349


6 Seiten

All Hallows' Eve 1/3

Fantastisches · Kurzgeschichten
Der Herbst ist da. Die Blätter fallen von den Bäumen. Es gibt noch warme Tage, sicherlich, aber die regnerischen überwiegen langsam. Heute ist noch einmal einer dieser schönen Tage. Tobi hat vor, zusammen mit seiner Freundin Cynthia zu einem dieser abgefahrenen Gothic-Flohmärkten zu gehen. Gothic ist in der Stadt, in der die Beiden leben, gerade schwer angesagt. Die Innenstadt hat ein mittelalterliches Flair. Es gibt Kirchen im gotischen Baustil und die Leute ganz allgemein haben in dieser Stadt einen eigentümlichen; einen exzentrischen Lebens- und auch Kleidungsstil, der sehr gut dazu passt. Es wird ganz allgemein ein umständlich höflicher Umgang miteinander gepflegt.
Tobi und Cynthia haben sich in der Innenstadt getroffen. Sie sind unterwegs. Es ist Samstag. Sie stecken also mitten im Wochenende. Mal sehen, was der Tag noch so für sie bereithalten wird.
Irgendwann biegen sie um eine Ecke. Cynthia bleit plötzlich stehen und schaut etwas verdutzt drein. Sie sagt achselzuckend zu ihrem Begleiter: „Hm, also, hier müsste es eigentlich sein.“
„Bist du dir sicher?“ Ist sie sich bestimmt, denkt Tobi bei sich. Cynthia hat sich bei so etwas noch nie geirrt. Sie packt ihn energisch am Arm und geht leichten Schrittes in die Straße hinein. „Komm, wäre doch gelacht, wenn wir den blöden Flohmarkt hier nicht irgendwo finden werden.“ Kaum hat sie das gesagt, und kaum haben sie ein paar Schritte in die Straße hineingetan, hören sie auch schon genau diese Live-Musik, die man auf so einem Flohmarkt vermuten würde. Mit Dudelsäcken, und diesen komischen mittelalterlichen Instrumenten, die heute nicht mehr so gängig sind und ursprünglich aus dem arabischen Raum stammen sollen. Diese Musik kommt irgendwo vor ihnen von rechts.
Eine undurchdringlich hohe Hecke bekleidet den Weg an der rechten Seite. Als sie ein Stückchen weiter gegangen sind, sehen sie über die Hecke hinaus schon die Dächer der Stände des Flohmarktes, den sie suchen. Der Duft von Mais liegt plötzlich in der Luft vermischt mit dem penetranten Geruch von Bratwürstchen und Räucherstäbchen. Die muss es bei so etwas anscheinend einfach immer geben.
Sie kommen an der Stelle an, wo sich der Eingang zu dem Markt befindet. Sie huschen hinein, irgendwie durch die übergroße Hecke hindurch. Man hat den Durchgang wohl als eine Art Tunnel durch die Hecke hindurch angelegt. Zumindest fühlt es sich so an, wenn man hindurchgeht.
Auf der anderen Seite ist ein ganz schöner Trubel los. Das hätte man vorhin noch gar nicht vermutet. Viele haben sich verkleidet, entweder im Mittelalterstil oder als klassische Goths. Es ist genau das, wonach die Beiden heute gesucht haben.
Sie schlendern durch den Trubel hindurch und schauen mit großen Augen die vielen Stände an, die es hier gibt und an denen sie vorbeikommen. Und was da so alles zum Verkauf dargeboten wird. Da gibt es auf den Tischen allerlei düstere Literatur zu kaufen, und natürlich sehr viel Musik, die man ansonsten nicht so leicht erstehen kann. Schließlich handelt es sich dabei um Undergroundmusik. Da muss man schon sehr genau wissen, wo man so etwas finden kann. Dann gibt es noch viele Totenschädel in allen nur erdenklichen Variationen und viele unterschiedlichen Sachen, die man zu Hause aufstellen kann, um sich an den Tod und damit an die Vergänglichkeit des Seins zu erinnern. Die dunkle Romantik ist hier allgegenwärtig. Schwarze Rosen und altertümliche Schwerter mit gebrochenen Herzen. Und überall spenden schwarze Kerzen ihr flackerndes Licht.
Es wird schon langsam dunkel.
Sie gehen weiter, an vielen weiteren Ständen vorbei, mit allerlei düsterem Zeugs auf den Tischen. Doch ein einziger dieser Stände scheint irgendwie etwas anders zu sein, als die anderen. Wie hypnotisiert geht Tobi auf diesen zu und zieht Cynthia dabei einfach so mit sich. Es handelt sich wieder um einen dieser typischen Stände. Doch hier gibt es ein paar Besonderheiten, die die Beiden noch nirgendwoanders auf diesem Markt hier gesehen haben. Zum Beispiel eine ausgestopfte Cobra-Schlange in einer ganz bestimmten Position verharrend und ein ausgestopfter Rabenvogel, der auf einem Ast zu sitzen scheint, der an der oberen Seite des Standes wohl irgendwie angebracht ist. Auch der Verkäufer macht einen etwas eigentümlichen Eindruck. Er steht recht uninteressiert einfach so da, als würden ihn die Leute gar nicht so wirklich interessieren. Bis er Tobi erblickt. Auf einen Schlag scheint sein Interesse geweckt worden zu sein. Der Verkäufer kommt etwas näher heran, hebt seine Hand, zeigt auf ihn, und sagt mit einer flüsternden, gar heiser anmutenden, Stimme: „Du da. Wer bist du?“
Tobi ist etwas überrumpelt. Cynthia schaut sich die Szene belustigt an. Sie mustert den Verkäufer etwas genauer. Er scheint mittleren Alters zu sein, hat eine schwarze Robe an, wie es früher wohl die Mönche getragen haben könnten, und hat die Kapuze seiner Robe hochgezogen. Man sieht nicht viel von seinem Gesicht, insbesondere auch deshalb, weil er zusätzlich noch eine schwarze Sonnenbrille trägt. Man erkennt aber sehr deutlich den schmalen Mund und dass er anscheinend nicht so oft in die Sonne geht. Sein Gesicht ist käseweiß. Es sieht unnatürlich und auch ungesund aus.
„Tobi“, sagt Tobi kein bisschen eingeschüchtert.
„So, so. Tobi also. Das ist ja interessant.“
„Darf ich denn erfahren, mit wem ich das Vergnügen habe?“ Er zwinkert Cynthia verschwörerisch zu.
„Ein Niemand. Ich bin nur ein Niemand.“ Der Verkäufer zieht sich wieder ein klein wenig zurück. Dann beugt er sich noch einmal leicht nach vorne, und sagt: „Wie kann ich euch denn behilflich sein?“
„Wir wollen nur mal schauen, was es an Ihrem Stand so alles gibt.“ Tobi schaut sich demonstrativ um. „Hier sind ja wirklich tolle Sachen, nicht Cynthia?“ Er schupst seine Begleiterin an.
„Tolle Sachen?“ Wiederholt der Verkäufer. Er scheint davon etwas gekränkt zu sein.
„Na ja, ich meine“, Tobi scheint die Wogen glätten zu wollen, „sehen Sie doch nur, zum Beispiel dieser Rabe hier oben.“ Er zeigt auf den ausgestopften Raben.
„Was ist denn mit dem Raben?“, fragt der Verkäufer herausfordernd.
„Nun, das ist doch etwas Besonderes! An keinem anderen Stand habe ich so etwas gesehen. Ist er denn echt?“
„Ob er echt ist, fragst du? Er ist so echt, wie er überhaupt nur sein kann.“
„Wow“, platzt es aus Tobi heraus. „Haben Sie ihn denn selbst ausgestopft? Wie ist er überhaupt in Ihren Besitz gelangt?“
„Ich habe ihn nicht ausgestopft“, sagt der Verkäufer jetzt anscheinend doch etwas verärgert. „Er ist mir zugeflogen.“
„Aha“ sagt Tobi einfach nur. Er hält sich jetzt lieber etwas zurück, weil er merkt, dass der Verkäufer etwas angespannt zu sein scheint. Cynthia scheint dies auch zu bemerken. Sie schupst ihn ganz leicht an der Schulter an. Sie möchte wohl so schnell wie möglich von hier verschwinden. Diese ganze Sache ist ihr anscheinend nicht so recht geheuer.
Plötzlich beugt sich der Verkäufer verschwörerisch wieder etwas weiter zu ihnen herüber und flüstert: „Soll ich euch wirklich etwas ganz Besonderes zeigen, ja geradezu etwas Außergewöhnliches?“
Tobi nickt ganz zaghaft.
Der Verkäufer öffnet seine Kutte und holt irgendetwas daraus hervor. Dann schaut er sich um, so als wolle er sich versichern, dass man sie nicht beobachtet. Und als er sich vergewissert hat, dass dies nicht der Fall ist, präsentiert er den Beiden, was er seiner Kutte gerade entnommen hat. Es handelt sich um ein Messer, das in einer Scheide steckt. Es sieht tatsächlich außergewöhnlich aus, so als sei es vielleicht hunderte von Jahren alt, aber dennoch so gut wie neu. „Wisst ihr, was der Mensch niemals im Stande war, zu überwinden?“, flüstert der Verkäufer, während er ihnen weiterhin das Messer präsentiert. Es hat unglaublich gut ausgearbeitete Verzierungen und Symbole, die vielleicht so etwas wie Runen sein könnten. „Die Zeit. Der Mensch hat es niemals geschafft, die Zeit zu überwinden.“ Er macht eine kurze dramatische Pause. Das Licht einer der Kerzen flackert in seinem Gesicht und spiegelt sich in seiner Sonnenbrille. „Doch dieses Messer hier, ES ist im Stand dazu.“ Plötzlich hat Tobi das seltsame Gefühl, als werde er von dem ausgestopften Raben beobachtet; als habe dieser ihm gerade seinen Kopf zugewandt, und glotze ihn jetzt direkt an. Auch die Cobra scheint irgendwie lebendig geworden zu sein. Sie scheint sich zu winden. Er wird sich dies nur einbilden, da ist er sich ganz sicher. Dennoch lässt schon alleine die Vorstellung daran sein Herz schneller schlagen und das flackernde Licht der Kerzen an diesem Stand ihn ein klein wenig anders wahrnehmen. „Alle Völker haben sich über die Zeit Gedanken gemacht, und wie man sie überwinden kann“, führt der Verkäufer weiter flüsternd aus. „Die alten Ägypter haben die Pyramiden gebaut. Andere Völker haben sich Kalender erdacht, um so die Zeit wenigstens theoretisch in den Griff zu bekommen. Sie alle haben versucht, irgendwie das Konzept, das dahinter steckt, zu verstehen und auch zu nutzen; letztendlich für ihre eigenen Zwecke zu manipulieren.“ Er hält das Messer noch ein Stückchen weiter nach vorne. „Dieses Messer hier, ES hat genau das vollbracht, wovon die Menschheit bisher immer nur geträumt hat.“ Das Licht der schwarzen Kerzen fängt derart stark zu flackern an, als habe es einen Windstoß gegeben.
Tobi schaut jetzt das erste Mal wieder von dem Messer auf und den Verkäufer direkt an. Wieder etwas bei Sinnen fragt er ihn: „Wieviel soll es denn kosten?“
Der Verkäufer zieht abrupt die Hand wieder nach hinten weg und das Messer verschwindet in seiner Kutte. „Macht mir doch ein Angebot.“
„Ich habe nicht so viel bei mir“, entgegnet Tobi.
„Es geht mir nicht ums Geld. Geld ist vergänglich. Es interessiert mich nicht.“
Tobi ist verwirrt. „Ja, wenn nicht mit Geld, mit was denn sonst? Wie könnte ich dieses Messer denn ansonsten bezahlen?“
Der Verkäufer wendet sich ihm wieder zu. „Ich gebe dir dieses Messer. Bezahlen wirst du mich, wenn die Zeit dafür reif ist.“ Das Messer taucht wieder aus seiner Kutte auf und es wird Tobi gereicht. Dieser nimmt es an. Es fühlt sich leicht in seiner Hand an, und irgendwie auch warm.
Jetzt öffnet Tobi seine Augen. Er reibt sie sich, um klar sehen zu können. Dann dreht er sich nach allen Seiten um. Von dem Stand ist nichts mehr zu sehen. Er schaut in seinen Händen nach. Da ist kein Messer. Er schaut in seinen Hosentaschen nach. Auch dort ist kein Messer zu finden. Er schaut zu Cynthia rüber. Schupst sie an. Sie schaut sich irritiert um, so als sei sie aus einem Traum erwacht. „Wo, wo sind wir?“, fragt sie. „Ah.“ Sie scheint sich wieder zu erinnern. „Aber“, sie schaut geschwind in alle Richtungen, „wo ist dieser seltsame Stand mit diesem seltsamen Typen?“
Erschrocken blickt Tobi zu ihr herüber und schaut sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er packt sie mit beiden Armen an beiden Schultern. „Du hast es etwa auch gesehen?“
„Klar, dieser komische Mönchstyp mit seiner abgefahrenen Schlange und dem merkwürdigen Vogel auf dem Ast. Klar habe ich ihn gesehen. Du hast ein Messer bei ihm gekauft. Wo ist dieses Ding?“
„Ich, ich habe es nicht bei mir. Ich weiß es nicht.“ Er lässt sie los.
„Man, das war wirklich abgefahrener Mist. So `ne Freakshow habe ich bisher noch nicht gesehen.“
„Ich auch nicht.“ Tobi schaut noch einmal in allen seinen Taschen nach, ob er das Messer vielleicht doch noch irgendwo finden kann.
Dann sagt Cynthia: „Komm, lass uns abhauen. Das können wir hier heute bestimmt nicht mehr toppen. Lass uns erst einmal verschwinden und über diese ganze Sache hier quatschen. Ich kapiere nicht, wohin dieser Typ so plötzlich verschwunden ist. Wir können uns diese Freakshow doch nicht beide gleichzeitig eingebildet haben?“
Tobi schüttelt mit dem Kopf. „Nein, ausgeschlossen.“
„Ich habe so ein Gefühl, dass uns bei dieser Sache vielleicht die Bibliothek weiterhelfen könnte.“ Cynthia ist ein regelrechter Bücherwurm.
„Die Bibliothek? Man, Cynthia, komm endlich in unser Jahrhundert. Wozu gibt es denn das Internet? Wer geht heutzutage denn noch in eine Bibliothek?“
Cynthia seufzt tief. „Oh man, Tobi. Du hast ja keine Ahnung. Heutzutage geht man erst recht in eine Bibliothek. Im Internet findest du keine Wahrheiten mehr. Die Wahrheit wurde dort begraben und beerdigt, und zwar von den Lügen, den Hirngespinsten und den unkontrollierbaren Irrtümern, die über das ganze Netz in die ganze Welt hinaus verbreitet werden. Dort wirst du alles und nichts finden. In der Bibliothek aber, dort ist das immer noch etwas anderes. Dort wird das Wissen, das abgelegt wird, weiterhin einer Kontrolle unterzogen. Dort kann nicht jeder einfach irgendetwas posten und sich auf die Meinungsfreiheit berufen, wenn sich jemand über den Unsinn beschwert. Dort findest du die Essenz des Wissens, oder zumindest das, was als solches gerade anerkannt ist. Der große Ozean der Unwahrheit wurde in der Bibliothek trockengelegt, und übriggeblieben ist nur noch das Echte.“
„Man, Cynthia, wie du mal wieder daherredest. Dann lass uns von mir aus in die Bibliothek gehen. Aber nach was suchen wir da eigentlich?
„Wir suchen nach diesem Messer natürlich. Nach was denn sonst?“ Cynthias leidenschaftlicher Hang zum Abenteuer scheint geweckt worden zu sein.
„Nach dem Messer? In der Bibliothek?“ Tobi zuckt mit seinen Schultern. Dann sagt er aber plötzlich: „Na schön, was solls. Gehen wir halt in die Bibliothek, um nach einem Messer zu suchen. Dafür sind Bibliotheken ja schließlich auch da.“
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Sehr spannend. Welch ein Abenteuer. Romantisch-geheimnisvoll. Passt zu Halloween. Ich bin gespannt wie es weitergeht.

Evi Apfel (17.10.2023)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Geld  
Der Wandel tobt  
Das Geheimnis  
Die letzte Reise  
Die blöde Katze  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
Die blöde Katze  
Der Wandel tobt  
Der Korridor  
Lohnt sich der Bergbau im Weltraum?  
Das Gullydeckel-Lied  
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De