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Die Kinder von Brühl 18/ Teil 3/ Die Russen und die Neue Zeit/Episode 15/Die Steinfliegen und die Kleine weiße Friedenstaube

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Episode 15

Die Steinfliegen und die Kleine weiße Friedenstaube

Bisher war der Winter in diesem Jahr ziemlich mild. Jedenfalls hatten sich noch keine Eiszapfen vor dem Plumpsklo angesammelt. Und Eisblumen an den Fensterscheiben waren auch nicht zu sehen. Nur die vielen Fliegen hatten sich schon eingerollt. Das war ein Zeichen für den nahenden Winter. Die noch vor kurzem so nervigen Fliegen sahen aus wie kleine Steine. Überall im Haus lagen sie herum. Man musste aufpassen, dass man nicht auf sie trat und vielleicht noch ausrutschte. Und damit dies nicht passierte, hatte Rosi wieder eine tolle Idee.
„Ich habe eine tolle Idee“, sagte Rosi zu Jutta und Karlchen.
„Schon wieder eine?“, fragte Jutta. „Ich habe noch von der letzten genug. Irgendwann wird alles rauskommen.“
„Mama hat es bestimmt vergessen“, war Karlchen sicher. „Ich habe gar nicht mehr daran gedacht.“
„Na bitte“, sagte Rosi. „Wollt ihr die neue Idee nun wissen. Oder nicht.“
Natürlich wollten Jutta und Karlchen wissen, was Rosi wieder ausgeheckt hatte. Wie sie sich ausdrückten.
„Also“, sagte Rosi, „die schwarzen Steine, die hier überall herumliegen, sind gar keine Steine.“
„Keine Steine?“ Ungläubig rollte Jutta mit den Augen. „Keine Steine“, wiederholte sie. „Was dann?“
„Vielleicht kleine Kohlestückchen“, vermutete Karlchen. „Vielleicht sind die aus dem Kohlensack gefallen. Von dem, den der Richard neulich mitgebracht hat.“
„Nein“, sagte Rosi mit geheimnisvoller Miene.
„Und was dann?“, fragte Karlchen.
Rosi machte eine kleine Pause, bevor sie siegessicher flüsterte: „Fliegen.“
„Fliegen? Du spinnst doch“, zweifelte Jutta.
„Es ist wahr“, klärte Rosi Karlchen und Jutta auf. „Die Fliegen stellen sich tot. Sie versteinern sozusagen. Und halten somit ihren Winterschlaf.“
„Und woher willst du das wissen?“ Jutta schüttelte ungläubig ihren Kopf. „Totstellen.. Versteinern“, sagte sie. „Wie im Märchen.“
„Und dann vielleicht wieder aufwachen“, spottete Karlchen.
„Genauso ist es“, ließ Rosi sich nicht beirren. „Das habe ich in meinem Biologiebuch gelesen. Da muss es ja stimmen.“
„Und wohin nun mit den Steinfliegen“?, wollte Karlchen wissen. „Liegen bleiben können sie ja wohl nicht.“
„Das ist ja meine tolle Idee“, sagte Rosi triumphierend. „Die Fliegen kommen auf den Mist. Da können sie in Ruhe ihren Winterschlaf halten.“
„Und im Frühling wieder erwachen“, freute sich Jutta.
„Genau“, war Rosi zufrieden. „Wir sammeln die Steinfliegen auf. Und wer die meisten gesammelt hat, ist Fliegensammelsieger.“
„Dann man zu“, sagte Karlchen. „Aber leise sein. Damit Mama und die Kleinen nicht aufwachen.“

Der Scherz mit den vier Scheiben Brot am Tag schien Else so gut gefallen zu haben, dass sie ihn wahr gemacht hatte. Seit einiger Zeit gab es tatsächlich nur noch vier Scheiben trocken Brot für Rosi, Jutta und Karlchen. „Ich kann nicht mehr so früh aufstehen“, hatte Else den Kindern lakonisch mitgeteilt. „Ich schlafe solange, bis die Kleinen aufwachen.“
Die Kleinen waren Berti, Gitti und Walti. Sie wachten allerdings meistens schon gegen fünf oder sechs Uhr auf. Wenn Else sie dann versorgt hatte, legte sie sich wieder hin. Und frühstückte nicht mehr, wie sonst, mit den Großen. Also mit Rosi, Jutta und Karlchen.
„Ihr seid schon groß“, hatte sie gesagt. „Ihr könnt euch um euch selbst kümmern.“ Und zu Rosi gewandt: „Du bist die Älteste und hast die Verantwortung. Klar?“
Klar. Else schnitt am Abend zwölf Scheiben Brot von einem großen Laib Brot. Sie legte sie auf einen Teller und stellte ihn auf den Tisch. Dazu eine Kanne Muckefuck und eine große Dose mit Zucker. Daneben drei kleine Teller und drei Löffelchen.
„Teilt euch die Portion gut ein“, sagte Else. „Es gibt erst am Abend wieder was zu essen.“
Manchmal teilten sich die Kinder das Brot ein in zwei Mahlzeiten. Manchmal tunkten sie die Brotscheiben in ihre Tasse mit dem Muckefuck und streuten reichlich Zucker darüber. Manchmal vergaßen sie das Frühstück ganz. So wie heute. Da war ja Steinfliegensammeln angesagt.
Die schlafenden Fliegen mussten auf den Mist. Vor dem jetzt kahlen Fliederstrauch. Vor Schmids niedriger Mauer.
„Oh Schreck“, sagte Rosi nach kurzer Zeit. „Die Schule.“
Heute war doch ein ganz besonderer Tag. Der 13. Dezember. Der Pioniergeburtstag!
*
Die Zeit bis zum Pioniergeburtstag war ziemlich schnell vergangen. Wie im Fluge. Heute sollte für Rosi und die ganze Klasse ein ganz besonderer Tag werden. Sie sollten feierlich in die Gemeinschaft der Jungen Pioniere, die vor einem Jahr gegründet worden war, aufgenommen werden.
Die Kinder holten ihre Ranzen und rannten zur Schule. Diesmal nahmen sie den kürzeren Weg über die Windhöfe. Vorbei an Metzners Sattlerei. Als sie das Schultor erreichten, war es höchste Zeit. Es hatte schon zweimal geläutet. Beim dritten Mal schloss der Hausmeister das Tor ab. Wer jetzt noch kam, kam nicht mehr rein. Er wurde als Schulschwänzer abgestempelt. Das konnte im Zeugnis vermerkt werden. Also waren immer alle Kinder pünktlich.

Fast gleichzeitig mit Herrn Rau betrat Rosi das Klassenzimmer. „Nun wird es aber höchste Zeit“, tadelte Herr Rau. „Du bist doch sonst immer pünktlich Rosi.“
„Ich musste doch erst noch die Steinfliegen auf den Mist bringen“, entschuldigte sich Rosi kleinlaut.
Bei dieser Entschuldigung brachen alle Kinder in lautes Gelächter aus. Steinfliegen. Das konnte ja nur von Rosi kommen.
„Rosi hat recht“, verteidigte Herr Rau Rosi. „Kurz vor Wintereinbruch paaren sich noch schnell die Fliegen und auch andere Insekten. Dann fahren sie ihren Stoffwechsel herunter und bereiten sich auf den Winterschlaf vor. Aber wenn es zu kalt wird“, wandte er sich wieder an Rosi, „könnten die Steinfliegen auf dem Mist erfrieren.“
Damit war das Thema beendet.
Rosi setzte sich auf ihren Platz. Die Klasse hatte sich wieder beruhigt.

Die Wand hinter dem Lehrerpult, da, wo früher das Hitlerbild hing, schmückte heute ein blaues Tuch mit einer riesigen weißen Taube. Daneben prangte die neue Fahne der DDR. Schwarz. Rot. Gold. In der Mitte Hammer und Zirkel. Umgeben von einem goldgelben Ährenkranz.
Vor der Fahne lagen auf einem kleinen Podest einige Wimpel der FDJ. Also der Freien Deutschen Jugend. Auch der Jungen Pioniere. Daneben lag eine Trommel.
Feierlich trat Herr Rau hinter den Lehrertisch. In der Klasse war es mucksmäuschenstill, als Herr Rau mit seiner Rede begann:
„Heute ist ein ganz besonderer Tag für Euch Kinder“, sprach Herr Rau in seiner ruhigen, bedächtigen Art. „Heute werdet ihr in die Gemeinschaft der Jungen Pioniere aufgenommen. Und zwar in der nächsten Stunde. Doch vorher wird euer ehemaliger Klassenlehrer, Herr Mayer mit Y, mit euch das Lied von der Kleinen weißen Friedenstaube einüben. Das könnt ihr dann nach der Aufnahme in die Jungen Pioniere gemeinsam singen. Soll es euch Wegweiser für euer ganzes Leben sein.“

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. „Er ist schon da“, freute sich Herr Rau. „Herein bitte“, sagte er.
Die Tür öffnete sich. In der Klasse stand Rosis Lieblingslehrer. Herr Mayer mit y. Jung und schön. Wie eh und je. Durch die Klasse ging ein leises Raunen. Alle Kinder standen auf. „Guten Morgen Herr Mayer mit y“, begrüßten sie den Lehrer im Chor. Kein Kind hatte vergessen, wie er die Klasse durch die schwierigen Jahre geführt hatte. Er hatte sie gelehrt, dass Vergangene zu akzeptieren und frohen Mutes in die Zukunft zu blicken.
Mit seiner Flöte in der Hand trat Herr Mayer mit y vor seine ehemalige Klasse. „Ich freue mich“, sagte er, „euch alle gesund und munter hier zu sehen. Zum Anlass dieses wichtigen Tages will ich mit euch das Lied von der Kleinen weißen Friedenstaube einüben. Wer kennt das Lied schon?“
Kein Kind meldete sich. Dann hob Rosi zaghaft ihren Finger.
„Ja? Rosi?“, fragte Herr Mayer mit y.
„Das Lied kenne ich nicht“, sagte Rosi. „Aber die Friedenstaube.“
„Na, dann erzähl mal“, forderte Herr Rau, der neben Herrn Mayer mit y getreten war, auf.
„Es ist eine Geschichte aus der Bibel“, sagte Rosi. Von der Sintflut. Die hat Gott auf die Erde geschickt, weil die Menschen schlecht waren und seinen Geboten nicht gehorchten. Deshalb ließ es es vierzig Tage lang regnen. Nur Noah mit seiner Familie und seinen Tieren, von jedem Tier ein Paar, durfte er mitnehmen. In die Arche, die er bauen sollte. Als er damit fertig war, regnete es unaufhörlich. Es regnete. Und regnete. Und regnete. Es wollte gar nicht mehr aufhören, zu regnen. Die Arche stieg und stieg. Höher und höher. Und die Erde unter der Arche verschwand. Alles, was einst da war, war nicht mehr zu sehen. Häuser. Menschen. Tiere. Landschaft. Alles.“
Rosi holte tief Luft. Dann sagte sie, etwas empört: „So böse war Gott. Er ließ die Menschen auf der Erde einfach ertrinken. Erst nach vierzig Tagen hörte es auf, zu regnen. Die Arche war auf einem hohen Berg gelandet. Da schickte Noah eine Taube hinaus in die Welt. Kurze Zeit später kam die Taube mit einem Ölzweig im Schnabel zurück. Da wusste Noah, dass Gott mit den Menschen wieder Frieden schließen wollte. Und ein weiteres Zeichen dafür war der Regenbogen. Der plötzlich am Himmel erschien. Als Zeichen dafür, dass es nie wieder eine Sintflut geben sollte.“
„Wunderbar“, lobte Herr Rau. „Nach dieser biblischen Geschichte hat wohl der Maler Picasso seine Friedenstaube, von der hier die Rede sein wird, gemalt. Wollen Sie bitte fortfahren Herr Kollege“, wandte er sich an Herrn Mayer mit y.“
„Aber gerne“, sagte Herr Mayer mit y. „Eine Kindergärtnerin, eine Erika Schirmer aus Nordhausen, hat zufällig ein Plakat vom Weltfriedenskongress in Paris gesehen. Ein Einzelhändler hatte es in dem völlig zerstörten Nordhausen anstelle einer Fensterscheibe an sein Haus geklebt. Auf dem Plakat war eine Sowjetische Briefmarke von 1981, die Picasso und seine Friedenstaube aus dem Jahr 1949 darstellt, zu sehen. Magisch von dem Plakat angezogen, blieb die Kindergärtnerin davor stehen. ‚Ich habe gedacht‘, soll sie gesagt haben, ‚du sollst fliegen, Friedenstaube, allen sag es hier, dass nie wieder Krieg wir wollen, Frieden wollen wir‘. Ich habe das Lied dann im Kindergarten meinen Kindern vorgesungen. Meine Praktikantinnen haben das Lied mitgenommen, und so ist es eigentlich verbreitet worden.“

„Ja“, sagte Herr Mayer mit y, „so begann der Siegeszug der Kleinen weißen Friedenstaube durch die ganze Welt.“ Herr Mayer mit y trat einige Schritte in den Gang. „Seid ihr bereit Kinder?“, fragte er. „Wollt ihr das Lied lernen?“
Natürlich wollten alle Kinder das Lied lernen. Das Lied der Kleinen weißen Friedenstaube. Das um die ganze Welt ging.
„Ja!“, riefen die Kinder im Chor.
„Es ist auch leicht und schnell zu lernen“, versprach Herr Mayer mit y. „Es hat einen ganz einfachen Text. Und auch eine einfache Melodie. Wie ein richtiger Ohrwurm“, lachte er. „Dafür aber sehr aussagekräftig.“
Herr Mayer mit y spielte auf seiner Flöte die Melodie. Herr Rau schrieb den Text an die Tafel. Die Kinder übten Vers um Vers und sangen hingebungsvoll zu dem Flötenspiel.

Kleine weiße Friedenstaube
Fliege übers Land
Allen Menschen, groß und kleinen
Bist du wohlbekannt

Du sollst fliegen, Friedenstaube
Allen sag' es hier
Dass nie wieder Krieg wir wollen
Frieden wollen wir

Fliege übers große Wasser
Über Berg und Tal
Bringe allen Menschen Frieden
Grüß sie tausendmal

Und wir wünschen für die Reise
Freude und viel Glück
Kleine weiße Friedenstaube
Komm recht bald zurück

***

Fortsetzung folgt
 
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