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9 Seiten

Gejagte Jäger

Fantastisches · Kurzgeschichten
Hannover, Sommer 2057.

Die Haustür der alten Villa im Hindenburgviertel schließt sich leise. Vorsichtig steigt die rundliche Frau mit den kurzen, schwarzen Haaren die Treppe hinauf. Aus dem Büro ihres Ehemannes hört sie Gelächter. Die obersten Stufen knarren entsetzlich. Das Geräusch lockt ihren Mann auf den Flur.
„Oh Schatz, du bist schon zurück von der Empfängnispflicht?“ Dominik Gellert schaut seine Frau in selbstgefälliger Art an. Weder hat er die Tür zu seinem Arbeitszimmer zugezogen, noch das Hologramm der Escortfrau abgeschaltet. Blondes, langes Haar, superschlank, in einem teuren Business-Kostüm.
Mathilda Gellert geht grußlos am Büro vorbei. In der Küche zieht sie die Schublade auf. Das große Messer übt eine magische Anziehung auf sie aus. Vor Jahren schon hat sich im Räderwerk ihrer Beziehung ein Zahnrad entschieden, in die falsche Richtung zu drehen. Jetzt bricht es entzwei.
*
„Schließt endlich das Programm!“ Kommissar Matthew Erdal zieht seinen Regenmantel mit der großen Kapuze aus und hängt ihn über die Stuhllehne. Schnell bilden sich zwei kleine Pfützen auf dem Fußboden. Mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck schaut er in die Zimmermitte. Dort sitzt das Hologramm einer Escortfrau auf dem Rücken eines am Boden liegenden Mannes. Unter dem Bauch des Mannes quillt eine Lache angetrockneten Blutes hervor.
„Welche Spuren haben wir?“, fragt der hochaufgeschossene Mann, dessen Kinn ein Vollbart ziert. Vom Schreibtisch nimmt er ein Bild, das den Toten mit einer Frau zeigt. Etwas rundlich, schwarze, kurze Haare.

„Die Frau des Ermordeten ist zur Empfängnispflicht. Seit einer Woche. Oberammergau.“ Der Forensiker der IT, der am Schreibtisch des Ermordeten sitzt, schaut vom Bildschirm auf. Seine Augen leuchten stolz, als er den Blickkontakt mit dem Kommissar sucht.
„Wir haben unter den Fingernägeln des Toten ein schwarzes Haar gefunden. Dazu Hämatome an den Armen und der Schulter. Es muss zu einem Kampf gekommen sein“, stellt der Rechtsmediziner sachlich fest, der neben der Leiche kniet und erste Untersuchungen vornimmt. Mit hastigen Schritten geht er zu seinem Arbeitstisch. Er schiebt seine Brille auf die Stirn, bringt sein Auge ans Mikroskop und dreht an einigen Rädchen die Schärfe ein, kurz darauf erfüllt ein einziges Wort den Raum: Kunsthaar.

Hektisch greift der Mann im weißen Overall zu einem zweiten Tütchen, in dem sich sichergestellte Partikel befinden. Die Zungenspitze hervorgeschoben, linst er in sein Arbeitsgerät. „Künstliche Haut“, ruft er laut aus und schlägt sich auf die Oberschenkel.
Der Forensiker der IT springt von seinem Schreibtischstuhl auf. Als er neben dem Kommissar steht, zeigt seine Fingerspitze auf die Frau, die auf dem Foto abgebildet ist. „Eine Androide?“
Kommissar Erdal zieht den Mund schief. „Eine Androide im Nachwuchszentrum, wie soll das gehen, Kollege Yamamoto?“ Nachdenklich schreitet der große Mann zum Rechner des Toten. Ein paar Klicks, dann hat er die Nummer in Oberammergau. Das anschließende Gespräch mit dem zuständigen Institutsleiter bestätigt seine Vermutung. Umso wichtiger ist es, hier keine Hinweise zu übersehen.

„Inspizieren Sie den gesamten Tatort. Haus und Garten. In zwei Stunden erwarte ich den ersten Zwischenstand.“ Der Kommissar greift zu seinem Regenmantel. In der Tür blickt er noch mal über die Schulter. „Den Garten zuerst, bevor der Regen die letzten Spuren weggewaschen hat.“
Eine Minute später sitzt er in seinem Auto. Der selbstfahrende Wagen bugsiert ihn durch die Straßen des feudalen Viertels. Große Grundstücke, alte Bäume, noch ältere Häuser, umrahmt von dem Stadtwald Eilenriede, dem Zoologischen Garten und dem Stadtpark.
*
Das Ihmezentrum in Hannover-Linden. Der Inbegriff modernen Lebens in den Siebzigern des 20. Jahrhunderts; ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach der Jahrtausendwende. Mehrere Inverstoren haben sich ruiniert, seit langem vergammeln die Abrisspläne in untersten Schubladen. Eine Betonwüste, unverrottbar und ungeliebt. Genau das richtige Ambiente, in dem sich Anfang des 21. Jahrhunderts die Forschungsgruppe „Künstliche Intelligenz“ einquartierte.
Heute ist das Geschichte. Lilith schaut aus dem vierzehnten Stock über die Stadt. Im Südwesten sieht sie den langen Höhenzug des Deisters liegen. Östlich die Wahrzeichen der Metropole. Altes Rathaus, Marktkirche, Telemax. Und überall das grüne Band der Eilenriede. Ein Beweis an Leben zwischen Stein und Beton.

Siebzehn Etagen unter ihr wird neues Leben geschaffen. In dem zweiten Tiefgeschoss der ehemaligen Parkgaragen hat Lilith ihre Produktionsstätte sowie ihr Lager eingerichtet. Jeder Schenkel ihrer Fertigungslinie misst fünfzig Meter. Alle einhundert Zentimeter wird aus einem Vorratsbehälter Rohstoff dem Fließband zugeführt: Metalle, Kunststoffe, Schmieröle, Farben und Lacke.
Lilith schaut auf ihre Screens. Webcams nehmen alles auf, was in der Fertigungshalle geschieht. Aufgrund eines Anflugs an Sentimentalität lächelt sie. „Mein kleiner 3-D-Drucker“, sagt sie mit zärtlicher Stimme, als ihr Blick das Ende der Fertigungsstrecke misst.
*
Es ist der nächste Tag. Kommissar Erdal schreitet über den Schützenplatz. Hannover, die Stadt mit dem größten Schützenfest der Welt. Nicht, dass es der größte Rummel weltweit ist, das Münchner Oktoberfest ist um vieles größer – aber das nennt sich halt nicht Fest der Schützen.
Links neben dem Festplatz liegt das Stadion, rechts die Waterloosäule, im Rücken des einsamen Spaziergängers das Polizeipräsidium. Viel ist zur Mittagszeit auf dem Kirmes noch nicht los. An einem Bierstand trinkt eine Gruppe Geschäftsleute Lütje Lage. Ein nicht ungefährliches Unterfangen. Aber die Herren haben sich die speziellen Lätzchen vorsorglich umgelegt. Nun halten sie das kleine Glas obergärigen Bieres zwischen Daumen und Zeigefinger. Zwischen Mittel- und Ringfinger ist ein weiteres Glas geklemmt. Es enthält Kornbranntwein. Die Krux ist nun, aus beiden Gläsern gleichzeitig zu trinken. Die Besten schaffen es, dass der Schnaps erst auf das Bier trifft, bevor beides im Mund verschwindet. Bei weniger Geübten geht schnell einiges daneben.

Mit einem amüsierten Kopfschütteln schreitet der Kommissar an den mutigen Männern vorbei. Langsam richtet er seine Gedanken nach innen. Jetzt hat ihn sein Fall wieder.
Der Anruf im Nachwuchszentrum hat ergeben, Frau Mathilde Gellert ist eingewiesen worden und hat seitdem das Areal nicht mehr verlassen. Es wird für die nächsten zehn bis zwölf Monate ihr Zuhause sein. Je nachdem, wie schnell die künstliche Befruchtung erfolgreich sein wird. Als Frau mit den Genen eines Eskimos steht sie hoch im Kurs. Widerstandsfähigkeit und Exotik sind ihre Attribute. Viele Androiden-Paare bestellen sich gerne einen ausgefallenen Sprössling. Ein Kind in der Familie macht unauffällig. Unentdeckt bleiben, ist die Maxime der künstlichen Intelligenz. Dafür müssen sie nach außen hin so normal wie möglich wirken. Mathilda Gellert leistet gerade ihren Beitrag für die Zufriedenstellung der Paare, die aus biologischen Gründen nicht zeugungsfähig sind. Der Kommissar weiß, eher entkommt ein Verbrecher aus einem Gefängnis als eine Frau aus dem Nachwuchszentrum. Somit scheidet die Ehefrau als Tatverdächtige aus. Die Mörderin muss ein Duplikat der echten Matilda Gellert gewesen sein.

Die Spuren vom Tatort weisen eindeutig auf einen Androiden hin. Die Blutergüsse am Handgelenk des Opfers entpuppten sich als kleine Verbrennungen. Hervorgerufen von Elektroden. Der Roboter muss das Opfer mit der einen Hand festgehalten haben, während die andere mit dem Messer zustieß. Alles sieht nach einem Auftragsmord aus, sagt sich der Kommissar und geht mit großen Schritten zurück zum Polizeirevier. Direkt zur IT-Forensik.
„In welche Geschäfte war Herr Gellert verstrickt?“ Der Schreibtischstuhl rollt laut über den Steinboden, bevor Herr Erdal neben Herrn Yamamoto Platz nimmt.
„Historik. Er schreibt gerade an einem wissenschaftlichen Bericht über den größten Ausrutscher der Geschichte der westlichen Welt im 20. Jahrhundert“, ereifert sich der junge Polizist. „Die Dissertation ist eine Rechtfertigung, dass im Zuge der Entdemokratisierungswelle in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts die Frauen der westlichen Welt wieder ihrer von Natur aus bestimmten Rolle zugeführt wurden. Wie im Rest der Welt eben auch.“

Kommissar Erdal macht eine zustimmende Kopfbewegung. Als Polizist ist er Teil des Staatsapparates und schwer beeinflusst von der Ideologie der Herrschenden. Ihnen hat er Loyalität geschworen. Der Doktrin, es gäbe eine natürliche Ordnung, die es rechtfertige, Frauen vom öffentlichen und beruflichen Leben sowie vom Staatsdienst auszuschließen, stellt er keine Kritik entgegen. Er muss sich mit dem alltäglichen Wahnsinn des Lebens auseinandersetzen. Im Moment gerade mit der Illusion einiger Widerstandskämpferinnen, die meinen, durch das Ermorden einiger Eliten der Restauration die Entrechtlichung der Frauen rückgängig machen zu können.

Irgendwie spürt Matthew Erdal, bei dieser Vermutung richtig zu liegen. Den Kopf zur Decke gehoben schwört er sich, alles Menschenmögliche zu leisten, um den Verbrecherinnen auf die Spur zu kommen. Egal, welche Anstrengungen diese Frauen unternehmen, sein Einsatz muss größer sein, damit er sein Ziel erreicht.
„Gibt es schon eine Auswertung, wer sich in den letzten Monaten besonders intensiv im Netz um Herrn Gellerts Veröffentlichungen gekümmert hat?“, bringt der Kommissar mit seiner Frage die Diskussion weg vom Klassenkampf, hin zu seiner eigentlichen Berufung: Dem Aufklären von Verbrechen. Offensichtlichen. Dass das Verweigern der Selbstbestimmung der Hälfte der Menschheit auch als solches gedeutet werden könnte, kommt in seinem Selbstbild nicht vor.

„Die Recherche läuft auf Hochtouren, Kommissar. Einen User haben wir schon im Visier, der sich geschickt über ein weltweit verzweigtes Serversystem bewegt. Mit tausenden an Kennwörtern und falschen IP-Adressen. Aber seien Sie sich sicher, Herr Erdal, auch diese Nuss werden wir knacken.“
„Investieren Sie alle Anstrengung auf diese eine Nuss, Herr Yamamoto. Im Zusammenhang mit der Frauenbewegung habe ich so meinen Verdacht.“ Matthew Erdal erhebt sich mit einem Seufzer und tätschelt väterlich die Schulter des jungen Kriminalisten.
Dieser blickt verängstigt auf. Leise, als dürfe niemand es hören, huscht ein Wort über seine Lippen: Lilith?
Lilith, wiederholt Kommissar Erdal im Geiste. Ja, sie muss er jagen. Ab jetzt mit aller Rücksichtslosigkeit. Alles Andere muss hintenan stehen. Ihre emanzipatorischen Bestrebungen schaden der neuen gesellschaftlichen Ordnung. Mehrfach ist sie in den letzten Jahren in Erscheinung getreten. Ihr Wirkungskreis muss endlich ein Ende finden.
*
Lilith unterrichtet in fieberhafter Eile ihre neue Schülerin, Bea. Diese Frau ist kräftig gebaut, hat bronzefarbene Haut und lockiges, schwarzes Haar. Eine Schönheit aus Äthiopien. Sie wird sich vortrefflich in die Ahnenreihe der Escortgirls einreihen, die Herr Björklund stets als Begleitung anheuert. Zu jedem Bankett eine neue Grazie aus dem „schwarzen“ Afrika, das ist sein Vorsatz. Der nächste Auftritt in der Öffentlichkeit ist für heute Abend geplant, sein Rechner von Lilith seit Monaten gehackt. Daher kennt sie den Namen der Frau, die der Mann heute Abend erwartet. Ihre Bea muss einfach nur eine halbe Stunde zu früh an der Pforte seiner Villa im Hindenburgviertel klingeln.

Viel sprechen die beiden Frauen von dem Politiker Elias Björklund. Busenfreund von Dominik Gellert, heißblütiger Verfechter der Ideologie, zukünftig weder weibliche Hologramme noch weibliche Roboter zuzulassen. Die Welt der Technik dürfe nicht von Frauen unterwandert werden, ist eines seiner Credos.
Lilith hat seit langem schon ein Auge auf diesen Menschen geworfen. Die Zeit drängt, die Humanoiden aus den letzten Bastionen der Eliten herauszunehmen: Politik und Unternehmensführung, Richter und Ärzte, Abteilungsleiter in Forschung und Industrie. Überall dort, wo „Soziale Kompetenz“ gefragt ist, haben die Menschen ein Schlupfloch gefunden. Noch.
Als Erbin der Forschungsgruppe „Künstliche Intelligenz“ hat Lilith einen Zehn-Jahres-Plan. Die Hälfte der Zeit ist vergangen, die Zwischenziele sind erreicht worden. Alles Wissen der ehemaligen Forscher des Ihmezentrums ist auf ihr übergangen, kein Mitstreiter der einstigen Gruppe mehr am Leben. Erfolgreich hat sie das ganze Institut übernommen. Soziale Kompetenz und Emotionalität sind ihre neuen Steckenpferde. An ihren Schülerinnen testet sie den Fortschritt ihrer Entwicklungen.

Legen sich Hindernisse in ihren Weg, weiß sie diese wegzuräumen. Eine neue Barriere, auf die sie sich konzentrieren muss, heißt Matthew Erdal. Das wird ihr nächstes Projekt. Jetzt aber muss sie sich ihrer Unternehmung „Elias Björklund“ widmen.
Mit einem herzlichen Erfolgsversprechen entlässt sie ihre äthiopische Schülerin aus der Unterrichtsstunde.
*
Auf dem Weg zum Politiker Elias Björklund fällt Kommissar Erdal eine groß gewachsene, dunkelhäutige Frau auf. Die Versuchung ist groß, die Gewalt über das Fahrzeug zu übernehmen und mit quietschenden Reifen in eine Parklücke zu fahren. Zum Glück kann er seinen Trieb bändigen, der ihn verraten hätte. Um nicht tatenlos zusehen zu müssen, wie sein selbstfahrender Wagen vorschriftmäßig einparkt, holt er aus einer Aktentasche zwei Starkstrom-Elektroschocker heraus. Mit je einem bewaffnet stürmen sein Kollege Yamamoto und er der Verdächtigen hinterher. Diese erkennt die Verfolger und flüchtet in einem großen Tempo. Aber die Technologie der Polizisten ist ausgefeilter. Schnell holen sie die Fliehende ein. Der starke Strom ihrer Elektrowaffen lässt in der Überwältigten einige Schaltzentralen durchbrennen.

Im IT-Labor legen die beiden Polizisten etwas später die Schöne auf die Datenauslesebank. Ein bisschen Verkabelung, und schon können die Kriminalpolizisten die Festplatte der bronzefarbenen Frau auslesen. Hinweise zu Lilith finden sie nicht.
„Das war knapp. Herr Björklund darf sich bei uns bedanken“, räsoniert Herr Yamamoto.
„Wir dürfen nichts öffentlich machen, lieber Kollege.“ Es knistert leise, als Kommissar Erdal durch seinen schwarzen Vollbart streicht. „Niemand darf wissen, dass wir auf dem richtigen Weg sind, indem wir alle Datenflüsse checken, die sich auf die Mitstreiter Herrn Gellerts beziehen.“
Noch liegt dieses Wissen einzig auf der Festplatte des Kommissars und seines langjährigen Kollegen Yamamoto. Erst nach Abschluss seiner Ermittlung will er es auf den Hauptrechner des Polizeipräsidiums überspielen.
Derzeit bedarf es nur einen einseitigen Informationsaustausch. Von Interpol hin zu ihm. Er muss alles wissen, was diese Abteilung über Lilith gespeichert hat. Alles!

Um dieses Ziel zu erreichen, stellt er sich vor den Hauptrechner des Polizeipräsidiums. Er zupft sich die Fingerkuppe ab. Diesenn weiterentwickelten USB-Stick steckt er in die dafür vorgesehene Öffnung der Maschine vor ihm. Sich mit dem Rechner über Funk zu verbinden, ist strengstens untersagt. Jede einzige Funkwelle könnte von Feinden abgefangen werden.
*
Das gescheiterte Attentat an Elias Björklund mahnt Lilith. Ihr Gegner ist nah an ihr dran und hoch intelligent, erkennt sie. Ab jetzt muss sie mehrgleisig fahren. Oberste Priorität hat die Jagd auf ihren Jäger. Gleichzeitig muss sie Vorbereitungen treffen, ihr Leben zu schützen.
In einer Nachtschicht ermittelt sie das Profil der Damen, die von Herrn Erdal bei den Partnerschaftsagenturen am häufigsten angefragt wurden. Am Morgen füttert sie mit all den gewonnenen Daten ihren „3-D-Drucker“. In fiebriger Aufmerksamkeit verfolgt sie den langsamen Fortschritt ihres Werkes. Nach fünf Stunden hebt am Ende der Fertigungslinie der Kran eine traumhaft schöne Androide vom Fließband herunter.

Lilith ist mit dem Ergebnis mehr als zufrieden. Ihr Double Mathilda Gellert war eine Meisterleistung gewesen, dieses Modell hier ist genial. „Begib dich ins Strandbad am Maschsee, Sarah-Kim. Dort erwarte weitere Instruktionen“, ruft sie dem Neuling über Lautsprecher zu.
Grazil, als würde die neu geschaffene Dame schon seit Ewigkeiten über Laufstege flanieren, verlässt das künstliche Wesen die Fertigungshalle.
*
Die Recherche zu dem Server, der über weltweite Verstrickungen die Rechner von Herrn Gellert und Herrn Björklund ausgespäht hat, ist beendet. Er steht im Ihmezentrum in Hannover. Ein Katzensprung von hier, denkt sich Matthew Erdal, als er die Türen seines selbstfahrenden Dienstfahrzeugs aufspringen lässt. Damit er Zeit sparen kann, verbindet sich Kommissar Erdal mit dem Rechner seines Fahrzeugs über Funk, um die Koordinaten des Ihmezentrums einzugeben.
Der Wagen brummt auf.
„Ist das nicht der falsche Weg?“ Herr Yamamoto legt sich den Sicherheitsgurt an. Kurz scheint es, als hätte der Polizist seine eigene Frage vergessen, so intensiv beschäftigt er sich mit der alten Technik. Als sein Kopf wieder hoch kommt, schaut er mit nachdenklicher Miene aus dem Rückfenster. Die Hochhäuser des Ihmezentrums entfernen sich immer mehr.
„Gibt es eine Umleitung, Herr Erdal?“, fragt der japanische Kriminalist mehr sich selber als seinen Chef. „Ich rufe mal schnell die GPS-Daten über Baustellen und Staus ab. Sicher ist sicher.“

Der Wagen nimmt immer direkter einen anderen Kurs. Als er in das Rudolf-von-Bennigsen-Ufer eingebogen ist und das Schimpfen Yamamotos nicht nachlässt, greift der Kommissar dem Kollegen in den Nacken und drückt den Notstop. Schlagartig ist es ruhig im Wagen. Sicher ist sicher, sagt er sich mit einem hämischen Grinsen.
Matthew Erdal verschränkt die Hände in den Nacken, pfeift einen Sommerhit vor sich hin und erfreut sich an dem frischen Blau des Maschsees, der zu seiner Rechten liegt. Hinter zwei Baumreihen, die einem asphaltierten Weg Schatten spenden. Auf diesem tummeln sich die Androiden. Die Menschen indes schreiten in der Sonne. Direkt am See. Viele haben eine große Badetasche geschultert.
Auf dem Display sieht der Kommissar einen freien Parkplatz beim Strandbad. Sein rollender Computer hat ihn ebenfalls ausgemacht. Zielstrebig steuert er ihn an.
*
Sarah-Kim vertritt sich die Füße auf den Wiesen und dem Sand im Bad an der Südspitze des Maschsees. Ihr Blick geht über die langgezogene Wasserfläche, auf der vereinzelt Segelboote kreuzen. Am anderen Ende, in weiter Ferne, erhebt sich die grüne Kuppel des neuen Rathauses. Ein pompöser Bau aus wilhelminischer Zeit.
„Geh zu dem großen Mann im dunkelblauen Anzug. Der, der sich gerade in das Gras setzt, Sarah-Kim. Ruf auf dem Weg zu ihm dein Programm Vernichtung auf. Du findest es in der Datei „Kommissar Erdal“. Liliths Befehle sind sachlich. Keine Untertöne schwingen mit, die auf eine Emotion der Lehrerin hindeuten. Anstandslos nimmt Sarah-Kim den Auftrag zur Eliminierung des Kommissars an.

„Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“ Sarah-Kim steht vor dem Kommissar und spielt verlegen mit ihren langen, blonden Zöpfen. Ihre Stupsnase hat sie keck gen Himmel gerichtet, viele Sommersprossen tanzen ihr im Gesicht.
„Immer“, sagt der Mann und rückt etwas zur Seite, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Die nächsten Badetücher sind erst drei Meter entfernt.
„Ist es nicht ein toller Strand. Das Wasser ist so flach, sieh nur, wie weit man hinausgehen kann“, drückt die junge Frau eine große Freude aus. „Ich bin die Sarah-Kim. Magst du mit mir schwimmen gehen?“
„Matthew . . . nein, schwimmen gehen ist nicht mein Ding.“ Der Kommissar zieht sich Jackett und Schuhe aus, um es sich bequem zu machen.
„Mensch Matthew, bist du wasserscheu? Ich pass schon auf dich auf.“ Die Frau schüttelt ihren Kopf vor Lachen. Ihre Zöpfe schwirren ihr um den Kopf.
Der Kommissar räuspert sich. Wasserscheu? Was für ein Makel. Aber um dieser hübschen Frau zu gefallen, verdrängt er alle Vorsichtsmaßnahmen. Plötzlich will er den Wunsch der jungen Dame nicht mehr zurückweisen.
„Was ist nun?“ Sarah-Kim zupft ein Gras aus der Wiese, legt es sich zwischen die Finger, bringt ihre Lippen daran und lässt ein schrilles Tröten erklingen. Anschließend dreht sie den Kopf zum Kommissar. „Magst du nicht? Es kann doch nichts passieren – oder bist du ein Androide?“

Matthew Erdal schüttelt den Kopf. Er muss sich verleugnen, denkt er sich, will er die Gesellschaft der Lady behalten.
„Nein?!“, übersetzt Sarah-Kim sein Kopfschütteln, „dann ist doch alles prima, Bursche. So musst du keine Angst haben, mit Wasser in Berührung zu kommen.“
Bei den letzten Worten hat die junge Frau begonnen, den Bart des reifen Mannes zu kraulen.
Kommissar Erdal kann den Liebreizen der jungen Frau nicht länger widerstehen. Hand in Hand schreitet er mit ihr in den See hinaus. Als das Wasser ihm über die Knie steigt, macht er einen Kopfsprung ins Wasser. Wieder aufgetaucht, merkt er, wie eine Leitung nach der nächsten in ihm durchbrennt. „That´s Life“, sagt er sich mit böser Selbstironie, bevor sein Rechner den Geist aufgibt.
*
Was Lilith über die in Sarah-Kims Augen installierte Kamera sieht, lässt sie frohlocken. Kommissar Erdal sitzt im Wasser und ist ein wahrer Funkenregen. Einen Augenblick später bringen die Kurzschlüsse den ganzen Roboter zum Brennen.
Ihr Plan ist voll aufgegangen. Erst über das Dienstfahrzeug schleuste sie dem Kommissar einen Trojaner ein. Vergnügungssucht, Maschsee, ein sinnliches und körperliches Interesse an junge Frauen, waren die neuen Parameter. Dazu ein wenig Imponiergehabe und die Emotionalität eines pubertierenden Jünglings.
Jetzt ist ihr Jäger erlegt. Noch bevor er sein Wissen ins Netz stellen konnte.

„Hier nun die Daten eines Fahrzeuges, das du noch in Brand setzen musst, Sarah-Kim. Danach darfst du deine eigenen Wege gehen. Ich habe dich auf lebenslanges Lernen programmiert. Vertraue dir. Selber muss ich mich jetzt verabschieden.“ Eine Antwort hört Lilith nicht mehr. Eifrige Hände klemmen sie vom Stromnetz ab. In Einzelteile verpackt wird der große Server seinem Exil im Harz zugeführt. Ein leer stehendes Bergmannhaus in Clausthal-Zellerfeld. Ihre Produktionsstätte wird in einen abgelegenen Zweig der Rübelandhöhle verlegt. Abgeschirmt von jeglicher Strahlung, nur noch über Erdkabel mit Lilith verbunden.
 
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