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Tussen de meeren, Teil 5 von 6 - ERWACHEN

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Daniela öffnete mühsam ihre Augen. Oh je, es tat ihr weh. Außerdem konnte sie kaum etwas erkennen und sie wusste absolut nicht, wo sie war. Sie richtete sich benommen auf und dabei wurde ihr etwas schwindelig. Wo zum Geier war sie? Und was war passiert? Sie hatte irgendwie kein gutes Gefühl. Doch mit all ihrer Kraft schaute sie dann näher hin:
Vor sich sah sie das Meer, genauer gesagt, den Hafen. Der gele Dolfijn schaukelte sachte vor ihr und kein Mensch war darauf zu sehen. Also saß sie am Strand oder am Kai. Es musste früh am Tag sein, denn die Sonne stand noch tief am Horizont, aber sie verhieß trotzdem schon große Hitze.
Ihr Schädel brummte, Hilfe, wie konnte man nur so viel saufen, wie konnte man nur? Dann stutzte sie. Was war sonst noch passiert? Irgendetwas schwante ihr, etwas Unangenehmes, etwas grässlich Peinliches ...
"Geht's dir besser?" Jemand beugte sich gerade besorgt über sie. Oh je, ausgerechnet Volker saß neben ihr. Einerseits beruhigend, andererseits... Oh nein, wieder überkamen sie ungewisse Ahnungen von irgendetwas.
"Wie spät ist es?", fragte sie immer noch benommen und überaus zaghaft.
"Sechs Uhr am Morgen", sagte Volker
"Ich ...", sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn allmählich dämmerte ihr einiges, wenn auch nur verschwommen. Aber schlimm genug war es trotzdem. Wenn ihr jetzt noch Einzelheiten einfallen würden, dann konnte sie sich gleich einsargen lassen. Doch kaum hatte sie dies gedacht, fielen ihr ein paar Einzelheiten ein, und zwar in allen peinlichen Variationen.
"Wo ist U-boot Jochen abgeblieben?", fragte sie aus dem Nebel der Erinnerung heraus. Hilfe, das wollte sie gar nicht wissen, aber es war eine gute Ausrede, um von ihr selber abzulenken. Da gab es nämlich Schlimmeres. Peinlicheres ...
"Der hat sich mit einer holländischen Maid aus dem Staub gemacht", sagte Volkers Stimme gerade. "Maid himself me not you not out of the dust", bei diesen Worten musste er grinsen und Daniela fand es zwar auch witzig, dieses grauenhafte Englisch, aber sie konnte nicht darüber lachen, denn da wartete einiges im Hintergrund auf sie.
Volker fuhr fort: "Aber er wird schon bald wieder unter uns weilen."
Als ob sie das interessieren würde ...
Oh je, ihr fiel gerade noch viel mehr ein. Der Vorhang des erbarmungsvollen Vergessens wurde Stück für Stück gerade vor ihr hochgezogen. Danke schön dafür, Gehirn! Denn das, was ihr gerade zu Bewusstsein kam, war unmöglich:
Sie hatte sich benommen wie eine läufige Hündin, hatte sich Volker an den Hals geworfen, hatte ihre Brüste an ihm gerieben. Sie wollte es, sie wollte mit ihm schlafen, wollte es mit ihm treiben, wollte ihn spüren, wollte wissen, wie er war.
Atemlos hörte sie auf zu denken. Aber das klappte nicht, denn sie musste weitergrübeln. Und es wurde immer schlimmer:
Sie hatte sogar vor einem Hotel Halt gemacht, um nach einem Zimmer zu fragen. Nein, um Himmels Willen nein! Das war alles so peinlich!
Denn Volker wollte es wohl nicht. Er hatte sie sanft zurückgewiesen. Und dabei fühlte sie doch, dass er es wollte oder sie wollte. Konnte sie sich so irren? Es musste der Alkohol gewesen sein, der sie so verrückt gemacht hatte. Mit Sicherheit war es der Alkohol und jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass Volker die Sache vergessen würde. Oder schon vergessen hatte. Furchtbar, furchtbar alles, sie war eben kein junges Mädchen mehr, nicht mehr anziehend genug und außerdem überaus dämlich.
Natürlich war es auch verletzend gewesen, abgewiesen zu werden. Und das, obwohl sie sich Volker auf dem fast nackten Präsentierteller gezeigt hatte ...
Er hatte sie verschmäht! Das kam ihr gerade zu Bewusstsein. Und das war ja wohl die übelste Art, eine Frau in ihre Schranken zu verweisen. Sie war ein Nichts. Niemand würde sie mehr attraktiv finden. Sie war alt, unscheinbar und absolut nicht begehrenswert. Damit musste sie sich abfinden, aber es tat weh, es tat so verdammt weh!
Sie sammelte ihre Gedanken, wollte den Frust einfach vergessen, aber das klappte natürlich nicht.
"Ich glaube, ich war ziemlich besoffen", sagte sie schließlich ganz leise. Hoffentlich war ihre Freundschaft jetzt nicht im Eimer durch diese blöde Aktion, sie wusste nicht, ob sie das ertragen könnte. Kein Volker mehr in ihrem Leben? Oh nein, das ging doch nicht! Sie senkte ihren Blick und vermied es, Volker anzuschauen.
"Ach vergiss es!" Volker lächelte wieder. "Ich glaube, wir alle hatten schon mal das Vergnügen ..."
"Ach ja?" Daniela schaute ihn fragend an. "Welches Vergnügen meinst du denn?"
"Das Saufen, Daniela. Das Saufen und vor allem das Schönsaufen ..."
Oh je, er nannte sie bei ihrem Namen und nicht 'mein Mädel'. Das war voll ernüchternd und trieb ihr den Restalkohol aus dem Kopf. Sie war also nicht mehr sein Mädel und das tat auch weh.
Sie überlegte: So sah er das also? Dass sie, nur weil sie besoffen genug war, mit ihm schlafen wollte? Das stimmte so nicht. Es hatte nicht nur am Alkohol gelegen und sie musste ihn jetzt davon ablenken und irgendwas Witziges sagen.
"Dann hast DU anscheinend auch nicht genug gesoffen", sie lachte ihn an und schnitt gleichzeitig eine Grimasse, weil ihr Schädel immer noch ziemlich brummte.
Daraufhin sagte er nichts, sondern schaute sie nur seltsam an. Himmel, was hatte er denn jetzt schon wieder? Die ganze Sache war doch unmöglich genug gewesen und sie musste einfach weiterquatschen, um die Stille zwischen ihnen zu überbrücken.
Also sagte sie: "Du lieber Himmel, ist das warm und das so früh am Morgen. Sind wir wirklich in Holland?"
"Oh ja", sagte Volker schließlich. Gott sei Dank, er redete wieder mit ihr.
"Das ist nicht normal, das Wetter ..." Er Überlegte sichtlich, bevor er weitersprach: "Das ist ein Wetter, so unnatürlich wie ... eine aromatische holländische Tomate!"
"Ich kann nicht mehr!", ächzte Daniela. "Du hast recht, in Holland hat es windig zu sein. Und wolkig. Und nicht zu warm und die Tomaten schmecken nach nichts und stellen den vierten Aggregatzustand von Wasser dar. Nein, stimmt so nicht, in letzter Zeit schmeckten sie sehr viel besser. Und wie spät ist es eigentlich? Ich hab jetzt Durst auf eine Dusche und auf Kaffee!" Ziemlich viel Gequatsche von ihr, dachte sie, aber sie hatte es nicht verhindern können.
"Immer noch sechs Uhr am Morgen", sagte Volker nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr. "Komm, wir gehen an Bord und trinken Kaffee. Es gibt - glaube ich jedenfalls - Waffeln zum Frühstück. Sind natürlich alles Fertigprodukte. Außerdem laufen wir um zehn Uhr aus."
"Wenn es noch heißer wird, dann laufe ich auch aus ..." Seltsam, die Zeit stand anscheinend still und Daniela ignorierte ihr Kopfbrummen. Sie erhob sich, ging locker tänzelnd vor Volker her und stolzierte todesmutig Über die schmale Planke. Zu ihrer Erleichterung befanden sich schon ein paar Leute im Aufenthaltsraum, so an die drei, nämlich der Lulatsch und die beiden Frauen. Gut sahen die alle nicht aus, waren wohl auch saufen gewesen. Beruhigend zu wissen.
"Wir gehen gleich an Land duschen. Es kostet nur fÜnf Euro, man kann sich da die Haare föhnen und es soll unheimlich luxuriös sein", sagte eine der Frauen.
Daniela Überlegte, aber sie entschied sich dagegen, denn bestimmt würden beide Weiber dahin gehen und sie verspürte keinerlei Lust, mit denen zusammen zu duschen, geschweige denn mit denen zu quatschen. Worüber auch? Über die peinliche Sache mit Volker? Die würden sich bestimmt drüber kaputtlachen. Über sie, diese alte Frau, die er verschmäht hatte.
Sie bekam mit, wie die andere Tussi, es war die hübschere, zu Volker sagte: "Was ist, Volker, kommst du mit? Dann habe ich jemanden, der mich einseift."
Mich einseift? Daniela glaubte, rot im Gesicht zu werden. Sie hatte genug gehört, sie konnte diese Frau einfach nicht ausstehen. Sie wartete Volkers Antwort nicht ab, sondern verzog sich unauffällig in ihre eigene 'Luxuskabine'. Sie suchte frische Wäsche zusammen, legte sie auf die schmale Koje, griff sich dann ihr großes Badetuch und das Duschgel und schlenderte in den Duschraum.
Stimmt ja, Volker hatte ihr erzählt, dass man das Wasser dort nicht hochpumpen musste, es gab einen Wasserspeicher an Bord, und man konnte sogar die Wassertemperatur regulieren.
Tatsächlich war niemand im Duschraum, alle hatten wohl das Schiff verlassen und waren in die Luxusdusche gegangen, um sich gegenseitig einzuseifen ... Sollten sie doch! Allein zu sein war auch ganz nett. Nein, war es nicht in ihrem seltsamen Zustand.
Das Wasser erreichte eine angenehme Temperatur, vermutlich weil es draußen so warm war - und es lief herunter, ohne es anpumpen zu müssen. Das war totaler Luxus! Was fÜr ein wohlstandsverwöhntes Mädel sie doch war. Er hatte sie früher 'mein Mädel' genannt und das mehrmals. Und jetzt? Sicher meinte er damit nur 'mein altes Mädel'.
Sie duschte maßvoll mit vielen Pausen - wollte den Wasserspeicher nicht Überlasten - und berührte ihre Brüste dabei. Nein, es war kein Versehen, es erregte sie und irgendetwas in ihrem Magen flatterte beunruhigend. Schnell zog sie ihre Hände zurück. Nein, nicht an Volker denken! Was war nur los mit ihr?
Sie fragte sich, ob er die anderen Mädels begleitet hatte.
Mit einer heftigen Handbewegung stellte sie das Wasser ab. Sie stieg aus der Dusche und wrang ihre nassen Haare aus. Sie wickelte sich in ihr Badetuch und schlenderte zurück in die Kabine. Dort blickte sie in den kleinen Spiegel, inspizierte ihr Gesicht und ihren Hals. Obwohl das Licht bestimmt nicht schmeichelhaft war und sie eine ziemlich wilde Nacht hinter sich hatte, fand sie sich gar nicht übel aussehend. Keine Falten waren zu sehen, nichts Verhärmtes, und auch wenn der Spiegel es nicht zeigte, so wusste sie doch, dass ihre Figur noch gut war. Brüste okay, die Taille, der fast flache Bauch, die langen Beine ... Fast alles noch so wie es früher war. Nachdenklich kämmte sie ihr langes braunes Haar und cremte sich anschließend von Gesicht bis Fuß ein. Dann streifte sie sich ein lockeres T-Shirt Über, zog bequeme Jazzpants an und machte sich auf in Richtung Aufenthaltsraum, der ja Küche und Kantine gleichzeitig war. Sie hatte das dringende Bedürfnis, eine große Tasse Kaffee zu trinken und vielleicht eine Waffel zu essen, mehr gab das Frühstück wohl nicht her.
Auf dem Weg zum Aufenthaltsraum sah sie ein Plakat. Irgendwas mit Zuiderzee. Und sie betrachtete es interessiert.
Volker saß in aller Ruhe an einem Tisch und las irgendetwas. Eine Zeitung? Aber bestimmt nicht auf Holländisch.
"Du bist noch hier?", fragte sie ihn erstaunt.
"Wo sollte ich denn sonst sein?"
"Ach was weiß ich!" Schon als sie diese Worte aussprach, Ärgerte sich Daniela über sich selber. Das hörte sich ja furchtbar an, so vorwurfsvoll, so nach eifersüchtiger Ehefrau. Betroffen hielt sie sich die Hand vor den Mund.
"Was ist denn los mit dir?" Seine Stimme klang angenehm und auch irgendwie neu und anders.
"Weiß ich auch nicht", gab sie nach einigem Zögern zu. "Irgendetwas hat sich verändert, aber ich verstehe es nicht und ich weiß auch nicht, ob ich es mag."
Sie setzte sich neben ihn. Warum neben ihn? Ihm gegenüber? Nein, das wollte sie nicht, konnte sie nicht, denn es wäre zu peinlich gewesen, ihm ins Gesicht zu schauen.
Volker wollte wohl etwas sagen, aber er schwieg daraufhin und vertiefte sich wieder in seine Zeitung.
Na gut, er wollte also nichts dazu sagen. Es war schön, dass sie miteinander schweigen konnten. Das hatten sie früher und auch in letzter Zeit oft getan.
Doch sie brach das Schweigen: "Ich habe eben Über die Zuiderzee gelesen und dass sie früher ein Meer war, in das jederzeit Sturmfluten einbrechen konnten, die ganz Holland verwüsteten."
"Du hast das Plakat gesehen? Seltsam, bis jetzt hat es noch keinen hier gejuckt". Er schaute sie tatsächlich interessiert an und sagte: "Ab dem 17. Jahrhundert haben die Holländer versucht, einen Damm zu bauen, um die Nordseefluten zurückzuhalten. Und sie haben es irgendwann geschafft. Die gefährliche Zuiderzee ist nun zum Ijsselmeer geworden, will heißen, ein gut abgeschotteter Binnensee."
Daniela schwieg daraufhin. Es war aber ein vielsagendes Schweigen. Denn irgendetwas hatte sich wirklich verändert zwischen ihnen, aber noch erschien es ihr wie ein unbekanntes Land. Ein Land zwischen zwei großen Seen. Der alte See erfüllt mit Trauer und Resignation - und der neue verlockend und beängstigend zugleich. Das unbekannte Land dazwischen, wie könnte es wohl aussehen? Vielleicht liebevoll und wunderbar? Natürlich nur, wenn es existieren würde.
Sie musste unbedingt darüber nachgrübeln. Sie lächelte Volker an, griff sich eine Waffel vom Tisch und verzog sich kurz darauf in ihre Kabine.

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