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Die Belfast Mission - Kapitel 54

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 54 – Der Big Brother

Während Ike auf seinem Pferd über die hüglige Wiesenlandschaft galoppierte wurde er nachdenklich. Dieser geheimnisvolle Reiter am Friedhof beschäftigte ihn und nun hatte sich sogar Vincenzo gemeldet, obwohl er doch inhaftiert wurde. Scheinbar hatte man ihn wieder freigelassen. Ike war sehr gespannt, wie es dazu kam und was in seiner Welt grad vor sich ging.

Für Vincenzo Falcone schien einfach nichts unmöglich zu sein, selbst als Angeklagter schnellstmöglich wieder entlassen zu werden. Er zählte zu den bekanntesten Menschen in United Europe und zu den Pionieren der Zeitreisen. Sein Bekanntheitsgrad war mit dem eines berühmten Schauspielers oder Rockstars vergleichbar. Die Hindenburg-Affäre 30 Jahre zuvor wurde insbesondere unter der jungen Generation als eine legendäre Tat bezeichnet, zugleich regte es aber auch zum Nachdenken an, dass die geschichtlichen Ereignisse nicht einfach verändert werden dürften. Zwar war Vincenzo damals noch nicht für den UE-Secret Service tätig gewesen, als dreißig Jahre zuvor der Checkpoint für die kommerziellen Zeitreisen freigegeben wurde, dafür hatte er aber in der Entwicklung des Archives mitgewirkt und sich überdies des Öfteren als Testperson zur Verfügung gestellt, um durch das Zeitfenster zu steigen, um das gefährliche Ungewisse herauszufinden.
So mancher hatte sich damals freiwillig zur Verfügung gestellt, unter anderem Simon Barnes, Nicholas Verhoeven und Henry Gudimard. Aber einige kehrten auch nie wieder zurück und waren im Raum-Zeitkontinuum einfach für immer verschollen geblieben. Mancher stieß sogar fürchterlich gegrillt wieder aus dem Zeitfenster heraus oder zerschellten jäh an einem freistehenden Eichenbaum oder Felsen, weil das Energiefeld des Zeitfensters aufgrund technischer Mängel versagt hatte.

Zudem pflegte Vincenzo zwielichtige Kontakte und handelte mit Gegenständen aus der vergangenen Welt, dies absolut verboten war. Zu seiner Kundschaft zählten hauptsächlich zahlungskräftige Sammler sowie auch Personen, die in United Europe mit der Regierung oder mit der Mount-Sekte in Schwierigkeiten geraten waren. Dieser Mann war im Laufe der Jahrzehnte sehr einflussreich geworden und eigentlich war er mit Henry befreundet, aber nun schien es so, dass Vincenzo seine Macht missbraucht hatte und wurde somit zum Staatsfeind.
Vincenzo war eine Person, die alles rund um die Zeitreisen wusste, ebenso über die Möglichkeiten sowie Gefahren welche auftreten könnten und ahnte immer im Voraus, falls ein Zeitparadox entstehen könnte. Jedes Mal, wenn eine Mission geplant war, wurde er dazu beauftragt, ein Konzept für die Schleuser zu erstellen, damit sie in eine Zeitepoche problemlos integriert werden konnten und deren Lebensläufe lückenlos waren. Vincenzo war ein ausgetüftelter Kerl und für den Secret Service äußerst wertvoll, weshalb man über seine Machenschaften des Öfteren drüber hinweg sah. Für Ike war Vincenzo die einzige Hoffnung, dass Eloise wieder in das Leben zurück gebracht werden könnte. Vincenzo hatte das Wissen und die technischen Möglichkeiten dazu, dieses tragische Unglück ungeschehen zu machen, ohne dabei ein Zeitparadoxon auszulösen. Aber konnte Ike ihm nach diesen ungeheuerlichen Anschuldigungen überhaupt noch vertrauen?

Als Ike seinen Hof erreicht hatte, sprang er vom Pferd, rannte in das Haus hinein und aktivierte sofort alle Kommunikationssysteme. Sogleich hörte er Vincenzos Stimme, die aus Mikrolautsprechern zu hören war.
„Uns bleiben nur noch knapp fünfzehn Minuten, bis der Satellit wieder hinter der Erdkrümmung verschwindet und die Funkverbindung unterbrochen wird. Ich habe erfahren, was geschehen ist. Das ist zwar sehr bedauerlich, aber noch nicht völlig hoffnungslos, so wie man es dir einzureden versucht“, betonte Vincenzo.
Ike stand in der Wohnküche, blickte starr gegen die Dielendecke und wanderte langsam um den Küchentisch herum. Ike konnte ihn nicht sehen, nur hören, aber Vincenzo war es in der fernen Zukunft möglich, ihn auf einem Monitor zu betrachten. Die vierzig Sekunden galten nicht, weil Vincenzo sich direkt in den Satelliten eingehakt hatte und somit das komplette Kommunikationssystem des Hauses kontrollierte. Ike dachte gar nicht darüber nach, dass Vincenzo, kaum dass er auf Kaution freigelassen wurde, eine erneute Straftat begann.
Vincenzos Stimme hallte leicht und es kam Ike vor, als wenn die mächtige Stimme des Big Brothers zu ihm sprach, der ihn immerzu beobachten und jede Handlung sehen konnte. Dies hatte Ike, seit seinem Aufenthalt in Nordirland, eine gewisse Sicherheit vermittelt und vertraute dieser Stimme, wie einen Freund, der ihn jederzeit vor allen Gefahren vorzeitig warnte.
„Ike, wir müssen reden. Du stehst nun im Finale und da wird meist unfaire gespielt. Die Anderen müssen genauso gewinnen, wie wir. Ich weiß genau, was jetzt in dir vorgeht. Lass dir aber von mir gesagt sein, dass ich niemals gegen dich gehandelt habe, gar die Interessen des TT unterstützt hatte und mit dem Anschlag auf dich involviert war. Das ist absurd. Ich bin kein Verräter! Die Sicherheitszentrale sucht nur einen Sündenbock, falls die Mission dennoch scheitern sollte und ich komme ihnen da gerade recht. Du solltest wissen, dass die Regierung ein unglaubliches Vermögen in das Projekt Zeitreise zur Titanic sowie in die Belfast Mission investiert hat und sollte etwas schief laufen, müsste der Präsident Hendrik Klaasen zurücktreten. Der Präsident unterstützt die TTA tatkräftig indem er sogar in Talkshows auftritt, um diese Mission sowie Titanic Zeitreise zu rechtfertigen. Die meisten Politiker wollen Klaasen als Präsident behalten, dazu braucht er aber auch seine Wähler, die Bevölkerung, die er von diesem Projekt überzeugen muss. Ich jedoch will nicht der Schuldige sein, falls die Belfast Mission scheitert.“
Vincenzo hielt einen Moment inne und beobachtete Ike, wie er aus dem Wohnzimmerschrank eine Flasche Whiskey holte, sich einen Schluck daraus genehmigte und etwas in den brennenden Kamin spritzte. Eine kurze Stichflamme stieß aus dem Kamin heraus.
„Ike, ich warne dich. Sie werden über Leichen gehen, damit das Titanic Projekt im Reiseprogramm der Time Travel Agentur angeboten wird. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist. Die Leute campieren bereits massenweise vor dem TTA Gebäude, weil sie unbedingt die Nächsten sein wollen, um diese legendäre Fahrt in die Hölle hautnah mitzuerleben. Das Titanic Fieber scheint sich immer wieder auszubreiten. Zuerst nur mit Filmen und etlichen Sachbüchern; damals im 21. Jahrhundert sind vermögende Touristen sogar hinunter zum Schiffswrack getaucht und heute ist es möglich, bei der Jungfernfahrt wahrhaftig dabei zu sein. Nun ist der absolute Höhepunkt dieser Hysterie angelangt und Henry würde dich auf der Stelle opfern, wenn dies zum Erfolg der Mission führen würde. Sein Herz schlägt ausschließlich für United Europe. Die Sicherheitszentrale ist es, die du nicht vertrauen darfst“, behauptete Vincenzo. Er seufzte. „Verständlicherweise wurde mir der Zugriff auf das Archiv mittlerweile verweigert, sodass ich praktisch handlungsunfähig bin. Ich könnte nicht einmal einen Brief in dein Jahrhundert teleportieren lassen. Nun sitze ich hier, in Vincenzo`s Bar, in meinem eigenen Internetcafé und habe mich in das Kommunikationssystem des Satelliten mit einem Gast-Account eingehakt. Ike, sicherlich hattest du erhofft, dass ich dir behilflich sein werde, um Eloise wieder in das Leben zu integrieren.“ – Vincenzo seufzte einmal – „Es tut mir leid, aber das ist in meiner Lage momentan unmöglich. Ich habe mich nur gemeldet, weil ich deine Hilfe unbedingt benötige. Aber wenn du mir hilfst und einverstanden bist, dann kann auch ich dir helfen. Ich erkläre dir die Sachlage und du wirst erkennen, dass wir unweigerlich zusammen arbeiten müssen. Nur wenn du mir weiterhin vertraust, werden wir beide davon profitieren. Verloren ist das Fräulein nämlich noch nicht ganz!“

Während Ike zuhörte schenkte er sich ein Glas Whiskey ein.
„Ich bin ganz Ohr“, entgegnete er, wobei ein misstrauischer Unterton herauszuhören war. „Erkläre mir erst mal, weshalb du den TT Eric einen Beamer verschafft und ihn somit wiedermal entkommen gelassen hattest. Hätten Agent Maikel und Agent Dave ihn in Sin City erwischt, wäre dieser tragische Zwischenfall am 30. September vielleicht gar nicht geschehen und Eloise wäre noch am Leben. Ich beschuldige dich hiermit am Tod meiner Frau. Was sagst du dazu?“
„Ike, meine Ermittlungsmethoden sind oft illegal, ohne dass sogar Henry darüber informiert wird und beginnen meist dann, wenn dem Geheimdienst die nötigen Genehmigungen verweigert werden. Ich muss also sofort handeln und immer darauf hoffen, dass die Sicherheitszentrale im Nachhinein einverstanden ist und mir nachträglich eine Genehmigung erstellt. Wie in deinem Fall, als du die angeblichen Akteure eliminieren wolltest“, argumentierte Vincenzo.
„Ich hatte erst zu Beginn der Belfast Mission einen Kopfgeldjäger namens Elia angeheuert, einen Mount, der den TT schließlich in Sin City ausfindig machen konnte. Dieser war sechs Monate in die Vergangenheit geflüchtet, daher macht es den Anschein, ich hätte Eric bereits vor der Belfast Mission gekannt. Das ist aber nicht wahr. Unglücklicherweise waren die Agenten Maikel und Dave ebenfalls vor Ort gewesen und Elia ging davon aus, dass ich die zwei Geheimagenten zur Unterstützung geschickt hätte. Das war ein typisches Missverständnis, welches während einer Zeitreise durchaus vorkommen kann. Genauso wie es dir in Southampton vor dem Hotel passiert war, als dir plötzlich Marko Rjiken begegnete und er behauptet hatte, du hättest das Bankkonto geplündert. Das sind Berechnungsfehler die passieren können, wenn zwei Operationen gleichzeitig in ein und derselben Mission stattfinden.“
„Ich hab das verdammte Geld weder veruntreut noch habe ich das Gemeinschaftskonto aufgelöst! Wie oft soll ich mich denn noch vor euch deswegen rechtfertigen? Wie denn auch?! Man kann doch im Archiv recherchieren, dass ich es nicht war!“, antwortete Ike barsch. Es dauerte einen Moment bevor Vincenzo fortfuhr.
„Darauf will ich gar nicht weiter eingehen. Es wird sich sowieso spätestens im April 1912 herausstellen, was mit dem Bankkonto geschehen wird. Aber das ist eine neue Zukunft und in die Zukunft kann das Archiv nicht einsehen, nur in die Vergangenheit. Lass mich also weiter erklären“, sprach seine knurrige Stimme.
„Als Eric anfangs auf der Titanic verhaftet wurde, bist du zeitgleich mit seiner Leiche am Checkpoint erschienen. Das war zuerst sehr verwirrend. Der einzige Unterschied zwischen der toten und der lebenden Person Eric war, dass das Gesicht der Leiche übel zugerichtet war. Die Mediziner hatten in ihren Obduktionsbericht angegeben, dass diese Verletzungen aufgrund des tödlichen Kopfschusses resultierten, schließlich hattest du seine halbe Schädeldecke weggeschossen. Du jedoch hattest behauptet, dieser Mann hätte schon vorher ein geschundenes Gesicht gehabt. Deine Aussage wurde auch nicht angezweifelt, immerhin hattest du den TT dabei ertappt, wie er William Murdoch erdrosseln wollte. Die Mediziner gingen also davon aus, dass ihm einige Gesichtsverletzung der Schiffsoffizier während des Gerangels zugefügt haben musste. Somit wurde diese Akte geschlossen und der lebende Eric wurde in den Inhaftierungsbunker abgeführt. Dort wurde er von Agent Maikel verhört, der mitunter seine Fäuste einsetzte, um die Wahrheit herauszufinden. Letztendlich war es Eric gelungen zu fliehen.“
Ike nickte, hob sein Whiskeyglas und prostete der Dielendecke entgegen.
„Sláinte, mein lieber Vincenzo. Das ist ein irischer Trinkspruch auf gälisch“, lächelte Ike.
Vincenzo beobachtete, wie Ike grinsend seinen Whiskey hinunterkippte.
„Genauso war es“, fuhr Ike fort, nachdem er sich kurz schüttelte und sein Gesicht verzog. „Eric hatte bereits ein geschwollenes Auge und seine Schiffsoffiziersjacke war mit seinem eigenen Blut getränkt, schon bevor ich ihn eliminiert hatte. Daran erinnere ich mich noch ganz genau“, bekundete Ike. „Möglich, dass William Murdoch sich gewehrt und ihm eine verpasst hatte, aber wirklich glauben konnte ich das nie. Der TT musste Murdoch nämlich völlig überrascht haben, denn er war wahrscheinlich urplötzlich in seiner Suite erschienen. Und zwar mithilfe eines Beamers, den du ihm besorgt hattest!“

Ike griff an seine Schläfe und tastete das Pflaster ab. „Sag mal, wenn dieser Eric selbst ein Zeitreisender war, der ein eigenes Zeitreiseprinzip nutzte, weshalb benötigte er dann überhaupt einen Beamer? Warum hattest du ihm einen Beamer beschafft?“
„Das kann ich dir erklären. Wie du mittlerweile weißt, ist er ein Agent der Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA existiert aber nicht in unserer Welt, jedenfalls nicht auf unseren Radarschirmen. Ebenso ist United Europe nicht in ihrer Welt existent. Wir hatten Eric in unsere Welt praktisch gefangen gehalten, mit den Handschellen. Du erinnerst dich noch an deine Entdeckung, an den zermalmten Felsen? Sie reisen mit einem Flugobjekt durch die Zeit, wahrscheinlich ist es ein Raumschiff wobei sie die Wurmlöcher im All als Zeittore benutzen. Sobald die Mannschaft aber aussteigt, können sie sich von ihrem Standpunkt eigenständig allerhöchstens sechs Monate in die Vergangenheit transferieren. Für weitere Entfernungen reicht ihr Funksignal nicht aus. Das Basisschiff der Amis ist mit unserem Satelliten vergleichbar und da Eric nun im Jahr 2473 völlig außer Reichweite war, musste er von einem fremden Standpunkt, aus unserer Welt, unbedingt wieder zurück in das Jahr 1912. Dort schwebt vermutlich deren Flugobjekt irgendwo im Tarnkappenmodus geschaltet über Southampton. Du musst verstehen, dass wir zwar zwei verschiedene Welten sind, aber wir haben trotzdem eine gemeinsame Vergangenheit. Irgendwann hatte sich die Zukunft beider Staaten scheinbar entzweit. Vermutlich beruhte dies auf ein Zeitparadox. Ein kleiner Ratschlag von mir … Lass die Sauferei. Das wird deinen Kummer auch nicht erträglicher machen. Ich spreche da aus Erfahrung. Du wirst ab sofort einen absolut klaren Kopf benötigen, um richtig handeln zu können.“
Ike setzte das Glas erneut an, schüttete seinen Whiskey runter, füllte es sogleich wieder randvoll und ignorierte seine Bemerkung.
„Trotzdem hättest du ihm niemals unsere Zeitreisemethode aushändigen dürfen. Vincenzo, du offenbarst mir nur Vermutungen. Simon Barnes wollte mir schon weismachen, dass es ein paralleles Universum gibt, erschaffen allein dadurch, weil irgendjemand, irgendwann während einer Zeitreise Scheiße gebaut hatte. Mich überzeugt dieser Bullshit nicht, aber der verdammte TT Eric ist nun unterwegs durch Zeit und Raum, tot oder lebendig, und wer weiß, was das für Konsequenzen mit sich ziehen wird“, antwortete Ike.
„Nein, Ike. Der ist gewiss nicht mehr unterwegs sondern liegt im Memorial Hospital mausetot in einem Leichenkühlfach. Für immer. Das garantiere ich dir. Als Elia Eric zu mir brachte, fiel mir sein geschundenes Gesicht und die blutverschmierte Offiziersjacke auf. Er stand vor mir, genauso wie du ihn beschrieben hattest. Maikel hatte ihn kurz vor seiner spektakulären Flucht vermöbelt und da wurde mir glasklar, dass Eric die Zeitreise nach Southampton noch gar nicht unternommen hatte. Er war zudem ganz erpicht darauf von mir zu erfahren, wo sich William Murdoch am Mittwoch den 10. April circa zehn Uhr im Jahre 1912 aufhalten würde, woraufhin ich ihm die genauen Koordinaten in seine Suite im South Western Hotel einprogrammiert hatte. Verstehst du es jetzt? Ich habe ihn in die Vergangenheit geschickt, genau dorthin wo sich Murdoch aufhielt weil ich wusste, dass du ihn dort eliminieren würdest. Ich habe Eric mit dem Beamer nicht zur Flucht verholfen, sondern ihn damit in den Tod geschickt.“

Während Ike seinen Whiskey hinunterkippte, wanderten seine Augen die Decke entlang. Vincenzo klang sehr überzeugend und eigentlich war es auch einleuchtend. Irgendeine Erklärung für Erics geschundene Leiche musste es schließlich eines Tages geben und Vincenzos Version war ihm zugegeben auch sehr angenehm, weil er ihm glauben wollte, weil er unbedingt seine Hilfe benötigte. Aber eine Angelegenheit schien dennoch ungereimt zu sein.
„Na schön“, antwortete Ike. „Angenommen du sprichst die Wahrheit. Du hast dem TT eine Kapsel verabreicht und ihm einen Beamer ausgehändigt, allein nur mit dem Hintergedanke, dass ich ihn dann ausschalte, weil du es ja gewusst hattest, das dies geschehen wird. Merkwürdig an der Geschichte ist nur, dass ich damals in der Suite 413 nirgendwo einen Beamer gefunden hatte. Ich durchsuchte die Leiche wirklich gründlich, sowie ich auch die Blutlachen entfernt und das Hotelzimmer aufgeräumt hatte. Vincenzo … Ich krabbelte damals sogar unter das Bett und hatte sogar da nachgeschaut. Nichts hatte ich gefunden, nicht einmal eine Wanze im Kronleuchter. Wo also ist das Ding dann geblieben?“, fragte er.
„Das genau ist das eigentliche Problem, Ike. Der Beamer MUSS sich im Hotelzimmer befinden … Irgendwo. Erinnere dich bitte, denn das ist für mich sehr wichtig. Meine Rechtsanwälte benötigen unbedingt die Koordinaten der Zeitschaltung des Beamers, damit mich die Staatsanwaltschaft freispricht. Jeder Zeitsprung wird in der Zeitschaltung gespeichert und ist nachvollziehbar, somit könnte ich beweisen, dass ich den TT direkt in seinen Tod geschickt habe und ihm nicht, wie man es mir vorwirft, zur Flucht verholfen hatte. Nur diese Koordinaten können meine Unschuld beweisen. Du weißt schließlich, dass ich damals vor knapp dreißig Jahren das Luftschiff Hindenburg gekapert und vor dem Absturz bewahrt hatte. Die Regierung wird mich diesmal aus allen Citys verbannen, wenn ich wiedermal in eine Zeitmanipulation verstrickt wäre.“ Vincenzo atmete schwermütig auf bevor er fortfuhr.
„Ike, bitte erinnere dich. Ich bin mittlerweile auch nicht mehr der Jüngste und würde in den Ruinen von Den Haag, umgeben von Mutanten und dem Abschaum unserer Zivilisation, die darauffolgende Nacht nicht überleben. Es war zwar erst vor drei Tagen geschehen, als du Murdoch gerettet und Eric erschossen hattest, aber in deiner Zeitrechnung ist es beinahe drei Jahre her. Konzentriere dich also und überlege, wo dieser verdammte Beamer liegen könnte, wo du eventuell nicht nachgeschaut hattest. Dieser Beamer wird zugleich deine einzige Chance sein, deine Ehefrau zu retten. Das muss dir doch klar sein! Wenn du diesen Beamer gefunden und mir die Daten der Zeitschaltung überliefert hast, soll das Ding dein sein. Dann kannst du damit machen was du willst. Ich werde dir dann Anweisungen erteilen, wie du den Beamer und deine ID manipulieren kannst, um unbemerkt durch die Zeitepochen zu reisen.“

Ike verharrte einen Augenblick und überlegte. Der begehrte Transmitter musste sich zwangsläufig noch im Hotelzimmer befinden, genauer gesagt würde dieser in einem halben Jahr dort irgendwo liegen. Es leuchtete ihm ein, dass er damals offensichtlich irgendetwas übersehen und nicht gründlich genug aufgeräumt hatte. Der TT war direkt in der Suite von William Murdoch erschienen, nirgendwo anders, demnach musste der TT unweigerlich im Besitz des Beamers gewesen sein.
„Ike, hör mir jetzt gut zu … Lass doch endlich diese verdammte Sauferei!“, sprach Vincenzo energisch in das Mikrofon, als er Ike dabei beobachtete, wie er sein Glas abermals einschenkte.
„Wenn du diesen Beamer gefunden und mir die gespeicherten Daten übermittelt hast, werde ich dir helfen und die nötige Software zukommen lassen, damit du deine ID deaktivieren kannst. Um Eloise zu retten, musst du unweigerlich zum 30. September zurück reisen aber das Archiv würde diesen Zeitsprung blockieren, weil du dir selbst begegnen würdest. Das ist eine Sicherheitsvorkehrung des Archives, die du nur mit meinem selbst entwickelten Programm aufheben könntest. Du musst dir das ungefähr so vorstellen, als wenn du ein und dieselbe Computerdatei in einen gleichen Ordner verschieben willst. Dann erscheint die Meldung: ID ersetzen oder löschen? Dann musst du unbedingt auf ersetzen klicken, bloß nicht auf löschen, sonst würdest du deine komplette Identität auslöschen und wirst ein Akteur sein, der nie wieder durch Raum und Zeit reisen könnte. Hast du deine ID ersetzt wird das Archiv der Annahme sein, du wärst nur ein Gegenstand und würde deine Zeitreise immerzu akzeptieren. Ein und derselbe Gegenstand erkennt das Archiv nur als einen Gegenstand, der zweimal vorhanden ist. Wie beispielsweise zwei EM23. Verstanden? Die ID niemals löschen sondern nur ersetzen!“
Ike hob sein Glas und lächelte.
„Na klar, Vince. So machen wir`s. Fragt sich nur, wie du mir diese Software zustecken willst. Per Post geht ja wohl nicht mehr und würde auch gar nichts bringen, schließlich wäre das ein digitaler Zahlencode. Wie also willst du mir diese Datei, oder Programm, oder wie auch immer du es nennst, zukommen lassen?“, grinste er.
Ike wirkte plötzlich aufgrund seines Alkoholkonsums verändert. Er schien Vincenzo gar nicht ernst zu nehmen und belächelte alles. Der Alkohol- oder gar Drogenmissbrauch waren typische Krankheiten der Schleuser, die jahrelang in einer Mission verharrten und Schicksalsschläge bewältigen mussten. Ike war der festen Meinung, dass Vincenzo nur die Reisedaten des Beamers benötigte, oder dass es diesen Transmitter gar nicht gibt und er nur in eine Falle gelockt werden würde. Vielleicht war das ein Deal zwischen Henry und Falkone; Vincenzo verrät Ike und erhält somit seine Freiheit.
„Es gibt noch eine Sache, die nicht eindeutig geklärt werden konnte. Dein implantierter Mikrochip ist entweder defekt oder das Archiv sendet ein Störsignal, wovon ich eigentlich eher ausgehe. Sei auf der Hut. Sobald die Sicherheitszentrale merkt, dass du bald nicht mehr zu orten bist, werden sie dich jagen und sofort rausholen!“
„Niemand fängt mich bevor Eloise wieder lebt“, antwortete Ike gelassen, wobei er sein Glas erneut in die Höhe hielt. „Also, schieß schon los und sag mir, wie wir das mit deiner tollen Software deichseln werden.“
Vincenzo blickte skeptisch auf seinen Monitor. War Ike überhaupt noch bei Sinnen? War er noch zurechnungsfähig?
„Deswegen habe ich mich bei dir gemeldet, denn ich habe einen Plan“, antwortete Vincenzo. „Wir benutzen für unsere Zwecke einfach die zeitreisenden Akademiker, die ihren Urlaub auf der Titanic gebucht haben. Ich werde die Software zu einer Datei komprimieren und mit einem Zahlencode verschlüsseln, sodass diese leicht mit einem Augenscanner einprogrammiert und wieder heruntergeladen werden kann. Selbstverständlich werde ich dafür sorgen, dass die Computer der TTA diesen Zahlencode nicht bemerken werden. Wir benötigen lediglich einen Freund, der diesen Zahlencode den Akademikern in ihre ID übermitteln wird. Vorzugsweise sollte dieser Freund ein Agent oder Schleuser sein, weil diese im Besitz eines Augenscanners sind. Aber Freunde in der Sicherheitszentrale gibt es nicht. Also wäre es besser, dass dieser Freund bei der MP tätig ist. So wäre es am Leichtesten und unauffällig obendrein.“

Ike erhabenes Grinsen entschwand. Seine Gedanken rumorten und einen Augenblick dachte er, Vincenzo wäre nicht ganz bei Trost. Die zeitreisenden Akademiker waren schließlich kurz nach ihm am Checkpoint durch das Zeitfenster in das Jahr 1912 gegangen und waren längst im Raum-Zeitkontinuum verschwunden. In diesem Augenblick, also genau jetzt, waren sie bereits auf der Titanic, längst fern von Queenstown und überquerten höchstwahrscheinlich schon den Nordatlantik. Wie also sollten die Akademiker diese geheimnisvolle Datei noch in Empfang nehmen können?
„Und wie willst du das deiner Meinung nach anstellen? Die Akademiker sind für dich und für mich mittlerweile unerreichbar. Außerdem weiß ich weder wie sie heißen, noch wie sie aussehen“, antwortete er patzig. „Ich dachte du wärst eine reale Chance, dabei schlägst du mir nur Unsinn vor! Du willst doch nur deine verfluchten Zeitreisedaten haben und ich kann dann zusehen, wie ich alleine fertig werde. Ohne deine Datei ist der Beamer für mich wertlos, selbst wenn ich das Ding finden würde. Du bist mir vielleicht eine Hilfe“, fügte er zynisch bei. „Dein Plan ist doch nur eine Täuschung und gar nicht umsetzbar!“
Vincenzo hielt einen Moment inne und beobachtete ihn im Monitor mit Skepsis, bevor er weitersprach.
„Ich sagte doch, dass du deinen Alkoholkonsum zügeln sollst, um einen klaren Kopf zu bewahren! Um die kompletten Möglichkeiten einer Zeitreise völlig ausschöpfen zu können, musst du in einem größeren Spektrum denken“, antwortete Vincenzo mit strenger Stimme. „In Zeitreisen ist alles möglich, wenn man den richtigen Zeitpunkt auch nutzt. Wir müssen nur jemanden in die Vergangenheit schicken, um die Akademiker abzufangen, bevor sie in der TTA einchecken werden. Mir scheint der geeignete Zeitpunkt zu sein, wenn sie frühmorgens am Bahnhofsterminal in Nieuw Bruxelles stehen und auf ihren ICE warten. Eine Polizeikontrolle könnte ihnen mithilfe eines Augenscanners diesen Zahlencode mühelos auf ihren ID-Chip einprogrammieren. Du musst dich also auf die Titanic begeben und die Zeitreisenden ausfindig machen. Mit deinem Augenscanner kannst du dann die komprimierte Software herunterladen, deine ID manipulieren und Eloise irgendwie retten. Das muss aber dann dein Plan werden. Sei jedoch auf der Hut! Die Mission Titanic ist bereits im Gange. Auf dem Schiff befinden sich zurzeit einige Agenten, die das Zeitgeschehen überwachen und praktisch nur eine Kontrollfahrt machen. Lass dich keinesfalls von ihnen erwischen, denn das ist deine einzige Chance. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht!“

Die Funkverbindung rauschte, weil der Satellit langsam hinter der Erdkrümmung verschwand. Ike sah seiner Rettungsaktion skeptisch entgegen, weil er keinen geeigneten Freund hatte, der seinetwegen diese Gesetzwidrigkeit auf sich nehmen und eine illegale Datei auf einem ID-Chip eines anderen Menschen installieren würde. Ike hatte ohnehin wenige Freunde, erst recht keine Freunde bei der MP.
 
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Kommentare  

Wieder ein großartiges Kapitel. Lebensecht obwohl es in ferner Zukunft spielt und auch die Vergangenheit meisterst du prima.

Evi Apfel (20.12.2025)

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