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11 Seiten

Memoiren eines Schriftstellers - 29. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 29

Epilog

Mein Name ist Azzrael und ich bin ein Engel der Finsternis. Ich wurde beauftragt, künstlerisch talentierte Menschen zu verführen, um sie für die Verdammnis zu verpflichten. Kreative Menschen sind leidenschaftlicher, reagieren häufiger emotional und sind meistens für übersinnliche Phänomene empfänglicher als die konservativen, hochgebildeten Geschöpfe. Zudem schlummert in ihnen ein beachtliches Potenzial Zorn – und genau diese Eigenschaft beabsichtigen wir heraufzubeschwören, um unsere jahrtausendlange Mission zu erfüllen, eines Tages das Universum und vor allem das Jenseits zu beherrschen. Die biologische Welt ist für uns nur soweit interessant, weil es der einzige Ort ist, dort neue Seelen geboren werden.
Vor langer Zeit war auch ich einmal ein Mensch gewesen, wurde geschätzt und war sogar eine berühmte Persönlichkeit. Aber eigentlich, wenn man ein Menschenleben mit der Ewigkeit vergleicht, mit dem was in der vergangenen Weltgeschichte passiert ist, bin ich noch ein sehr junger Engel, der grade erst anfängt zu fliegen, also, zu lernen, um seine außergewöhnlichen Fähigkeiten effektiv einzusetzen. Zeit ist für mich aber bedeutungslos geworden, seitdem ich meinen biologischen Körper verlassen habe. Fünfzig Jahre, hundert Jahre, ja, sogar tausend Jahre empfinde ich nur als einen Moment. Und wenn ich mich dazu entschließe vor einem Lebewesen in Erscheinung zu treten, um ihnen etwas mitzuteilen, dann bin ich in der Lage mein Anliegen, dies durchaus auf Erden mehrere Stunden beanspruchen würde, in eine einzige Sekunde zu komprimieren. Am einfachsten ist es für uns, euch Menschen im Schlaf zu begegnen, weil ihr einen Traum ebenfalls als zeitlos empfindet. Aber unsere wahre Erscheinung zeigen wir nur in den seltensten Fällen. Meistens machen wir uns mithilfe unerklärbare Phänomene bemerkbar, denn ihr sollt gar nicht wissen dass es uns gibt, sondern nur glauben. Denn nur diejenigen die den Glauben besitzen, sind selig. Und doch, wenn ich zurückblicke, erscheint mir mein menschliches Dasein wie eine Ewigkeit her zu sein, und irgendwie wiederrum nicht. Um es kurz zusammenzufassen – im Jenseits tickt keine Uhr.
Nichts ist mehr so, wie es einst zu meiner Lebenszeit gewesen war. Ich bin weder tot noch lebendig, empfinde weder Schmerzen noch Müdigkeit, und um Nahrung oder anderweitige lebensnotwendige Bedürfnisse muss ich mich auch nie wieder sorgen. Weder benötige ich eines der vier Elemente der Welt, um zu existieren, noch könnte mich eines davon auslöschen.
Grundsätzlich sind wir Engel allesamt Lichtgestalten, die aus purer Energie bestehen und von Gottheiten erschaffen wurden, ähnlich wie die Seele eines Menschen, nur wesentlich intensiver und überdies stärker. Die helle Seite ist durchaus mächtiger als wir, weil sie das Zentrum des Bestehens ist, schließlich kann der Schatten ohne Licht erst gar nicht existieren. Aber der allmächtige HERR besteht auf seine Prinzipien, dass seine Boten im Jenseits sowie auf Erden nur bedingt handeln und vor allem niemanden vernichten dürfen. Selbst uns nicht, deshalb sind wir aus dem Schattenreich ebenbürtig mächtig, denn erst wenn das ewige Licht erlöschen würde, erst dann würde es auch uns nicht mehr geben.
Ich wurde zu diesem göttlichen Mandat allerdings gezwungen, beziehungsweise wurde ich dazu erpresst, und musste im Fegefeuer die unvorstellbarsten Torturen erleiden. Somit habe ich meine damaligen Angehörigen sowie all meine Freunde, die mich in meinem vergangenen Leben begleitet hatten, und vor allem meine geliebte Tochter, vor dem sicheren Untergang in der Hölle bewahrt. Denn die Hölle ist der Kerker der Bestrafung aller Seelen, die unbarmherzig sind, dagegen ist das Fegefeuer lediglich ein Erholungsort – ein Ort der Besinnung und der sogenannten Gehirnwäsche.

Ich war zu meiner Lebenszeit der weltberühmte William Carter gewesen und hatte sechsundneunzig Horror- und Psychothriller Romane geschrieben. Aber dieser William Carter existiert nicht mehr in mir. Eventuell nur noch ein klitzekleines Fünkchen davon, dies ich ganz für mich alleine als Erinnerung aufbewahre. Aber darauf gehe ich etwas später ein.
Ich bin jetzt ausschließlich Azzrael und bin Lucifer, so wie er es mir prophezeite, mittlerweile tatsächlich dankbar für meine Neugeburt als ein Geschöpf der Finsternis. Denn ich fühle keinerlei Reue oder Liebe mehr, sondern nur noch Hass. Als ich noch ein menschliches Geschöpf war, empfand ich Hass als eine negative Energie, die mich vor der Wahrheit blind machte und ich stets bemüht war, davon Abstand zu halten. Doch nun, nach meinem qualvollen Martyrium im Fegefeuer, ist Hass und Zorn jetzt meine Nahrung, die mich zunehmend stärkt.
Also, da ich der weltberühmte William Carter gewesen war wurde mir aufgebürdet, dass ich all die Qualen und Schmerzen selbst erleiden müsse, die ich den Protagonisten in meinen Büchern zugefügt hatte, bis auch die letzte Glut meiner Menschlichkeit in mir erlischt, oder bis ich kapituliere. Letzteres hätte die völlige Vernichtung meiner Existenz bedeutet und insbesondre meine unschuldige, geistig behinderte Tochter hätte für mein jämmerliches Versagen qualvoll büßen müssen. Diese Liebe zu ihr war das einzige, was mich noch aufrecht gehalten hatte, um die brutale Folter im Fegefeuer zu überstehen. Letztendlich hatte ich durchgehalten und kurz bevor mich das Martyrium zu vernichten drohte, die einundvierzig Jahre lang andauerten, ernannte mich Lucifer persönlich zu einem Legion (Dämon) und erteilte mir die Ehre, seiner Armee beizutreten und ihm bis in alle Ewigkeiten zu dienen.
Meine neue Existenz als Engel der Finsternis ist aber eigentlich gar nicht so übel. Unser Meister, der Lichtbringer, lässt uns freies Geleit. Nun verfüge ich über uneingeschränkte Macht und bin unbesiegbar. Selbst die mächtigen Poltergeister können mir nichts anhaben und würden vor jedem Engel sofort flüchten. Denn ich kenne die Zukunft sowie all das, was in der Vergangenheit geschehen war und bin allzeit gegenwärtig. Einiges kann ich abwenden und so manches dahin lenken, so wie es zu meinem Vorteil passieren soll. Außerdem spreche und verstehe ich allmögliche Sprachen. Mitgefühl und Barmherzigkeit kenne ich nicht mehr, ich handle ausschließlich instinktiv, gnadenlos und ohne Reue. Aber mit Bedacht und vor allem ganz wichtig: Mit Geduld, mit beharrlicher Geduld.
Es existieren unzählbare Arten und Kreaturen von Dämonen und Geisterscheinungen, denen es irgendwie immer wieder gelingt, in die biologische Welt einzudringen, um die Lebewesen zu terrorisieren. Selbst sie waren einmal Menschen gewesen, die nach ihrem Ableben aus persönlichen Beweggründen das Licht verweigerten und nun im Niemandsland, zwischen dem Paradies und der Finsternis verweilen. Denn das Jenseits besteht nicht nur aus dem Guten und Bösen, aus Licht und Dunkelheit, diese zwei Parteien geradlinig sind, regiert werden und sich gegenseitig abschotten, sondern sind zudem vom völligen Chaos umgeben, welches sich jedoch eher zur Finsternis hingezogen fühlt. Die Hölle versucht zwar pausenlos zu expandieren, aber selbst die Finsternis verweigert insbesondre zu mächtigen Seelen den Zutritt, wahrscheinlich aus taktischen Beweggründen, um sie zuerst in ihrer jahrhundertlangen Einsamkeit zu zermürben, bis wir, die Engel, kommen und sie holen, um sie zu bestrafen, ihnen qualvolle Schmerzen zu bereiten, bevor sie vom Lichtbringer persönlich endgültig vernichtet werden, oder Lucifer sie bis in die Ewigkeit gnadenlos martert.
Im gewissen Sinne ist das Niemandsland ebenfalls die Finsternis, dort man die Zeit durchaus empfindet und diese sich sogar verlangsamt, sich qualvoll verlangsamt – weil, eine ewige Existenz ohne jegliche Aufgabe, dann wünscht sich irgendwann jeder die absolute Erlösung, den absoluten, unwiderruflichen Tod. Viele von ihnen, die nach ihrem Ableben das Licht verweigerten und nun im Niemandsland herumirren, sind mittlerweile einige hundert Jahre alt, waren einst gute Seelen gewesen doch die Einsamkeit hatte sie irgendwann verdunkelt, sodass ihre Gemüter nur noch von Neid und unsäglicher Angst erfüllt sind. Endlose Langeweile, welche eigentlich nur Kinder als unerträglich empfinden, dies sie nicht einmal mit Selbstmord beenden können, machte diese einst guten Seelen zu unberechenbare Geschöpfe. Zu gefährliche Geschöpfe. Einige von ihnen haben sich mächtige Fähigkeiten angeeignet, dringen in die biologische Welt ein, lassen ihren Frust und Zorn walten und hinterlassen bei den Lebenden eine wüste Spur der Zerstörung. Solche Phänomene geschehen sogar verhältnismäßig oft, aber die meisten davon werden von den Menschen verschwiegen oder als unerklärlich abgetan. Einige Geisterscheinungen oder unerklärliche Todesfälle, die im Zusammenhang stehen, wie ein Fluch also, fasziniert und fürchtet die Menschheit zugleich. Im Mittelalter und früher war es für uns sowie für die andere Seite noch wesentlich einfacher gewesen, die Menschen zu beeinflussen, sie Taten zu vollbringen und Entscheidungen treffen zu lassen. Aber viel zu oft wurde unser und hauptsächlich Gottes Wille falsch umgesetzt, ja, von den Menschen geradezu missbraucht, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen und über Völker zu herrschen. Doch am Ende ihres Daseins müssen sie Rechenschaft ablegen und dann folgt die Abrechnung.

Für die Menschen sind beispielsweise die Poltergeister, diejenigen die Gegenstände bewegen oder diese gar herumwerfen, allgemein ungefährlich, denn sie besitzen nicht die göttliche Macht irgendein Lebewesen auszulöschen. Die Poltergeister sind lediglich Harlekins, die sich wie gemeine Kinder an ihrem Schabernack erfreuen und es genießen, Angst zu schüren. Aber Angst zu verbreiten ist und bleibt die wirkungsvollste Waffe, doch ihre Fähigkeiten sind nie von Dauer. Irgendwann ist jedes Gespenst geschwächt und dann kommen wir, die im Schattenreich verbannt wurden, und holen sie uns. Denn die Finsternis ist der Ort der Vergeltung und Bestrafung. Der HERR verlangt Rechenschaft für das Leben, welches er den Menschen geschenkt hatte, Lucifer dagegen handelt ohne Anhörung. So einfach sind die göttlichen Regeln.
Es existieren überdies die sogenannten Gespenster, von denen einige sechshundert Jahre und sogar noch älter sind. Meistens ist es ihnen gar nicht bewusst, dass sie längst gestorben sind. Ihre Seelen sind oftmals mit tiefster Traurigkeit erfüllt und sie sind freiwillig aus dem Licht ausgetreten, um in der biologischen Welt in uralten Gemäuern zu hausen. Sie sind von Gott nicht in die Finsternis verbannt worden, denn selbst im Jenseits gewährt ER jedem einen freien Willen und zwingt niemanden dazu, dass man sich in seinem Paradies begibt. Sie weigerten sich strikt von ihrem alten Leben loszulassen, bis sie sich verirrten und es ihnen nicht mehr möglich war, in das Licht zurückzukehren. Somit sind sie in der biologischen Welt gefangen, in einer jetzt für sie fremden Welt. So, als wären sie Menschen , die auf einem fremden Planeten gestrandet sind, umgeben von fremden Geschöpfen, die sie nicht einmal wahrnehmen können, und dort für immer verweilen müssen. Manchmal beanspruchen sie ein komplettes Schloss für sich alleine. Ihr ortsgebundener Spuk dient meistens nur als Verteidigung, als Abschreckung, um Eindringlinge aus ihrem Heim zu vertreiben, oder um sich einfach nur bemerkbar zu machen, weil sie sich unsäglich einsam fühlen. Sie sind reine Lichtgestalten, die für uns absolut tabu sind, weil sie bereits das Paradies betreten haben. Die erhebliche Kontamination würde unser Reich völlig ausrotten, ebenso würde es der hellen Seite ergehen, falls sie einen gefallenen Engel aufnehmen würden.
Wir Engel aber sind zu Höherem berufen worden, wir sind die Spitze der heiligen Hierarchie. Ganz gleich, ob nun die Abgesandten des Herrn oder die Boten des Satans in Erscheinung treten – jeder Engel ist heilig und kann nicht bezwungen werden. Ein Kampf unter Artgenossen würde die Vernichtung beider himmlischen Boten bedeuten. Nur ein Engel aus dem Licht wäre bereit sich zu opfern, falls es darauf ankäme, aber wir von der dunklen Seite wären niemals so töricht. Und das ist der maßgebende Unterschied zwischen uns. Denn Gott ist allmächtig und kann den Tod zum Leben erwecken, und das Leben mit dem Tod heimsuchen, wann immer ER es erwünscht. Der HERR hat die Regeln erstellt und könnte seine Entscheidungen auch wieder rückgängig machen, wie es Ihm beliebt. Aber selbst ein Erzengel dürfte sich nicht auf Gottes Gnaden ausruhen und hoffen, dass er sich ohne Bedenken für die Gerechtigkeit opfern könnte, da der Herr barmherzig ist und ihn sowieso wieder erschaffen würde. Denn Gottes Wege sind bekanntlich unergründlich, und manchmal erscheint Gottes Handeln sogar grausam zu sein. Manchmal glaube ich sogar, dass Gott und Satan ein und dieselbe Macht ist, dass alle seine Erzengel ER selbst sind, um die Waage der himmlischen Gerechtigkeit im Lot zu halten. Denn nur Gott ist allmächtig, der Herr ist gütig und wenn Gott das Böse akzeptiert … dann hat es einen Sinn.
Aber was weiß ich schon? Ich war einst nur eine Schöpfung des Herrn, wurde durch eine List in die Finsternis verbannt worden und bin als Phönix aus der Asche wiedergeboren, aus der Asche des Fegefeuers, welches Satan geschürt hatte. Ich bin nur ein einfacher Engel, besitze zwar göttliche Fähigkeiten, aber bin trotz alledem nur eine Arbeiterbiene, die für seinen Meister bedingungslos dient. Ich kann mich in jedes erdenkliche Wesen verwandeln oder wenn es sein muss, sogar in den Körper eines Lebewesens hineinschlüpfen und sie kurzzeitig zu meinen Gunsten lenken. Einfach und vor allem ungefährlich ist es für einen Engel jedoch nicht, dies erfordert sehr viel Übung sowie Erfahrung, schließlich unterliegen auch wir einigen göttlichen Gesetzen. Wenn ich beispielsweise die Gestalt eines Vogels einnehme, unachtsam bin und von einer Katze getötet werde, dann existiere ich zwar noch aber werde dadurch erheblich geschwächt. Dann wäre es jedem Dämon oder anderem Engel bedenkenlos möglich, der unmittelbar zur Stelle steht, mich endgültig zu beseitigen.

Nun will ich erzählen was mit meiner Tochter geschah, nachdem man mich geholt hatte.
Adam hatte Shirley in seiner Patchworkfamilie aufgenommen und für sie gesorgt. Aber schon im selben Jahr nach meinem Tod, noch vor Weihnachten, lag sie eines Morgens leblos in ihrem Bett. Shirley war friedlich eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Sie wurde vom Fluch, welcher sie durch meine eigene Schuld umgab, erlöst worden. Die Ärzte hatten mir damals kurz nach ihrer Geburt prophezeit, dass sie nicht älter als zwanzig Jahre alt werden würde, aber da ich ja zu meiner Lebenszeit niemals krank werden konnte und ihr frühzeitiger Tod mich praktisch psychisch krank gemacht hätte, blieb sie so lange am Leben, bis ich selbst starb.
Adam ist ein feiner Kerl und ich rechne es ihm hoch an, denn obwohl er ein gieriger Geschäftsmann war und Geld für ihn stets äußerst bedeutsam gewesen war, hatte er Shirleys Vermögen, welches ich ihr alleinig vermacht hatte, gewissenhaft verwaltet und meiner Meinung nach gut angelegt. Adam hatte für mich und meine Tochter auf dem Westwood Village Memorial Park Friedhof in Los Angeles, dort unter anderem Peter Falk, Marilyn Monroe, Dean Martin, Natalie Wood und weitere berühmte Personen aus Hollywood beerdigt wurden, ein schickes Mausoleum errichten lassen. Den Rest meiner Millionen investierte er nach Shirleys Tod in Obdachlosen- und Behindertenheime und ließ vor seinem Gebäude eine große Statue aus Kupfer errichten, die mich darstellte, wie ich am Schreibtisch sitzend, mit einer Schreibfeder in meiner Hand haltend in ein Buch schreibe.
Nichtsdestotrotz habe ich erfreuliche Neuigkeiten zu berichten. Wie ich es schon erwähnt habe, hatte ich es nicht zugelassen, dass man mir die Liebe zu meiner Tochter völlig auslöscht, denn diese Liebe war das einzige, was mich aufrecht gehalten hatte, was mich letztendlich meine Existenz sicherte. Shirley ist das allerletzte Fünkchen Menschlichkeit, welches in mir dimmert, welches mich daran erinnert, dass ich einst William Carter gewesen war.
Shirley wurde wiedergeboren, vielleicht als Wiedergutmachung ihres vorherigen, verkorksten Leben, um sich nun wirklich zu beweisen, und lebt nun als zehnjähriges Mädchen in Deutschland, in einem Vorort von Frankfurt am Main. Ich hatte meine Tochter schon kurz nach ihrer Reinkarnation aufgespürt.
Shirley wurde neugeboren und ist nun ein völlig gesundes Mädchen, die sogar mit Knaben begeistert Fußball spielt. Sie wächst zwar diesmal nicht im reichen Milieu auf, dafür aber wird sie von verantwortlichen Eltern großgezogen. Shirley ist sehr klug zudem sehr sportlich, und weil ich die Zukunft kenne weiß ich, dass sie die Hochschule besuchen und später einmal als Tierärztin arbeiten wird. In ihrem vergangenen Leben, als sie noch geistig behindert war, waren Blumen für sie gleichwertige Lebewesen (womit sie nicht einmal Unrecht hatte, weiß ich jetzt. Denn in der biologischen Welt lebt alles!) Nun ist sie insbesondre in Katzen, Hunde und Pferde vernarrt. Ich fühle nur noch einen unbezwingbaren Neid, weil dieses kleine blonde Mädchen mit den seitlichen Zöpfen nicht mehr offiziell meine Tochter ist. Sie wächst nun in der Obhut von fremden Leuten auf, die ihre neue Familie sind und sie abgöttisch lieben. Shirley kann sich an ihr vergangenes Leben unmöglich erinnern, somit wird sie niemals erfahren, dass ICH eigentlich ihr Vater bin. Darüber bin ich maßlos erzürnt, denn Shirley ist meine Tochter, sie gehört zu mir! Selbst wir in der Verdammnis kennen die heiligen Schriften, daraus wir selbstverständlich nur unseren Nutzen ziehen und unser Recht beanspruchen. In der Bibel steht unter anderem geschrieben: Nikodemus spricht zu ihm: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ Jesus antwortete: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; aber was vom Geist geboren ist, das ist Geist.“

Manchmal benutze ich den Körper einer schwarzen Katze, schlendere daraufhin zu Shirley und miaue sie an. Dann nimmt das kleine blonde Mädchen mich in ihren Armen, kichert dabei niedlich und knuddelt mich. Auf diese Weise genieße ich ihre körperliche Nähe, kralle mich dabei fest in ihre Schulter und schnurre genüsslich, und meine längst verstorbenen Gefühle lodern langsam wieder auf, wie ein ausgebranntes Lagerfeuer, das beinahe völlig zu erlöschen droht und von einem lauen Sommerwind wieder zum Leben erweckt wird. Und dann spüre ich wieder dieses fast vergessene Gefühl der Liebe, welches mich zwar im Nachhinein immer wieder traurig stimmt, weil ich ständig zu viel darüber nachdenke, dafür aber meinen Hass, meine Nahrung, auf die Menschheit anfeuert.
Aber wie es der Zufall will, reißt sich dann plötzlich der blöde Köter des Nachbarn von der Leine los, woraufhin ich unweigerlich verschwinden muss. Am sichersten für mich ist es immer noch, wenn ich mich in eine Krähe verwandele, hoch oben in einer Baumkrone hocke und mein Liebling beim Fußballspielen beobachte und sie krächzend anfeure. Und sobald sie mit ihrem Fahrrad nach Hause radelt, fliege ich ihr hinterher. Aber ich muss stets auf der Hut sein, denn Shirley wird von einem mächtigen Schutzengel bewacht. Dieser ist für mich persönlich ein sehr, sehr gefährlicher Schutzengel, vor dem ich mich in Acht nehmen muss, großen Respekt und vor allem Angst habe.
Dieser Schutzengel ist ausgerechnet meine Mutter, also Shirleys eigentliche Großmutter. Meine eigene Mutter, die überaus fromm war und mich schon zu Lebzeiten drangsaliert hatte. Ich hasse diesen Engel, weil ihre Lichtgestalt mich unheimlich blendet, sobald sie ihre gewaltigen Flügel breitet. Dann spreize auch ich meine Flügel auseinander, woraufhin sie sich mit gekreuzten Fäusten das Gesicht schützt, weil ihr eine unerträgliche Kälte entgegen strömt. Schlussendlich müssen wir beide Shirley verlassen, andernfalls würde ich verbrennen und meine Mutter würde zu Kristall erstarren, und schließlich in abertausende Scherben zerplatzen. Wir beide würden, falls wir uns zu nahe kämen und beharrlich unsere Position zu behaupten versuchen, uns gleichzeitig in Staub auflösen. Nichts davon würde die Menschheit je erfahren, denn wir Engel leben zwar tagtäglich unter euch, aber ihr könnt uns weder sehen noch hören, dafür können manche von euch uns spüren.
Wenn der Wind plötzlich weht und ihr euch daraufhin verwundert umblickt, dann manchmal weil wir pusten, um euch von irgendetwas abzulenken – Wir wollen euch eventuell von einer Gefahr behüten oder wir wollen euch vor irgendetwas aufmerksam machen. Manchmal glaubt ihr plötzlich eine Stimme zu hören, woraufhin ihr inne haltet und nachdenkt. Möglich ist es, dass wir euch etwas zugeflüstert haben, damit ihr eure Absichten nochmal überdenkt. Sobald es in traurigen Momenten plötzlich anfängt zu regnen, dann möchten wir euch eventuell damit mitteilen, dass ihr in eurem Kummer nicht alleine seid. Manch einer von euch hatte möglicherweise ein Unglück nur knapp überstanden und sogar den Hauch des Todes gespürt, aber die Hand eures Schutzengels hatte euch vor dem Unheil bewahrt. Jedoch könnte auch alles nur zufällig passieren, womit wir absolut gar nichts zu tun haben. So läuft das Leben eben. Aber gewiss ist, wenn die Zeit kommt, dann ist die Uhr nun mal abgelaufen. So lauten Gottes Regeln, daran nicht einmal Lucifer etwas ändern könnte.
Wie auch immer, die Entscheidungen liegen letztendlich nur bei euch selbst, insofern ihr unsere Botschaft zu deuten vermögt. Schließlich sind wir Engel keine Marionettenspieler und ihr Menschen, ihr seid keine Puppen. Ich weiß zwar genau, dass die meisten Menschen glauben, wir sind nur Fabelwesen, welche sich die Kirche ausgedacht hatte, aber insgeheim wisst ihr, eher gesagt vermutet ihr es, auch wenn ihr es nicht wahrhaben wollt, dass es uns Engel gibt.

Azzrael glitt in der Nacht wie ein Adler geräuschlos über Los Angeles, über die Stadt der Engel. Er landete unsichtbar auf einen Wolkenkratzer, hockte sich hin und ließ seine Beine baumeln. Andächtig überblickte er die Metropole und schaute auf abertausende Lichter hinab. Er war von Traurigkeit erfüllt, dennoch war er zufrieden, denn es war ihm gelungen, einige indianische Seelen im Niemandsland für seine Zwecke zu überzeugen. Er hatte ihnen das Paradies versprochen, ihnen versprochen, dass er sie zu Manitu führen würde. Stattdessen führte Azzrael den Stamm der Mohaven in die Verdammnis, direkt in die Arme des Lucifers. Aber Edward Scott, sein erster Schutzbefohlener, war nun im Besitz der Schreibfeder und wird in die Fußstapfen von William Carter treten. Nur das war wichtig. Zudem weiß Azzrael, dass sich Scotty sehnlichst einen Sohn wünscht, der wiederum ebenfalls ein weltberühmter Schriftsteller werden wird, weil dieser ebenfalls diese magische Schreibfeder benutzen wird. Somit wird Azzrael die nächsten hundert Jahre erstmal beschäftigt sein. Er wird beiden berühmten Herren ein luxuriöses Leben und anschließend, an ihrem 59. Geburtstag, wird er ihnen einen hässlichen und grausamen Tod bescheren. Das wird seinem Meister, dem Lichtbringer, äußerst gefallen. Azzrael, alias William Carter, hat sich für den Fürst der Dunkelheit also bewährt.
Der Engel der Finsternis mit den grünen Augen seufzte. Er war erleichtert. Azzrael war ein Sammler, der Artefakte von verstorbenen Seelen einheimste, darunter auch den heißgeliebten Discman von Shirley, seiner damaligen Tochter. Dieser Discman war seine absolute Trophäe, diese er niemals hergeben würde. Azzrael drückte die Starttaste und beruhigende Klänge eines Dschungels in der Nacht ertönten. Dann erklang ganz kurz eine liebliche Harfe und er hörte dem zarten Klimpern eines Klaviers zu. Apathisch starrte Azzrael in die Nacht und hörte konzentriert zu, wie Michael Jackson sanft und schließlich gewaltig seinen Earth Song sang.
Der Earth Song von Michael Jackson war Shirleys Lieblingslied gewesen. Der Engel der Finsternis erinnerte sich, als er noch William Carter gewesen war und eines Sonntagmorgens im Jahre 1995 gähnend die große Eichenholztreppe hinunterstieg, hatte er wie immer zuerst in das Wohnzimmer geblickt. Seine geistig sowie körperlich behinderte Tochter saß mit ihrem Rollstuhl ganz nahe vor dem riesigen Fernseher – die Lautstärke war voll aufgedreht. Sie hatte MTV geschaut, wobei ihre Augen gespannt hin und her gingen, und Michael Jacksons Earth Song lief gerade. Shirley hatte dieses Lied mitgesummt, zwar ziemlich schräg, aber er liebte es, wenn sie auf ihre Art und Weise sang, und konnte ihr dabei stundenlang zuhören. William Carter hatte sich mit verschränkten Armen am Türrahmen angelehnt, geschmunzelt und dabei zugesehen, wie seine Tochter begeistert dieses Lied summte. Azzrael hörte dem Michael Jackson Song regungslos zu, zupfte dann eine Feder aus seinem Flügel heraus und schrieb die Memoiren aus einem vergangenen Leben weiter. Die Memoiren eines Schriftstellers.

*****


©W. Francis Dille
 
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