehoben und erfasste mit eisigem Blick alle Anwesenden im Raum. Hinter ihr tauchten noch zwei weitere Magier auf und dahinter der massige Leib von Karl.
David kamen Tränen der Erleichterung. Karl hatte doch tatsächlich die Gilde zur Hilfe geholt.

David konnte sich nicht rühren. Immer noch hielten ihn Wiralds Fesseln bewegungsunfähig. Aber selbst, wenn er frei gewesen wäre, hätte er keine Chance gehabt. Außer Wirald befanden sich noch drei weitere Zauberer im Raum, von denen zwei sich um Martin, Karl und seinen Vater kümmerten. Er hätte sich niemals befreien und auch noch sie retten können.
Seiner anfänglichen Freude und Euphorie waren Verwunderung und Unsicherheit gewichen. Die Magierin, Hestia, hatte sich als Vorsitzende der Gilde vorgestellt und dann ihren Leuten befohlen, Wirald wieder auf die Füße zu stellen. Anschließend hatte sie ihm sogar einen Tee angeboten. In aller Ruhe hatte sie ihm berichtet, was Karl gegen ihn vorgebracht hatte und der Magier hatte nichts davon bestritten. Danach hatte sie sich an David gewandt und sich auch von ihm seine Sicht der Dinge schildern lassen. Nun nippte sie an seiner Teetasse und betrachtete beide mit nachdenklichem Blick.
Erst nach einer ganzen Weile begann sie zu sprechen. "Wir haben hier eine ganz besondere Situation. Meister Wirald, Ihr habt die Gildegesetze gebrochen. Euch sollte bekannt sein, dass die Erschaffung neuer Magier verboten ist. Hättet Ihr einen Begabten gefunden und ausgebildet, wäre das in Ordnung gewesen, aber Ihr habt diesem Jungen Magie gegeben, die ihm nicht zustand. So etwas darf nicht geschehen."
David fiel ein Stein vom Herzen, die Gilde war offensichtlich auf seiner Seite. Sie würden Wirald bestrafen. Ein Lächeln schlich sich in sein Gesicht.
"Dennoch", fuhr Hestia fort, "Ihr habt es getan und nun müssen wir Schadensbegrenzung betreiben. Wir erlauben Euch, die Übertragung wie geplant durchzuführen und Euch den Körper des Jungen zu nehmen. Nur so können wir verhindern, dass größerer Schaden entsteht."
"Was?" David glaubte sich verhört zu haben, aber in Wiralds Gesicht stand ein so hämisches Grinsen, dass es wahr sein musste.
"Ich danke Euch", sagte der Alte.
"Das könnt Ihr nicht machen", flehte David.
"Ich kann und ich werde", verbesserte in Hestia. "Allerdings kann ich keinen Mord zulassen. Ich erlaube dem Geist des Jungen David auf den Körper Wiralds überzugehen und diesen bis zu dessen natürlichen Tod zu bewohnen. So sollte allen Genüge getan sein."
Sie stand auf und ging von Wirald zu David.
"Ihr tötet mich", erklärte David ihr, er war den Tränen nahe.
"Ich tue das, was richtig ist, David", antwortete sie und ließ ihre Hand über Davids Wange fahren. Schließlich drückte sie sogar seine Hand. Erst als sie zu ihrem Sessel zurückkehrte, merkte er, dass er etwas in seinen Fingern hatte. Es fühlte sich glatt und warm an. Aber er hatte nun keine Zeit mehr, darüber nachzudenken.
"Beginnt mit der Übertragung der Magie, Eures Wissens und schließlich Eurer Persönlichkeit, Meister Wirald."
Wirald nickte und ging langsam auf David zu. "Ich hatte dir doch versprochen, dass du verlieren würdest. Ich wünsche dir viel Spaß in diesem vermodernden Leichnam."
Sofort schossen seine Hände an Davids Schläfen und er spürte, wie ihn die Magie überschwemmte. Es war wie der Versuch einen Eimer mit immer mehr Wasser zu füllen. Er hatte das Gefühl überlaufen oder platzen zu müssen, aber seltsamerweise fand alle Magie Platz in ihm, brannte sich ihren Weg durch seinen Körper.
Als nächstes strömte Wiralds Wissen in ihn hinein. Es eröffnete sich eine ganz neue Welt für ihn. In seinem Kopf gab es plötzlich Erinnerungen an Orte, an denen er noch nie gewesen war, an Menschen, die er noch nie gesehen hatte. Er kannte Bücher, Zaubertränke und Heilmethoden und er wusste plötzlich auch, was Hestia in seine Hand gelegt hatte.

"Ist die Übertragung gelungen, Meister Wirald?" fragte Hestia.
Er fühlte sich müde und völlig erschöpft. Sein Kopf schmerzte, aber dennoch empfand er ein absolutes Hochgefühl. Er hatte es geschafft. Vorsichtig öffnete er seine Augen und hörte das erschrockene Keuchen der Menschen. Seine Iris und Augäpfel waren nun schwarz wie Obsidiane.
Der Alte kauerte vor ihm auf dem Boden und er sah jetzt sogar noch älter und verbrauchter aus als vorher. Seine Augen waren vollkommen blind und weiß. "Nein!" stieß er hervor und betastete seine trockenen, faltigen, fleckigen Hände. "Wie ist das möglich?"
"Ich denke, es wäre das beste, wenn wir ihm die Stimme nehmen, damit er nicht verraten kann, was hier geschehen ist", überlegte Hestia und schickte ihre Magie auf den Hals des Alten. Augenblicklich brachte der nur noch unverständige Laute hervor. "Bringt ihn auf die Straße und gebt ihm ein paar Taler. Er soll sich hier nie wieder blicken lassen."
Die anderen beiden Zauberer beeilten sich, ihrem Befehl nachzukommen.
"Und nun zu Euch, Meister Wirald", wandte sie sich nun an ihn und löste seine Fesseln, sodass er endlich aufstehen konnte. "Ihr werdet nie wieder so etwas tun, sonst werden wir Euch schwer bestrafen."
"Ja, Meisterin Hestia."
"Und Ihr werdet von nun an jeden Monat an den Versammlungen des Rates teilnehmen, vor denen Ihr Euch bisher so erfolgreich gedrückt habt."
Er seufzte. "Ja, Meisterin Hestia."
"Schön. Nun haben wir nur noch ein Problem. Was soll nun mit dem Müller und seiner Familie werden? Wir könnten auch sie verstummen lassen und auf die Straße schicken."
Er wandte sich zu den vier Männern um. Tränen standen in den Augen des Müllers und auch seine Söhne sahen ihn voller Entsetzen an.
"Nein", entschied er. "Ich habe etwas Besseres mit ihnen vor. Ich werde sie als mein Gefolge in meine Dienste nehmen. So kann ich am besten dafür sorgen, dass sie das Geheimnis bewahren."
Sie nickte. "Ich wünsche Euch trotz allem alles Gute für Euer neues Leben."
Damit drehte sie sich um und verschwand, sodass er bald mit den Gefangenen allein war. Eilig löste er ihre magischen Fesseln.
"Du Monster", spie Martin hervor. "Wenn du glaubst, dass wir dir nun dienen, hast du dich geschnitten."
"Ich freue mich auch, dass es dir gut geht, Bruder."
"Nenn mich nicht Bruder. Ich werde dich bekämpfen bis du so leidest wie er."
"Ich hätte nie gedacht, dass du dich mal so für mich einsetzen würdest. Hast du damals auch nicht, als du mir die Axt in den Schenkel gejagt hast. Karl und Andreas mussten mich versorgen und mich nach Hause bringen." Er senkte den Blick und als er sie wieder ansah, erkannte man wieder eine dunkelblaue Iris darin.
"David?" Karl starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
"Wer denn sonst?" lachte David und fiel seinem Bruder um den Hals. Dann stellte er sich seinem Vater. "Papa, glaub mir, ich bin es. Nur ich, David!"
"Ich weiß, Junge." Tränen liefen über sein Gesicht. "Beinah hätte ich dich zum zweiten Mal verloren. Lass mich das nie wieder durchmachen."
"Versprochen, Papa."
"Aber sie nannte dich Wirald und wir haben gesehen, dass von ihm etwas in dich gegangen ist", wandte Martin ein.
"Wirald hat mir seine Magie und sein Wissen gegeben. Aber von Hestia hatte ich das hier", er öffnete seine Hand und zeigte den anderen den kleinen, flachen, marmorierten Stein. "Das ist ein Schelia, er schützt das Selbst. Sobald ich Wiralds Wissen hatte, wusste ich wie ich mich damit gegen ihn schützen kann."
"Dann ist er immer noch in seinem Körper?"
"Stumm und absolut machtlos." Er sollte nicht solche Schadenfreude empfinden, aber er konnte es nicht verhindern. "Aber euch sollte klar sein, dass wir von nun an diese Illusion aufrecht erhalten müssen. Für alle Zauberer des Landes bin ich Wirald und muss es auch bleiben."
"Und wir sein Gesinde?"
"Es tut mir leid."
"Ist schon gut", beschwichtigte Karl, "ich bin mir sicher, dass du ein freundlicher Dienstherr sein wirst."
"Versprochen."
 
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Kommentare  

Diese fünfunddreißig Seiten zu lesen, hat sich für mich gelohnt. Spannend bis zur letzten Zeile. Einfach eine sehr, sehr gute fantastische Geschichte. Da hätt`man gerne noch mehr davon.

Evi Apfel (03.07.2017)

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