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Die Kinder von Brühl 18/Teil 3/Die Russen und die Neue Zeit/Episode 3/Der alte Bergman und die neuen Nachbarn

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Episode 3

Der alte Bergmann und die neuen Nachbarn

„Der alte Bergmann ist gestorben.“ Else reichte Rosi einige kleine Wäschestücke von der dicken Leine. „Leg sie einfach in den Korb“, sagte sie. „Sortieren können wir dann später. Und ordentlich zusammenlegen. Richards Sachen nehme ich.“
Rosi legte die Wäschestücke, die Else ihr reichte, in den großen, aus Weiden geflochtenen, Wäschekorb.
„So“, sagte sie. „Na ein Glück.“
„Wieso ein Glück?“, wunderte sich Else. „So ein Glück ist es ja auch wieder nicht. Wenn jemand stirbt. Und soo alt war er ja auch wieder nicht. Und krank auch nicht.“
„Und trotzdem ist es ein Glück“, beharrte Rosi.

Für Rosi war es wirklich ein Glück, dass der alte Bergmann, wie er von allen genannt wurde, gestorben war, obwohl er, wie Else sagte, ja noch nicht soo alt gewesen war. Wenn Rosi an ihn dachte, bekam sie das große Gruseln. Der Mann war etwas dicklich. Er hatte ein rundes Vollmondgesicht. Keine Haare auf seinem immer glänzenden Kopf. Dafür aber dicke, fleischige Hände, die Rosi immer an eine faulige Kartoffel erinnerten. Wie oft hatte Else von ihr verlangt, mit in seinen Garten zu gehen.
Der alte Bergmann hatte seinen Garten am Alten Bach. Um zu ihm zu gelangen, musste man über den schmalen Bach springen. Für Rosi und die anderen Kinder war das ein Leichtes. Ab und zu lag auch ein Holzbrett über dem niedrigen Wasser des Baches und führte von einem Ufer zum anderen. So etwas Ähnliches wie eine kleine Holzbrücke.
An den Ufern entlang der Gärten wucherte meterhohes Gras. Vom Frühling bis zum Herbst blühten wilde Blumen. Tummelten sich Schmetterlinge in allen Formen und Farben. Bienen und Hummeln summten überall herum. Grillen zirpten im Sonnenschein. Frösche quakten im flachen Wasser und lauerten auf ihre Beute. Eidechsen sonnten sich auf den wenigen Steinen an den Ufern. Ab und zu waren auch einige Blutegel in dem klaren Wasser zu sehen. Allerdings verschwanden sie im Herbst. Sie suchten sich ein tieferes Gewässer. Vielleicht den Alten Teich. Da fror das Wasser im Winter nicht ganz durchgehend zu und sie konnten überleben. Das Wasser im Alten Bach war im Winter eine einzige Eisscholle. Eine unbewegliche. Und die Vögel, die es zuhauf gab, waren verstummt. Sie nisteten in den unterschiedlichsten Bäumen in den Gärten. Wenn sie dann im Frühling ihre Jungen bekamen, nahm das Singen und Zwitschern kein Ende.

Die Holzbrückchen benutzten meist die älteren Leute, die über diese in ihre Gärten gelangen konnten.
In dem Garten von dem alten Bergmann standen zwei uralte, knorrige Weidenbäume. Darauf durften die Kinder nach Herzenslust herumklettern. Sie durften auch passende Zweige für ihre Flitzebogen abschneiden. Mit einer Baumschere aus dem wackligen Schuppen. Das Beste in dem Garten war ein riesengroßes Gemüsebeet. Wegen dieses Beetes schickte Else Rosi in den Garten. „Du kannst dem alten Bergmann ja etwas Gesellschaft leisten“, sagte Else zu Rosi, wenn sie ein Gesicht zog und nicht mit wollte. „Er findet dich ja so niedlich“, fügte sie hinzu.
Also gehorchte Rosi. Widerwillig zwar. Doch es blieb ihr nichts anderes übrig. Else duldete keine Widerrede. "Wie heißt das vierte Gebot?“, fragte sie streng, wenn Rosi wagte, zu widersprechen.
„Du sollst Vater und Mutter ehren“, antwortete Rosi geknickt, „sie achten und lieben. Auf dass du lange lebest in dem Lande, dass dir dein Herr und Gott gegeben hat.“
„Na also“, war Else zufrieden. „Und nun ab mit dir.“

Der alte Bergmann packte immer einige Salatköpfe, Petersilie, Schnittlauch und anderes Gemüse in Rosis Spankorb. Das war wohl das Wichtigste für Else.
Eines Tages hatte Rosi ein Erlebnis mit dem alten Bergmann. Keine zehn Pferde hätten sie danach wieder in seinen Garten gezwungen. Eltern lieben und ehren. Schön und gut. Aber Gott wollte bestimmt nicht, dass es den Kindern schlecht geht. Jesus hatte gesagt:
"Lasset die Kindlein zu mir kommen. Und wehret ihnen nicht." Damit meinte er wohl, dass die Kindlein zu guten Menschen kommen sollten. Denn Jesus war ein guter Mensch. Der alte Bergmann aber nicht. So.
*
Es war vor zwei Jahren. Und ein wunderschöner Frühlingstag. Nachdem der alte Bergmann das Gemüse in den Korb gelegt hatte, streichelte er plötzlich mit seiner fauligen Kartoffelhand Rosis Wangen. „Du siehst aus wie Blume“, grunzte er. „In deinem luftigen gelben Kleidchen. Du bist so lustig wie ein Schmetterling, der sich auf die Blume setzt“, grunzte er weiter. Dabei hob er Rosis gelbes Kleidchen in die Höhe. Im selben Moment spürte sie die eklige Hand auf ihrem Popo. Im ersten Moment war sie wie erstarrt. Doch dann stieß sie die faulige Kartoffelhand empört weg. Mit einem Satz sprang sie über das Bächlein und lief, so schnell sie konnte, den kurzen Weg in Brühl 18.
Zum Glück war niemand im Haus. Alle ausgeflogen. Panisch rannte Rosi die weiße Treppe hinauf. Im Verschlag kauerte sie sich unter den Dürerhasen. Sie schlang die Arme um ihre Knie und schaukelte empört, und zutiefst verletzt, hin und her.
Instinktiv ahnte Rosi, dass der alte Bergmann etwas getan hatte, was man nicht tun durfte. Dass es eine Sünde war. Und nicht gottgefällig.
„Gott wird dich bestrafen“, flüsterte Rosi immer wieder vor sich hin. „Ganz bestimmt. Gott wird dich bestrafen.“

Rosi erzählte Else nicht von dem Geschehen. Sie würde ihr ja sowieso nicht glauben. Bestimmt würde sie sagen, wie so oft schon, wenn ihr irgendetwas nicht passte oder nicht ganz geheuer vorkam, sie solle keine Lügenmärchen erzählen. Oder sie hätte eine ausufernde Fantasie. Oder noch schlimmer. Manchmal sang sie auch: "Du bist verrückt mein Kind. Du musst nach Berlin. Wo die Verrückten sind, da gehörst du hin."
Else hatte schon einen seltsamen Humor.
"Ich bin nicht verrückt", sagte Rosi beleidigt. "Und zu den Verrückten in Berlin will ich schon gar nicht."
"Dann bleibst du halt hier", freute sich Else. "Ist auch besser so. Sonst kommst du noch unter die Räder. So neugierig, wie du immer bist."

Doch, wie es das Schicksal so wollte, landete Rosi tatsächlich eines Tages in Berlin. Dem verrückten Berlin. Dem Berlin mit seinen verrückten Menschen. Seinen liebenswerten Menschen. Dem Berlin, das Rosis zweite Heimat wurde. In dem sie wegen ihrer Neugier unter die Räder kommen
würde.
Doch das ist eine andere Geschichte.

Rosi ist nie wieder mit in den Garten von dem alten Bergmann gegangen. Auch wenn Else noch so sehr geschimpft und ihr sogar einige Ohrpfeifen verpasst hatte. So sehr ärgerte sie sich darüber.
Es war ein gutes Gefühl, sich auch einmal durchgesetzt zu haben. Gott hätte es bestimmt auch so gewollt. Gott wollte, dass es den Kindern gut gehen sollte.
Der alte Bergmann hatte seine gerechte Strafe bekommen. Gott hatte ihn mit dem Tode bestraft.

*

„Welch ein Glück. Gott hat ihn gestraft“, sagte Rosi jetzt zu Else.
„Wieso gestraft?“, wunderte sich Else.
„Nur so.“ Fröhlich lief Rosi zu der Bank unter dem Zwetschgenbaum. Sie stellte den Korb mit der Wäsche darauf und fragte Else: „Und was ist nun mit dem Haus. Das steht doch jetzt leer?“
„Ja“, sagte Else, „das Haus steht leer. Der alte Bergmann hatte ja keine Verwandten. Und eine Frau hatte der wohl auch nie. Ich habe gehört, dass da eine Flüchtlingsfamilie einziehen soll. Na, mal sehen.“

Tatsächlich zog kurze Zeit später eine Flüchtlingsfamilie in das Haus von dem alten Bergmann. Frau Schwede mit ihren Kindern Gitta und Lothar. Sie kamen aus dem Sudetenland, wie es hieß, und hatten einen langen abenteuerlichen Weg hinter sich.

*

Ungefähr 14 Millionen Menschen flüchteten nach Kriegsende nach Deutschland. Sie kamen aus Ostpreußen. Aus Schlesien. Und dem Sudetenland. Von Mai bis Juli 1945 wurden rund 800.000 Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben. Ihr Ziel waren die Grenzorte in Sachsen und Bayern. Besonders betroffen war Görlitz. Über 60.000 Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten suchten 1945 eine neue Heimat in Görlitz. Damit war die Stadt, die den Krieg noch relativ unbeschadet überlebt hatte, völlig überfordert.
Die Flüchtlinge campierten auf den Wiesen vor dem Neißefluss oder sie versuchten, in den Notunterkünften, die die Stadt den Vertriebenen anbot, unterzukommen. Doch schon bald brach die Lebensmittelversorgung zusammen. Eine schreckliche Hungersnot brach aus. Es gab kein Wasser. Es gab keinen Strom. Es gab keine medizinische Versorgung. Die Menschen wurden krank. Viele starben an Hungertyphus. An der Ruhr. Scharlach. Tuberkulose. Völliger Entkräftung. Die Flüchtlinge bekamen Läuse. Flöhe. Wanzen. Besonders groß war das Elend der Kinder. Es war so schlimm, dass die Stadtverwaltung dramatische Appelle an die Flüchtlinge richtete und sie bat, die Stadt wieder zu verlassen.
In einem Flugblatt der Stadtverwaltung vom 30. Juni 1945 heißt es:

"Die früher als gastfreundlich bekannte Stadt Görlitz ist infolge der Kriegsereignisse nicht mehr in der Lage, Flüchtlingen und Ortsfremden Obdach zu bieten. Die Wohnungsnot und die Ernährungslage verbieten jeden Zuzug und jedes weitere Verbleiben im Stadt- und Landkreis Görlitz! Da die Grenze nach Osten geschlossen bleibt, ergeht an alle Flüchtlinge und Ortsfremde die Aufforderung, innerhalb von 48 Stunden Görlitz zu verlassen!"

Diesen verzweifelten Appell hatte Görlitz' Oberbürgermeister Alfred Fehler unterzeichnet. Noch im selben Jahr starb er selbst an Hungertyphus und teilte das Schicksal der Menschen in der Stadt. So durften dann in den Flüchtlingslagern der Stadt die Flüchtlinge nur noch einen Tag Rast machen. Dann wurden sie weitergeschickt. Verpflegung gab es ohnehin nicht mehr. Die Flüchtlinge waren sich selbst überlassen.
Ein Pfarrer, Wendelin Siebrecht, beschrieb die dramatische Lage mit einer Metapher:

"Unsere Stadt ist wie ein Rettungsboot, das sechs Leute fasst, aber mit zehn Leuten besetzt ist. Zwanzig weitere kommen angeschwommen. Wenn wir die zehn retten wollen, müssen wir die zwanzig abweisen. Wir können nicht mehr anders, wir müssen hart sein."

Siebrecht spürte allerdings auch die Grausamkeit dieser willkürlichen Entscheidung. Es fiel ihm unsäglich schwer, täglich über Leben und Tod richten zu müssen. Seine Schlussfolgerung war: Es müssen neue Rettungsboote herangeschafft werden, eine Aufgabe, für die das ganze deutsche Volk bereit sein musste.

*

Einige Wochen hatte Frau Schwede mit ihren Kindern in Görlitz in einem Zeltlager gelebt. Dann musste sie, wie viele andere auch, die Stadt verlassen.
Frau Schwede sah aus, wie die Frauen auf alten Gemälden. So kleidete sie sich auch. Ihre Kleider, die sie selbst nähte aus ausgemusterten Stoffen, Gardinen oder Vorhängen, die sie immer wieder irgendwo fand, waren hauteng. Sie betonten vorteilhaft ihren Busen und ihre schlanke Taille.
Frau Schwede war immer fröhlich und freundlich. Rosi hatte sie nie mit ihren Kindern schimpfen hören. Auch nicht, wenn sie mal wieder irgendetwas angestellt hatten. Einen Gott schienen sie aber nicht zu haben. Jedenfalls redeten sie und ihre Kinder nie von ihm. Sie freuten sich, dass sie lebten. Dass sie die Flucht überstanden hatten. Und vor allem die schreckliche Zeit in Görlitz. Jetzt wollten sie in Buttstädt ein neues Leben beginnen.


***

Fortsetzung folgt
 
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Kommentare  

Hallo liebe Evi, danke für den Kommentar. Darüber
freue ich mich natürlich sehr.
Gruß


rosmarin (20.02.2023)

Gut dokumentiert aus der Warte eines kleinen Mädchens. Hat mir wie immer gefallen.

Evi Apfel (19.02.2023)

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