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Die Belfast Mission - Kapitel 10

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 10 – Die Auserwählte


Nordirland, November 1909

Ike holte mit der Axt weit aus und schlug immer wieder wuchtig auf einen Holzklotz ein, bis dieser sich entzweite. Sein Schäferhund bellte bei jedem Axthieb und lauerte auf die Gelegenheit, einen der Holzkeile zu stibitzen, die überall auf dem Boden rumlagen.
„Aus Laika, lass das!“, sprach er keuchend. „Ich hacke gewiss nicht, damit du es mir ständig wegnimmst.“
Ike zog seine Schirmmütze ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte auf seinen Fuhrwagen, der mit meterlangen Holzstämmen vollbeladen war.
Einen Baum zu fällen und den Stamm zu zersägen war schon anstrengend genug, aber nun musste all das Holz noch kamingerecht gehackt werden. Er kniff die Lippen zusammen. Was getan werden muss, muss getan werden. Wenn er und seine Partnerin über den Winter bis zum Frühjahr nicht frieren wollten, benötigten sie genügend Brennholz, was bedeutete, dass er die nächsten Wochen hauptsächlich mit Holzhacken beschäftigt sein würde, wenn er von einen anstrengenden Arbeitstag nach Hause zurückkehrte. Die Erfindung einer benzinbetriebenen Kettensäge lag ja noch in ferner Zukunft, was er momentan sehr bedauerte.
Der Schäferhund Laika nutzte die Unaufmerksamkeit ihres Herrchens aus, schnappte sich blitzschnell einen der Holzkeile und flitzte damit einfach davon. Die Hündin blieb erst am Hühnergehege stehen, als sie den schrillen Pfiff ihres Herrchens vernahm. Mit dem Holzstück im Maul blickte sie ihn schwanzwedelnd an.
„Laika, hierher zu mir! Wir spielen jetzt kein Stöckchen holen, sondern das gehört mir!“, rief Ike und deutete mit dem Finger vor seine Füße. Aber Laika, sonst ein sehr gehorsamer Hund, dachte nicht im Traum daran das Diebesgut freiwillig wieder herzugeben. Laika streckte sich bäuchlings nieder, kaute genüsslich am Holzklotz und beobachtete dabei ihr Herrchen. Dasselbe Spiel wie immer, wenn Ike die Axt schwang.
Du willst mein Stöckchen zurückhaben? Dann fang mich doch!
Ike zog an den Hosenträger seiner braunen Cordhose, ließ sie schnalzen und stürmte auf den Hund los. Die Schäferhündin sprang sofort auf, flitzte um das Haus und Ike rannte mit ausgebreiteten Armen lachend hinterher.
Anfangs hatte Ike sich tatsächlich eingebildet, dass es ein Leichtes wäre seinen Hund irgendwie einzufangen. Sein sportbegeistertes Ego wurde aber jäh enttäuscht und er musste sich schließlich alsbald eingestehen, dass Laika erheblich flinker war als er es sich vorgestellt hatte. Das wollte Ike aber nicht auf sich sitzen lassen. Also musste der Hund irgendwie überlistet werden. Er versuchte Laika erneut auszutricksen, indem er sich abermals geduckt hinter das Regenfass versteckte und ihr auflauerte, bis sie vorbei laufen würde. Aber seitdem Ike letztens plötzlich mit einem Hechtsprung hinter der Regentonne Laika geschnappt und ihre Errungenschaft wieder abgenommen hatte, lief der Hund nun vorsichtiger um die Hausecken herum. Als der Schäferhund das Regenfass erblickte, setzte Laika sich und wartete einfach schwanzwedelnd ab, was passieren würde. Ike verlor alsbald die Geduld und trat schließlich hervor. Er zeigte wieder mit dem Finger bestimmend vor seine Füße und erteilte Laika einen energischen Befehl, woraufhin der Hund langsam mit gesenktem Kopf auf ihn zulief und ihm den Holzklotz artig vor die Füße legte.
„So ist`s brav, Laika“, lobte Ike und klopfte anerkennend gegen ihren borstigen Leib. Laika legte ihre spitzen Lauscher an, schmiegte sich gegen seine Beine und genoss die Streicheleinheiten.

Der junge Mann aus der fernen Zukunft hatte sich sofort bei ihrer ersten Begegnung in die Schäferhündin verliebt. Es war offensichtlich Liebe auf den ersten Blick gewesen, die Laika wohlmöglich ebenso empfunden hatte.
Als Ike im März 1909 über den menschenbelebten Belfaster Frühjahrsmarkt geschlendert war –immer noch auf der Suche nach einer geeigneten Frau –, vorbei an etlichen Lose- und Schießbuden und hinter dem Zirkuszelt nachschaute, davor ein Clown gestanden und allen Kindern bunte Luftballons verschenkt hatte, hatte er ein mit farbigen Wimpeln geschmücktes Gehege entdeckt, darin dutzende Hundewelpen verschiedener Rassen miteinander balgten. Ein niedliches Hundegekläff konnte man hören.
Entzückt hatte er zugesehen, wie sie ihre nassen Schnauzen gierig aus den Gitterstäben herausgestreckt hatten und seine Hände abschleckten. Ein Hündchen war niedlicher als der andere gewesen. Bis dato hatte Ike noch nie zuvor einen Hund oder ein anderes Tier leibhaftig zu Gesicht bekommen, geschweige denn hatte er jemals zuvor einen Hund gestreichelt. Diese Geschöpfe kannte er nur aus dem theoretischen Unterricht der Universität im Centrum und studierte ihre Verhaltensweisen genauso nüchtern, wie die komplizierten mathematischen Formeln, die für eine Berechnung eines Raum-Zeitsprungs benötigt wurden. Aber als er direkt vor diesen drolligen vierbeinigen Wesen gekniete und sie fasziniert beobachtet hatte, wie sie seine Hände abschleckten und daran zart knabberten, war in dem Moment sein Herz verzaubert worden. Plötzlich war eines der Hundewelpen aufgesprungen und hatte nach seiner Schirmmütze geschnappt. Der Hundewelpe hatte seine Mütze knurrend durch die Gitterstäbe gezerrt, war dann rücklings über die anderen Welpen gepurzelt und damit weggeflitzt. Ike hatte daraufhin sogleich mit seinen Fingern geschnalzt und nach dem Hundezüchter gerufen.
Die Würfel waren gefallen.
„Wie viel kostet der kleine Hund, der soeben meine Mütze geklaut hat?“
Nachdem Ike 35 Pence gelöhnt hatte, hatte ihm der Hundezüchter seine Laika überreicht, die immer noch seine Schirmmütze im Maul gehalten und sie wie besessen geschüttelt hatte.

Der November war bislang noch relativ mild, jedoch sein Nachbar, Mr. McEnrey, der gleich nebenan einen Bauernhof bewirtschaftete prophezeite ihm, dass spätestens im Dezember die Temperaturen merklich sinken würden. Der Bauer rechnete diesmal sogar mit erheblichem Frost und Schneefall und riet ihm, genügend Brennholz im Wald zu schlagen und reichliche Wasservorräte aus dem Brunnen zu schöpfen, bevor die Wasserleitung einfrieren würde.
Ike folgte mittlerweile seine gut gemeinten Ratschläge, denn die außergewöhnlichen Vorhersagen, die Mr. McEnrey lediglich anhand verschiedener Verhaltensweisen der Tiere, dem Wind und sogar allein nur an den Formen der Wolken bestimmte, verblüfften ihn mittlerweile, statt wie anfänglich seine Weisheiten nur als eine abergläubische Bauernregel abzutun.
Eines Tages, irgendwann im August letzten Sommers, Ike war mit etlichen Helfern grade dabei die Dachstreben an seinem Haus anzubringen, da kam McEnrey auf ihn zu und warnte bereits frühmorgens vor ein bevorstehendes Gewitter. Die Sonne war feuerrot aufgegangen und außerdem flogen die Vögel tief, was bisher immer ein Unwetter vorhergesagt hatte.
Mr. McEnrey riet vom Dachausbau vorerst abzusehen, bis das Gewitter vorübergezogen war, weil ansonsten die anmontierten Holzbalken eine tagelange Trocknungszeit benötigen würden, bevor diese gestrichen werden könnten. „Morgenrot, schlecht Wetter droht. Wenn die Vögel niedrig fliegen, werden wir Regen kriegen“, hatte er behauptet.
Doch der junge Holländer hatte seine Prognose nur belächelt, denn der wolkenlose Himmel war hellblau und die feuerrote Sonne strahlte bereits um 8 Uhr eine angenehme Wärme aus. Ike hatte nur abgewinkt und augenzwinkernd gescherzte, stets einen großen Regenschirm mit sich zu tragen und gegen jedes Unwetter gewappnet zu sein. Aber schon gegen Mittag, die wichtigsten Balkenträger waren derweil mithilfe einige seiner Arbeitskollegen montiert worden, verdunkelte sich der Himmel verdächtig. Selbst seine Kollegen hatten versucht ihm auszureden, als sie die bedrohliche Unwetterfront erblickt hatten, die Arbeit fortzusetzen und stattdessen die bereits montierten unbehandelten Balken mit Leinentüchern schleunigst abzudecken. Doch Ike war absolut nicht davon überzeugt, dass es regnen würde. Zwar hatte Ike selbst gelegentlich skeptisch zu den mausgrauen Wolken hinauf geschaut, wenn er sich unbeobachtet gefühlt hatte, dennoch hatte er es nicht wahrhaben wollen und war davon abgeneigt, die Arbeit vorübergehend einzustellen. Schließlich musste er vorankommen, denn in vier Monaten würden die Auswanderer erscheinen.
„Die paar Wölkchen machen gar nichts. Weiter geht`s, Männer. Die Schlechtwetterfront wird vorbei ziehen. Ihr werdet es schon sehen“, hatte er optimistisch prophezeit, obwohl selbst seine Arbeitskollegen verständnislos mit dem Kopf geschüttelt hatten und sie irische Landesmänner waren, die das Klima ihres Landes eindeutig besser einschätzen konnten, als er. Aber Ike wollte unbedingt vorankommen und noch bevor die Sonne am Horizont versinken würde, sollte mit dem Richtfest begonnen werden. Ein bewölkter Himmel über Irland, kombiniert mit dem relativ rauen Klima, war nun auch für Ike längst zur Gewohnheit geworden und besagte noch lange nicht, dass es auch regnen würde. Immerhin lebte er fast ein Jahr in Irland und das Wetter zu beobachten, war für ihn immer faszinierend gewesen.
Letztendlich hatte es dann doch wie aus Eimern geschüttet, und Ike hatte alleine klitschnass im strömenden Regen die letzten Nägel ins Dachgebälk geschlagen, wobei er wild niederländisch geflucht hatte.
Sam Brady, Matthew Kelley, Bob McMurphy, Jason Sullivan und die anderen Arbeitskollegen saßen derweil in der Pferdescheune, im Trockenen. Sie schmunzelten schadenfreudig vor sich hin, während sie sich von Ikes Lebensgefährtin verköstigen ließen.
„Der Sturkopf ist selber schuld, meine Herren. Wer nicht hören will, muss eben fühlen. Nun braucht er heute Abend auch nicht mehr zu baden“, sagte Eloise lächelnd, während sie den fleißigen Herrschaften deftigen Erbseneintopf servierte.

Mr. McEnrey zählte zu jenen typischen Bauern, die zuallererst alles Neue und jeden Fremden argwöhnisch betrachteten. Dieser junge Niederländer war ihm anfangs gar nicht geheuer. Heimlich hatte McEnrey hinter Gardinen versteckt beobachtet, wie Ike ganz alleine ohne irgendeinen Bauleiter sein Grundstück akkurat abgemessen hatte und ständig mit komplizierten Bauplänen herumgelaufen war, wobei er offensichtlich völlig durchblickte. Manchmal beobachtete der Bauer, dass weitere, fremde Leute mit Fuhrwägen erschienen, die Materialien rasch herbeibrachten und ihn tatkräftig unterstützten. Sein ungewöhnliches, rasches Vorankommen, meist nur mit der Unterstützung einer blutjungen Frau, urteilte McEnrey eher skeptisch, als das der Bauer diese Leistung für Hochachtung empfand. Der fremde Bursche aus der Niederlande gab seinen Arbeitern in allen Fachbereichen stets konkrete Anweisungen, obwohl einige von ihnen sogar älter waren als er selbst.
Irgendwann, die Mauern der Außenfassade standen bereits im Lot, kam Ike dem Bauer entgegen und ersuchte freundlich das Gespräch. Er war an seiner Schlachtung, Milch und Hühnereier interessiert und schlug Mr. McEnrey einen Tausch vor, nachdem er sich in seiner spärlich beleuchteten Scheune umgesehen hatte.
Ike unterbreitete ihm das verlockende Angebot, eine elektrische Beleuchtung im Kuhstall zu installieren, damit er nicht weiterhin früh morgens im diesigen Licht einer Petroleumlampe seine Kühe melken und die Schweine füttern müsste. Als Gegenleistung verlangte Ike nur hin und wieder etwas von der frisch gemolkenen Milch und regelmäßig ein paar Sonntagseier, gegebenenfalls noch etwas von seiner Schlachtung, falls dies nicht zu viel verlangt wäre. Aber trotz des großzügigen Angebots, dass McEnrey nach der Elektroinstallation sogar kostenlos sein Stromaggregat nutzen durfte, war der Bauer weiterhin misstrauisch und lehnte dankend ab. Ike versuchte ihn daraufhin zu überzeugen.
„Stell dir mal vor, McEnrey. Mit einer elektrischen Lichtanlage, die deine Scheune wie einen Tag erhellt, wärst du der modernste Bauer in der Gegend. Was gibt es da noch zu überlegen?“
Aus Mr. McEnreys Mund entwich nach dieser Bemerkung aber lediglich ein heiseres Gelächter, wobei er sich amüsiert seinen dicken Bauch hielt. „Modern … Pah!“, entgegnete er abwertend und zeigte ihm mit dem Zeigefinger einen Stirnvogel.
Alles was als neumodisch oder modern bezeichnet wurde, lehnte der Bauer prinzipiell ab. Die Bauern ringsherum aus den Nachbardörfern würden sich sicherlich wegen der elektrischen Lichtanlage über ihn lustig machen, befürchtete Mr. McEnrey. Seine Freunde und Bekannten würden ihn sicherlich auslachen wenn er ihnen verkünden würde, dass sein Kuhstall nun mit elektrischem Licht erhellt wird. Für den griesgrämigen Bauer war die Elektrizität, genauso wie für einige andere Farmer aus der Provinz Ulster, bloß ein überflüssiger Schnickschnack.
„Freilich, für die reichen Herrschaften ist dieser Firlefanz gewiss nützlich, aber die gute alte Petroleumlampe tat schon seit je her gute Dienste und so wird es auch weiterhin bleiben!“, meinte der Bauer.
Zwar gab McEnrey zu, dass seine Augen im Zwielicht oft schmerzten, aber er sehe weiterhin von der Elektrizität strikt ab, weil er mit einer Petroleumlampe 65 Jahre lang gut ausgekommen war, argumentierte er. Selbst sein Vater und Großvater hatten nur die Petroleumlampe zur Verfügung, demnach benötigt man nicht diese moderne Elektrizität, war seine Meinung.
„Die Leute erzählen sich, wer mit Elektrizität handhabt, dem blühen gefährliche Stromschläge und diese sollen nicht ohne sein, junger Holländer“, grummelte der Bauer.
„Ach, komm schon, McEnrey. Sei doch vernünftig. Beinahe in jedem Haushalt von Belfast leuchtet heutzutage elektrisches Licht und du hantierst immer noch mit Öllampen und Kerzen. Begreife doch endlich, das ist viel zu gefährlich!“, erklärte Ike.
Er sprach ihm ins Gewissen, dass in einem Kuhstall nur das geringste Ungeschick mit dem Umgang einer Petroleumlampe ausreichen würde, eine verheerende Katastrophe auszulösen. Schließlich war es keine Seltenheit, dass eine umgefallene Öllampe einen ganzen Bauernhof vernichtete und dies das Ende einer Existenz bedeutete. Er wäre ruiniert, falls er überhaupt mit dem Leben davon käme, argumentierte Ike.
Ike hielt ihm zusätzlich vor Augen, da sie nun unmittelbare Nachbarn wären, dass bei einem Flächenbrand auch sein Haus gefährdet und er aufgrund seiner Fahrlässigkeit mitschuldig wäre. Mr. McEnrey kraulte sich grübelnd seinen Bart, während er ihm zuhörte. Der junge Holländer klang überzeugend und so willigte McEnrey dann doch letztlich per Handschlag diesen Deal ein.
Ike besorgte also die Stromkabeln, die nötigen Lüsterklemmen und über zwei Dutzend Glühbirnen mit Fassungen, die er in einen der Müllcontainer aufgesammelt hatte, die zahlreich auf dem Gelände von Harland & Wolff herumstanden. Dann machte er sich eines Sonntages, nach der Kirchenmesse wohlbemerkt – Eloise bestand darauf, jeden Sonntagmorgen gemeinsam die Kirche zu besuchen –, an die Arbeit.
Eloise, seine überaus fleißige Lebensgefährtin, stand ihm wie immer tatkräftig zur Seite. Und noch am selben Abend präsentierten sie dem staunenden Bauer einen taghellen beleuchteten Kuhstall. McEnrey überdachte daraufhin den vereinbarten Deal und kam zum Entschluss, dass der junge Holländer sicherlich ein Vermögen für diese elektrische Lichtanlage gelöhnt hatte und meinte, dass es mit ein bisschen Milch, Schlachtung und Eier nicht getan sei. Seitdem waren Ike und Eloise im Besitz von ein Dutzend Hühner, die der Bauer ihnen zum Dank zusätzlich geschenkt hatte.

Ike richtete seine Schirmmütze, spuckte in seine Hände und rieb sie. Auf seinen mittlerweile rauen Handflächen hatten sich zwar zusätzlich Schwielen gebildet, diese er ohne weiteres mit Salben aus seinem Medikit hätte behandeln können, aber er beabsichtigte die Hornhaut an seinen Händen regelrecht zu züchten. Auf der Schiffswerft wurde generell ohne Handschuhe gearbeitet – außer bei den Schweißarbeiten. Ein arbeitender Mann hatte demnach Hände wie Löwenpranken. Er bemerkte, dass die Leute von damals oftmals allererst auf die Hände stielten, daran urteilten sie, ob derjenige einer Arbeit nachging oder nicht. Nur die Reichen und Faulenzer hatten zarte Hände. Zudem war es üblich, sich mit einem beherzten Händedruck zu begrüßen und je fester der Handgriff war, desto respektvoller behandelten ihn die Leute. Ein Schwächling hatte im frühen Zwanzigsten Jahrhundert kaum Chancen, tatsächlich ernst genommen zu werden.
Ike war ein Vorarbeiter und führte immerhin ein Schreinerteam von über zwanzig Männern uralten Schlages an, da war es unbedingt notwendig, jedem hart an die Schulter zu packen und ihm stechend in die Augen zu schauen, wenn man demjenigen Anweisungen erteilte oder ihn gar zurecht weisen musste. Diese raubeinigen Urväter mussten und verlangten es auch, in jeder Hinsicht geführt zu werden. Nur die geringsten Anzeichen von Schwäche könnte Ike den Job als Vorarbeiters kosten, und die Belfast Mission wäre gescheitert.
Es kam durchaus vor, dass ein junger exzellenter Vorarbeiter, obwohl seine fachmännische Kompetenz überdurchschnittlich überzeugend war, wieder kapitulierend kündigte, nur weil ihn das eigene Team nicht akzeptierte und sie den Vorarbeiter daraufhin nach Dienstende manches Mal sogar auflauerten, um ihn zu verprügeln. Auf diese Weise wurden schwache Vorarbeiter aus dem Unternehmen gemoppt, was manchmal die Personalabteilung sogar unterstützte, solange sich solch ein Szenario nicht auf dem Firmengelände abspielte.
Jeden üblichen Körperkontakt sowie Gesten hatte Ike in seiner Ausbildung als Schleuser-Agent auf der Akademie im Centrum lernen müssen. Besonders trug eine laute, kräftige Stimme immens dazu bei sich durchzusetzen, denn zu jener Zeit schüchterte ein lautes Organ kombiniert mit einem selbstsichern Auftreten stets ein. Lautstärke imponierte und überzeugte damals, nach dem Motto: Wer laut brüllend herumkommandiert, demjenigen muss man auch gehorchen. Denn wer rumbrüllt, der weiß was er tut und hat immer recht.

Ike setzte seine harte Arbeit fort, verzerrte sein Gesicht und schlug mit der Axt erneut wuchtig auf ein weiteres Holzklotz ein. Es spaltete sich wiedermal nicht auf Anhieb, sondern die Axt blieb darin stecken. Nochmal holte er mit der Axt weit aus und schlug erneut drauf, bis es sich endlich entzweite. Das Holzschlagen beanspruchte seine Kraft, wie das Verdreschen eines Sparringpartners im Centrum.
Fast ein Jahre seiner Zeitrechnung war nun vergangen, seitdem er durch das Zeitfenster am Checkpoint verschwunden war. Das raue Klima in Irland hatte zudem dafür gesorgt, dass er nicht mehr wie ein geleckter hübscher Bursche aussah, sondern nun wie ein kerniger junger Mann. Seine Armmuskeln zeichneten sich deutlich am Hemd ab und die eng anliegenden Hosenträger untermalten seine breiten Schultern. Seine Statur war ihm sein lebelang heilig gewesen und er war es früher gewohnt, Kondition und Kraft mit technologischen Gerätschaften zu trainieren. Das war jetzt nicht mehr möglich, also suchte Ike nach Alternativen.
Es hatte nicht lange gedauert, bis Ike sein Fitnesstraining mit Jimmy vermisst hatte. Also ließ er sich von Eloise einen großen Sack aus Rinderleder nähen, füllte den Boxsack mit Sägespänen, knüpfte diesen dann an einen Trägerbalken in der Pferdescheune auf und setzte sein Boxtraining auf diese Weise fort. So wie es die Kirmesboxer in dieser Zeitepoche taten.
Nach einer gewissen Zeit aber musste er sich eingestehen, dass der Bau des Hauses und seine Arbeit als Vorarbeiter bei der Schiffswerft genügend Zeit sowie Kraftaufwand von ihm abverlangten, was dazu führte, dass er in seiner ohnehin mageren Freizeit irgendwann vom Boxsack abgelassen hatte. Ebenso hatte er längst das stundenlange Joggen durch die Wälder aufgegeben, denn sein Job bei Harland & Wolff entpuppte sich überraschend als eine hart körperliche Arbeit. Obwohl er ein Vorarbeiter war.
Sein privilegierter Posten als Vorarbeiter der Schreiner erforderte nämlich weitaus mehr, als lediglich ausgezeichnete Sachkenntnisse über Holzmontage, Innenausbau, Tischlerei und als Polsterer zu verfügen, und von seinem Büro am Schreibtisch aus zu dispositionieren. Die Geschäftsführung benötigten seine hervorragende Kenntnisse in jeder Hinsicht, denn auch zum Bau der bevorstehenden riesigen Gerüstkonstruktionen, die zum Anmontieren der stählernen Außenhaut der Schiffe dienen sollte, wurde jede Arbeitskraft gebraucht und dabei spielte es keine Rolle, ob man eigentlich nur für den Innenausbau, für die Elektrizität, Lackierarbeiten oder ausschließlich für den Gerüstbau zuständig war. Der Zeitdruck war enorm. Der Bau der drei geplanten Ozeanriesen, die von der englischen Rederei White Star Line in Auftrag gegeben wurden, mussten vertraglich schnellstmöglich abgeschlossen werden und damit man in der Zeit blieb, wurde jede Arbeitskraft benötigt und eingesetzt.

Wie es die Mission von ihm abverlangte, gelang es Ike einen Job bei der Schiffswerft Harland & Wolff als ein Vorarbeiter der Schreiner zu ergattern. Er trat professionell und derartig selbstsicher auf, dass seine erschwindelten dreißig Lebensjahre niemand infrage gestellt hatte, obwohl Ike anfangs beim Vorstellungsgespräch erst 25 Jahre alt gewesen war. Seine hervorragenden Referenzen und Diplome, die ihm Vincenzo vorweg beschafft hatte, überzeugten die Geschäftsführung und so stellte man den katholischen Holländer guten Gewissens ein.
In der Werkstatt bewies Ike, dass er über ein außergewöhnliches Talent und Wissen im Handwerk verfügte, was weit über seinen Zuständigkeitsbereich hinausging, weshalb sogar einige Maschinenbauer, Schlosser, Sanitärmonteure, Installateure oder Nieter seinen Rat befolgten, obwohl er anfänglich bei den meisten Vorarbeiterkollegen und Untertanen auf Granit gebissen und sie ihn verteufelt hatten.
Wie jeder Neuling hatte auch er es zu Beginn schwer gehabt, akzeptiert zu werden, und hatte oftmals mit seinen gutgemeinten Ratschlägen angeeckt, zumal ihn die Leute alsbald für besserwisserisch und arrogant verurteilt hatten. Außerdem verriet sein ausgeprägter holländischer Akzent, dass er offensichtlich kein irischer Landsmann war, was ihm ohnehin wenig Sympathie einbrachte. Die meisten Iren hassten jeden Ausländer, insbesondere wenn sie ihnen etwas zu sagen hatten, dann spielte die Konfession sogar dabei wenig eine Rolle. Viele neideten ihn um seinen gut bezahlten Posten als Vorarbeiter. Selbst unter den eigenen Reihen kursierte große Missgunst. Einige Protestanten verspotteten ihn hinter seinen Rücken, hauptsächlich seiner katholischen Konfession wegen und belächelten diesen Schönling, mit seinem ungewöhnlich gut erhaltenen Gebiss und machten sich aufgrund seiner fremd klingenden Aussprache heimlich über ihn lustig.
Manche Köpfe malten sich doch tatsächlich insgeheim aus, wie ihre Fäuste auf sein hübsches Gesicht einschlagen würden, aber niemand traute sich diesen einsachtzig großen Muskelmann nur einmal provozierend anzurempeln, geschweige denn, ihn von Gesicht zu Gesicht die wahre Meinung zu offenbaren. Selbst nach Dienstende nicht. Dafür war ihnen dieses Unterfangen doch etwas zu riskant, nachdem Ike eines Tages in der Schreinerwerkstatt veranschaulicht hatte, wie man mit einem einzigen Fausthieb eine 30 Zentimeter dicke Holzdiele aus Buche durchschlägt – die er vorher heimlich angesägt hatte –, um schon vorab eindrucksvoll gewissen prügelfreudigen Herren zu demonstrieren, was ihnen bei einer eskalierenden Diskussion eventuell blühen würde.

„Das Brennholz müsste doch vorerst reichen. Meinst du denn nicht? Ruhe dich doch mal aus“, entriss ihn eine liebliche Frauenstimme aus seinen Gedanken, während er hackte. Freudig bellend stürmte Laika auf Eloise zu und sprang sie an. Sie kniete sich und drückte Laika beherzt an sich heran. Ihr langer karierter Schottenrock schmiegte sich auf den Boden nieder.
„Was für einen lieben Hund wir doch haben“, sagte sie, wobei sie Ike verliebt anblickte. Der Hund schleckte über ihre Wange, woraufhin Eloise ihr Gesicht verzog und mit dem Ärmel abwischte.
„Laika, das ist Pfui. Hör auf mich ständig abzuschlecken“, sagte sie und küsste Laika auf ihre längliche Schnauze.
Noch nie war Ike solch eine unkomplizierte und genügsame Frau begegnet, die ihn obendrein vom ganzen Herzen liebte und ihn äußerst bewunderte. Er schaute sie immer wieder gerne faszinierend an. Diese Akteurin war einfach hinreißend. Sie stellte ihm bisher keine unangenehmen Fragen über seine Vergangenheit, akzeptierte stets seine Vorschläge und scheute sich niemals auch mal hart anzupacken, obwohl man ihr dies augenscheinlich aufgrund ihrer zarten Erscheinung nicht auf Anhieb zutraute. Er spürte es, dass sie ihm voll und ganz vertraute. Außerdem bewunderte Ike ihren Optimismus, dieser ihr glaubwürdig aus der Seele sprach.
„Ach Ike, auch das werden wir gemeinsam schaffen. Ich bin doch auch noch da und werde dir helfen“, entgegnete sie ihm stets, wenn er wiedermal ermüdet von der Arbeit nach Hause kam, niedergeschlagen wirkte und ihn nochmals, bis die Dunkelheit seinen endgültigen Feierabend einläutete, das Haus körperliche Anstrengung von ihm abverlangte.

Eloise war nicht ansatzweise mit den Frauen zu vergleichen, die Ike im Centrum oder in einer anderen City kennengelernt hatte. Insbesondere galten die Frauen aus dem Centrum als überaus anspruchsvoll und er hatte die bittere Erfahrung gemacht, je gutaussehender die Dame seines Herzens war, desto kostspieliger entpuppte sich ihre Freundschaft. Außerdem geriet Ike ständig an launische und überaus zickigen Frauen, die sich zwar anfangs lieblich präsentierten und ihn anhimmelten, aber sobald nach einigen Wochen der Alltag sie heimgesucht hatte und Ike nicht mehr gar so verschwenderisch mit dem Euro umging, hatten seine Herzdamen oftmals ein hässlicheres Gesicht gezeigt.
Und wenn er einmal einen schlechten Tag erwischt hatte, sein Boxtrainer Jimmy ihn im Ring besiegte, hatte ihn seine eigene Freundin verachtend angeblickt und den ohnehin niedergeschlagenen Ike zusätzlich gestraft, indem sie jegliche Berührung seinerseits zickig abgewehrt hatte.
Eloise dagegen, das Mädchen vom Land, war geradlinig, sagte immerzu ihre offene Meinung und verabscheute Heuchelei sowie Verschwendung. Sie munterte ihn in schlechten Zeiten erst recht auf und stand ihm dann insbesondere treu beiseite, trieb ihn beharrlich voran und schenkte ihn abends ihre lustvolle Leidenschaft, was Ike wiederum augenblicklich aufbaute. Eloise liebte ihren starken klugen Mann abgöttisch, besonders in jenen Augenblicken, wenn er verletzlich und hilflos wirkte. Denn grad dann, wenn Ike ratlos war, gelang es Eloise ihn zu motivieren, was sie selbst stolz machte und ihn noch viel mehr liebte.
Eloise war ausgesprochen großherzig, was sie jedoch vielleicht naiv wirken ließ. Nach der Vorstellung ihrer Eltern sollte die Neunzehnjährige längst mit dem Nachbarsburschen Peter Callaghan verheiratet sein, aber Eloise hatte sich bislang haarsträubend gegen eine Vermählung gewehrt. Ihrem Vater schien ihr trotziges Verhalten nicht sonderlich zu stören, weil er Peter Callaghan nicht unbedingt als seinen Schwiegersohn haben wollte. Ihm wäre es genauso recht gewesen, wenn seine Tochter weiterhin im Elternhaus wohnen geblieben wäre, solang sie keinen fremden Mann mit nach Hause schleppen würde oder sie sich nachts herumgetrieben hätte. Das hätte er keinesfalls geduldet. Die Erziehung ihrer Kinder hatte der Vater ganz und gar seiner Frau überlassen.
Der Vater verlangte ausschließlich Gehorsamkeit. In seinem Haus herrschte Zucht und Ordnung und wehe dem nicht, dann gab es eben eine Tracht Prügel. Die Mutter blieb stets auf der Hut und achtete peinlichst darauf, dass hauptsächlich ihre Tochter sich nicht herumtreibt. Eloise hatte Rede und Antwort zu geben, wohin immer sie auch ging und musste sich zeitig wieder Zuhause melden, damit die Nachbarschaft nicht tuschelte, dass sich das junge Fräulein O’Brian wohlmöglich in fremde Schlafgemächer vergnügte. Dieser Schmach, welche die Familienehre zunichte machen würde, wollte die Mutter keinesfalls ausgesetzt werden. Allein solch ein Gerücht wäre entsetzlich. Nur eine Heirat würde das Geschwätz der Leute verstummen. Es gehörte sich nun Mal für ein anständiges, katholisches Mädchen ihres Alters, mit einem ebenfalls katholisch gläubigen Mann verheiratet zu sein.
Jedoch zeigte Eloise bisher kein besonderes Interesse an Männern, bis auf das eine oder andere heimliche Techtelmechtel geschah nicht viel. Höchstens mal einen Kuss auf dem Mund. Ihre aufrichtige Liebe und Aufmerksamkeit schenkte sie seit ihrer Kindheit ausschließlich ihren Pferden, was so manchen Dorfburschen frustriert hatte und diese sich daraufhin sowieso rasch in ein anderes Mädchen verguckt hatten.

„Eloise … Ich verstehe dich nicht. Peter Callaghans Stammbaum ist tadellos. Er erbt später ein angesehenes Familienunternehmen und wird durchaus in der Lage sein, eine Familie zu ernähren. Kind, sei doch nicht töricht. Peter ist offensichtlich nicht von dir abgeneigt und wird für dich sorgen können. Mag ja sein, dass er ein wenig unbeholfen wirkt, aber das könntest du dir zunutze machen und hättest stets die Oberhand in deinem Haus.“
„Unbeholfen? Ich bitte dich, Mutter. Der ist dumm wie drei Ballen Heu! Der kann nicht einmal gescheit lesen und schreiben. Peter will ich nicht! Ich heirate nur einen Mann, den ich auch lieben und achten kann. Damit Basta!“, giftete sie aufmüpfig, sobald ihre Mutter nur ansatzweise dieses Thema erwähnte.
Besonders das Verhältnis zu ihrer strengen Mutter war seit längerem angespannt, seitdem Eloise merklich zu einer jungen Frau herangereift war und sie nicht mehr alles bedingungslos hinnahm, was man ihr vorschrieb. Zudem musste sich Eloise gegen ihre beiden jüngeren Brüdern, Paddy und Albert, die die Lieblinge der Mutter waren, sich ständig durchsetzen, was ihr trotz alledem immer erfolgreich gelungen war.
„Von euch Rotzblagen lasse ich mir noch lange nichts bieten!“, wies sie ihre frechen Brüder stets zurecht, wenn sie ihre ältere Schwester wiedermal ärgerten.
Ihr jahrelanges zähes Durchsetzungsvermögen bekräftigte eines Tages ihren Mut, sogar gegen die strengen Eltern in jeder Hinsicht zu rebellieren. Vor ihrer großen Schwester hatten die beiden Brüder wahrlichen Respekt. Wenn Eloise ihre Hand hob, kuschten sie sofort. Aber die große Schwester hatte sich immer vor ihren Brüdern gestellt, egal was geschehen war, hatte sie stets verteidigt und hatte sich sogar niemals davor gescheut wenn sie dazu bedrängt wurde, sich mit Nachbarsburschen zu raufen.
Trotz mancher Unstimmigkeiten liebten sich die Geschwister untereinander aufrichtig, sodass nie ein derartig böses Wort gefallen war, dass die Geschwister sich nicht mehr anblickten. Nachdem öfters ein paar Ohrfeigen schallten – hauptsächlich provozierte der vierzehnjährige Paddy seine Schwester stets gerne – hielten sich die Geschwister im nächsten Augenblick wieder liebevoll in den Armen und baten aneinander um Verzeihung.
Eine unverheiratete junge Frau ihres Alters war damals eine Seltenheit, weshalb nicht nur die dörfliche Burschenschaft, sondern auch einige ältere ledige Herren ihr nachstellten. Doch ihr quirliges, temperamentvolles Wesen verlangte nach einem gescheiten Mann, der ihr mehr zu bieten vermochte und verlangte, als nur Kühe zu melken und den Haushalt aufrecht zu halten. Dieser sollte mindestens einen Jules Verne gelesen, sich etwas in der Astronomie auskennen und eine starke Schulter haben, an der sie sich anlehnen könnte. Außerdem sollte der Mann ihrer Träume unbedingt fähig sein, auch mal konsequent mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Obendrein wünschte sich Eloise bedingungslos geliebt zu werden, wobei sie sich selbst eingestand, dass ihre Ansprüche vielleicht etwas zu hoch angesetzt waren und ihr solch ein Mann wohlmöglich niemals begegnen würde. Jedenfalls nicht in einen der umliegenden Dörfer von Belfast. Seitdem Eloise jedoch zu einer jungen Frau herangewachsen war, hatte währendem sie ihre Pferde striegelte zunehmend darüber nachgedacht wie es wäre, wenn aus heiterem Himmel tatsächlich ihr Traummann erscheinen würde, der sie so liebt, wie sie nun mal war.

Für einen modernen Stadtburschen mochte Eloise vielleicht etwas zu unscheinbar wirken. Eloise war ein typisches irisches Mädel, mit naturblasser Haut. Ihre Nase sowie Wangen waren mit Sommersprossen verziert und ihr langes, kupferrotes Haar trug sie meistens schlicht zu einem geflochtenen Zopf. Oftmals, wenn sie im Haushalt tätig war, beispielsweise Wäsche in einer Blechwanne schrubbte und ihr am Morgen wenig Zeit zum Frisieren blieb, wuschelte sie ihre dichte Haarmähne kurzerhand nach oben und steckte es mit Wäscheklammen fest. Hauptsache praktisch, lautete ihre Devise. Ihre Mutter dagegen sah es nicht gerne, wenn die Tochter derartig praktisch herumlief und kritisierte oftmals ihr schlampiges Erscheinungsbild, wie sie sich glimpflich auszudrücken pflegte.
„Eloise, wie du schon wieder aussiehst!“, schimpfte die Mutter dann. „Steck die Wäscheklammern gefälligst aus deinem Haar, was sollen denn die Nachbarn von uns denken?!“
„Was die Leute über mich sagen, ist mir einerlei! Es zählt nur, dass ich ordentlich arbeite, Mutter!“, giftete sie daraufhin garstig.
Zuhause, hauptsächlich in der Gegenwart ihrer Mutter, machte Eloise oftmals einen mürrischen Eindruck, wobei sie sich auffällig hektisch, reserviert und wortkarg gegenüber den Nachbarn verhielt. Manch einer behauptete, sie sei bloß eine erhabene Göre die meint, etwas Besseres zu sein. Kein Wunder, dass ihr die Männer nicht in Scharen hinterher laufen, bis auf ein paar alte geile Böcke, und sie noch nicht unter der Haube sei.
Aber sobald Eloise gut gelaunt war und lächelte, strahlte sie eine hinreißende Heiterkeit aus, die jedes verdrossene Gemüt augenblicklich fröhlich umstimmte und genau dieselben Leute fragten sich daraufhin, weshalb ist solch ein hübsches Mädchen noch nicht verheiratet?
Die rothaarige Irin, mit den wundervollen grünen Augen und der typisch blässlichen Haut, sprach zudem perfekt gälisch und konnte sich sogar mit den Hiesigen aus dem Süden mühelos verständigen, die weit abseits der Großstädte in den uralten Dörfern wohnten. Dies rechneten ihr die alt Eingesessenen hoch an und bewunderten sie, denn in Nordirland wurde hauptsächlich Englisch gesprochen. Ihre Eltern hingegen mochten es nicht, wenn sie dieses Bauernkauderwelsch aus dem Süden sprach, wie sie es bezeichneten.
Das war ein weiterer Grund, weshalb ein Stadtbursche wenig Interesse an ihr zeigte. Man gehörte doch zu England und sprach demnach ausschließlich englisch. Außerdem meinte der Mann von Welt, dass Eloise zu schlicht gekleidet und zudem einen Tick zu vorlaut war. Sie sprach generell ihre ehrliche Meinung heraus und das obendrein ungefragt, was damals ein Mann ohnehin für vulgär empfand und sich von solchen Damen meistens distanzierte. Es galt damals zu jener Zeit außerdem nicht unbedingt als attraktiv, wenn die Frau die größeren Forellen aus dem Bach fischte, fester im Sattel saß oder gar die meisten Enten vom Himmel schoss, was Eloise des Öfteren gelang, weil sie das Jagen und Fischen sowie Reiten von ihrem Vater gelernt hatte.
Des Weiteren hieß es, ein Landmädchen verlangt nach dem ersten Kuss sofort geheiratet zu werden, was einen modernen jungen Mann ebenso wenig begeisterte sowie anspornte, solch eine Bekanntschaft zu machen. Überdies zeigte Eloise selten Interesse an Kosmetik und um Mode scherte sie sich genauso wenig. Ihr karierter langer Schottenrock und ihre grüne Lieblingsstrickjacke waren für ein Dorffest schick genug, meinte sie. Und auch sonst schneiderte sie ihre Kleider oftmals selbst, wenn ihr nach einem neuen Kleidungsstück zumute war. Etwas Neues kaufen kam für sie erst mal nicht infrage. Und wenn ihr ein Rock ungeschickterweise einriss, zuckte sie bloß mit der Schulter: „Was soll`s, dann wird eben ein Flicken darauf genäht.“

Ike versuchte schon so oft, wenn sie jeden Samstag mit dem Fuhrwagen nach Belfast kutschierten, ihr etwas Schickes zum Anziehen zu kaufen. Eines Samstages war es wieder soweit. Eloise war immerhin eine Frau und ließ sich von ihm selbstverständlich gerne in eine Boutique führen.
„Liebes, suche dir aus, was dir gefällt. Ich kaufe es dir“, flüsterte er in ihr Ohr. „Egal wie viel es kostet.“
Das Mädchen vom Land hatte vorher noch nie eine Boutique betreten, lediglich wusste sie vom Hörensagen ihrer besten Freundin Margaretha, wie ein Modegeschäft von innen aussah. Eloise betrachtete mit großen Augen die wundervollen Damenbekleidungen, stöberte gemächlich herum, hielt sich ab und zu ein Kleid vor die Brust und sah ihn erwartungsvoll an.
„Und, was sagst du dazu? Steht mir dieses Kleid? Ich finde es verflixt himmlisch. Ich liebe Grün“, bekundete sie freudenstrahlend.
Ike klatschte daraufhin in seine Hände.
„Sehr schön. Es steht dir ausgezeichnet, Liebes. Lass es uns auf der Stelle kaufen. Mister, Sie dürfen dieses wunderschöne Kleid einpacken. Es ist gekauft!“
Der Verkäufer rieb sich bereits die Hände, pries den hervorragenden Stoff an und bekundete ebenfalls, wie wundervoll die hellgrüne Farbe zu der feinen Dame passt. Jedoch als Eloise das Preisschild erblickt hatte, legte sie das Kleidungsstück naserümpfend wieder zurück.
„Nö, das ist ja unverschämt teuer. Jetzt will ich es nicht mehr haben!“, blökte sie mitten im Geschäft herum, woraufhin sie sich empörte Blicke einiger Damen und dem verdutzten Verkäufer einhandelte. Ike dagegen prustete, packte sie sogleich am Arm und beide flüchteten laut lachend aus dem Geschäft heraus. Als sie gemeinsam unbeschwert über die Straße schlenderten, hatte Ike ihr ständig in den Hintern gezwickt. Eloise hatte damals seine Neckereien kichernd abgewehrt.
„Ike, lass das doch bitte“, giggelte sie. „Nicht vor all den Leuten!“
Ihre Bemerkung war nicht unbegründet, denn so mancher Herr sowie Dame, die an ihnen vorbei liefen, drehten sich um und blickten ihnen empört hinterher. Wie schamlos sich doch die Jugend von heute verhält, mochten sie gedacht haben.

„Weshalb wolltest du dieses Kleid nicht haben? Die großen weißen Punkte auf dem hellgrünen Kleid sahen doch schickmodern aus. Sag es, sag es mir! Wieso bist du so genügsam? Das ist nicht normal. Ich werde dir jetzt irgendwas kaufen. Es ist mir egal, was und wie teuer es ist. Selbst wenn es eine tonnenschwere Goldkette ist, kaufe ich sie dir.“
Daraufhin zerrte Eloise ihn zurück, stellte sich auf ihre Fußspitzen und blickte zu ihm hinauf. Verzweifelt versuchte sie ernst zu bleiben, doch es gelang ihr nicht. Immer wieder entwich ihr ein bezauberndes Lächeln, dies Ike entzückte. Eloise war rundum glücklich.
„Ike … Nein! Unterstehe dich! Ich sehe nicht ein, dass du dein sauer verdientes Geld verplemperst. Du bringst mir doch ständig etwas mit. Mal eine Schachtel Pralinen, neulich diese wundervolle Spieluhr, dann eine Perlenkette. Kürzlich diesen Ring, letztens erst die Winterstiefel, obwohl ich diese ebenfalls für zu teuer hielt. Und jeden Tag bringst du mir einen Blumenstrauß mit. Ich weiß schon gar nicht mehr wohin mit alldem verflixten Grünzeug“, kicherte sie.
„Ach Liebes, ich beschenke dich einfach gerne und außerdem verdiene ich genug Geld. Wir beide gehören doch zusammen … Du und ich. Also, lass mir doch diese Freude. Wenn du glücklich bist, bin ich es ebenso.“
„Nein Ike … Nein!“, ermahnte sie ihn erneut mit erhobenem Zeigefinger, wobei sie ihr Prusten nicht weiter unterdrücken konnte und abermals lachte. Dann verstummte sie, neigte ihren Kopf seitlich und blickte ihn liebevoll an. Ihre grünen Augen glänzten.
„Ich bin doch glücklich, weil du bei mir bist. Der Herrgott aber verabscheut Verschwendung. Es schadet nicht, wenn wir sparsam sind. Vielleicht werden wir eines Tages schlechte Zeiten erleben müssen und dann wird der HERR unsere Bescheidenheit belohnen.“ Sie kuschelte sich seufzend in seine Arme. „Alles was ich brauche, habe ich doch schon … Das bist du.“
Die einzigen Wünsche, die Eloise immer wieder äußerte waren Webstoff, Garn, Wolle und Leinentücher und manchmal wünschte sie sich ein Buch. Besonders die Romane von Jules Verne hatten es ihr angetan. Aber letztlich nähte sie gar kein Kleid für sich selbst, sondern häkelte für Ike einen Pullover oder ein paar warme Socken, damit er während der Arbeit nicht frieren musste.

Das Gehalt eines Vorarbeiters bei Harland & Wolff war recht üppig und es reichte allemal aus, um eine vierköpfige Familie zu sättigen. Und da beide nur für sich waren, konnte er ihre ausgeprägte Bescheidenheit nicht nachvollziehen. Außerdem stand Ike weitaus mehr Geld zur Verfügung, als Eloise es ahnte. Es existierte nämlich ein geheimes Bankkonto, darauf alle Schleuser und Agenten, die sich in einer Mission befanden, weltweit im Notfall zugreifen durften. Ike hatte somit hauptsächlich den Bau des Hauses sowie die notwendige Innenausstattung finanziert, wofür dieses Gemeinschaftskonto unter anderem auch gedacht war. Sein eigenes verdientes Gehalt durfte er selbst verwalten, dies sah die UE-Regierung während einer laufenden Mission nicht als eine Bereicherung in der Vergangenheit an. Jedoch als er Eloise die äußerst wertvolle Perlenkette, die etlichen Spieluhren, Ringe sowie weitere Geschenke gekauft hatte, schonte er sein eigenes Konto und erleichterte dafür dieses sogenannte Gemeinschaftskonto mittlerweile um Sage und Schreibe 4.500 irisches Pfund, was ein halbes Vermögen war, wenn man berücksichtigte, dass Ike lediglich 30 Pfund pro Woche verdiente.
Er versicherte Eloise scheinheilig, dass er die Goldketten für nicht einmal fünfzehn Pfund erworben hatte, was sie ihm bedingungslos geglaubt und sie sich daraufhin dankend um seinen Hals geworfen hatte. Die aufrichtige Dankbarkeit, die sie ihm ständig entgegenbrachte, wobei sie zwischen einer Schachtel Pralinen, einen Blumenstrauß oder eben einer kostbaren Perlenkette keinen Unterschied machte, überwältigte und faszinierte ihn. Und wenn Ike einmal mit leeren Händen von der Arbeit nach Hause kam, weil es wiedermal länger wurde und er völlig übermüdet war, rannte sie ihm trotzdem freudig entgegen, öffnete hastig das Nord-Tor und schmiegte sich wie gewohnt liebevoll an ihn ran.
„Was bin ich froh, dass du wieder bei mir bist. Wie sehr ich dich doch den ganzen Tag vermisst habe“, sagte sie überglücklich.

Es entwickelte sich für Ike eine regelrechte Sucht, sie zu beschenken, denn Eloise bescherte ihm ungewohnte Glücksgefühle, sobald sie sich freute. Weil, sie zahlte es ihm tausendfach zurück, indem sie sich einfach nur dankend um seinen Nacken schlang und ihm aufrichtige Liebesschwüre ins Ohr flüsterte: „Ich habe dich so sehr lieb. Vom ganzen Herzen.“
Eine Frau, die ihm derartig genügsam sowie liebevoll begegnete, hatte er noch nie zuvor erlebt. Sie war es in seinen Augen wert, unendlich geliebt und beschenkt zu werden.
Doch während der Arbeitszeit auf der Schiffswerft schloss er sich häufig in sein Büro ein und betrachtete das Foto vom Jahrmarkt, worauf sie gemeinsam zu sehen waren. Insgeheim wusste Ike, dass er für Eloise mittlerweile mehr empfand, als es erlaubt war.
„Es tut mir leid, Liebes. Ich darf dich nicht lieben. Du bist nur eine Akteurin“, versuchte er sich immer wieder einzureden.
 
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