Kapitel 50 – Die Stunde der Wahrheit
September 1911
Kurz nachdem die Sonne aufgegangen war, packten Anne und Justin ihre Koffer und trugen alles hinaus zum Fuhrwagen. Eloise stand mitten in der Küchenstube und beobachtete schwermütig ihren Auszug. Sie war gar nicht fähig ihnen dabei zu helfen, weil sich diese Situation für sie völlig unwirklich und fremd anfühlte. Warum nur gehen sie fort, fragte sie sich. Ihrer Meinung nach handelte Anne völlig überstürzt, zumal das Haus doch ihr und ihrem Sohn zustand. Jetzt bereute Eloise es sogar, dass sie sich am gestrigen Abend etwas unwirsch verhalten hatte. Sie konnte es einfach nicht verstehen, weshalb Mutter und Sohn sich über Charles Tod so anteilslos verhielten, aber Ike hatte sie am Abend zuvor wiedermal mit einer weiteren Lüge aufgeklärt. Er hatte ihr weisgemacht, dass Anne und Justin sehr wohl trauern würden, sich aber ohne Charles im Haus nicht mehr wohlfühlen, weil alles an ihn erinnern würde.
Das Rehkitz tapste aus der Wohnstube heraus, woraufhin Eloise es sogleich mit einem Napf Milch und etwas Salat anlockte. Dieses zarte Wildtier sowie auch Laika waren scheinbar noch die Einzigen im Haus, die ihre Zuneigung erwiderten, dachte sie, was sie traurig stimmte.
Ike hatte Eloise sowie allen Werftarbeiter von Harland & Wolff vorgegaukelt, dass er Charles Leichnam bereits schon am Samstag mit der Eisenbahn nach Dublin zu seinen Angehörigen im Sarg verfrachtet hätte, weil die Beerdigung nur im engsten Kreise der Verwandtschaft stattfinden sollte. Nicht einmal seine Ehefrau und sogar sein eigener Sohn wären aufgrund familiärer Unstimmigkeiten bei der Beerdigung erwünscht, hatte er glaubwürdig behauptet.
In Wirklichkeit jedoch wurde der Leichnam von Schleuser Simon Barnes einfach in das Müllkraftwerk des Centrums teleportiert, dorthin sogar jedes ausversehen getötete Wildschwein per Zeitfenster entsorgt wurde. Ike, der mittlerweile schon seit fast drei Jahren unter gottesfürchtigen Menschen lebte meinte zu Simon, selbst wenn Charles ein Verbrecher war, müsste man ihn wenigstens angemessen bestatten. Aber Schleuser Barnes hatte daraufhin wiedermal nur wie Carl Clarke fies gegrinst und gemeint, dass die Verbrennung seiner Leiche im Müllkraftwerk eher Sinn ergeben würde, weil sie die Energie von mindestens 10 Stunden einer Akku-Batterie produzieren würde. Daraufhin hatte Ike seine Hand auf den Mund gelegt und nachdenklich genickt.
Ike konnte an diesem Morgen mal ausschlafen, denn seine Arbeitsschicht würde erst gegen Mittag beginnen. Er stieg von der obersten Etage gemächlich die Treppenstufen hinunter, wobei er einen nachdenklichen Eindruck machte. Er hatte seine Nickelbrille aufgesetzt und überblickte gerade die gespeicherten Daten, die er aus Simon Barnes Laptop heimlich kopiert hatte. Das waren streng vertrauliche Informationen des UE-Geheimdienstes. Jetzt war er im Besitz sämtlicher Passwörter, selbst diese von Henry waren aufgelistet. Er konnte in die Akten sämtlicher aktuellen und vergangenen Missionen einsehen und hatte obendrein eine komplette Gebrauchsanweisung für einen Beamer heruntergeladen. Außerdem war er überrascht, wie viele Geheimakten über die Mount-Sekte aufgelistet waren. Darin war ihre Technik ausführlich beschrieben, wie die Mounts selbst die abgesicherten Softwares der UE-Mikrochips hacken.
Er grübelte. Vielleicht könnte es ihm mit diesen Informationen gelingen, den Funkpeilsender in seinem ID- sowie Zeitreise-Chip zu deaktivieren, genauso wie es Vincenzo einst bei der Hindenburg Affäre getan hatte. Das wäre die einzige Chance nach Missionsende seinem Exit zu entgehen und mit Eloise gemeinsam das Leben im 20. Jahrhundert zu verbringen. Dann würde es ihm gelingen, insofern er im Besitz eines Beamers wäre, unbemerkt durch die Zeitepochen zu reisen, sodass die Sicherheitszentrale im Centrum seine Aktivitäten niemals nachverfolgen könnten. Es wäre für den Geheimdienst dann sogar fast unmöglich, Ike aufzuspüren, festzunehmen und ihn wieder zurück nach United Europe zu bringen. Ihm war aber bewusst, sollte er diesen Schritt wagen, würden die Agenten aus der Zukunft ihn und Eloise in jeder Zeitepoche jagen und beide auf jeden Kontinent der Welt hartnäckig suchen. Beide müssten lebenslang ständig auf der Hut sein und aufpassen, dass sie nicht ausversehen etwas geschichtliches verändern, denn das würde die Sicherheitszentrale sofort bemerken, woraufhin ganz plötzlich in einem unbedachten Moment Agenten hinter ihnen stehen würden. Würde das Eloise, die von seinen Plänen noch gar nichts ahnte, überhaupt mitmachen? Ike war davon jedenfalls überzeugt.
Die Belfast Mission stand kurz davor erfolgreich abgeschlossen zu werden, sobald die anderen drei Handlanger entweder verhaftet oder eliminiert wären. Dann würde die Sicherheitszentrale Schleuser van Broek in das 25. Jahrhundert zurückbeordern und er müsste Eloise verlassen. Da nun aber Simon Barnes bereits durch ein Zeitfenster die Mission verlassen hatte, sodass es für die Akteuren den Anschein machte, er sei heldenhaft gestorben, war die Sicherheitszentrale nun gezwungen für Ike ein anderes markantes Ereignis auszusuchen, wobei er ebenfalls für die Akteure sterben würde. Dies würde Ike etwas Zeit verschaffen, um einen Beamer aufzutreiben und diesen zu modifizieren, jedoch wäre er jetzt gezwungen Eloise endgültig über seine wahre Identität aufzuklären. Die Stunde der Wahrheit war nun gekommen.
„Anne, ich verstehe das alles nicht. Ihr müsst doch nicht gleich ausziehen, weil dein Ehemann gestorben ist“, sagte Eloise bedrückt. „Es ist doch euer Haus, euer Zuhause. Warum bleiben wir nicht alle zusammen, so wie es immer war? Ich bitte dich so sehr, dass du über deinen Entschluss nochmal nachdenkst und jetzt nicht gleich ausziehst.“
Eloise standen mittlerweile Tränen in den Augen und ihre Stimme fing zu zittern an. Anne stellte ihre Koffer ab, blickte sie liebevoll an und umarmte sie.
„Ach, Eloise … Schatz. Es ist und war nie unser Haus gewesen. Du und Ike, ihr beide habt es mit euren Händen erschaffen. Charles hätte die Vereinbarung niemals einhalten können, Ike eines Tages auszuzahlen. Das ist die Wahrheit“, antwortete Anne, wobei sie über ihre Wange streichelte. Eloise löste sich ruppig aus ihrer Umarmung.
„O ja, die Wahrheit“, entgegnete sie plötzlich patzig. „Ich wünschte, dass ich die Wahrheit endlich mal erfahren würde! Ihr verheimlicht mir doch irgendetwas. Jawohl, so ist es!“, schimpfte sie sogleich, sodass Laika sogar ihren Schwanz anlegte und reumütig davon trottete, weil der Schäferhund sich angesprochen fühlte. Das Rehkitz hingegen zuckte bloß mit dem Lauscher und schlabberte unbekümmert seine Milch weiter.
Eloise blickte Ike wütend an und sprach zornig: „Ihr haltet mich doch alle bloß zum Narren! Ich will jetzt verflixt nochmal wissen, was hier los ist!“
Einen Augenblick herrschte absolute Stille in der Wohnküche. Ike nahm seine Nickelbrille ab und schaute sie außergewöhnlich ernst an, so wie schon lange nicht mehr.
„Also gut, Liebes. Du willst endlich die Wahrheit erfahren? Verständlich. Und ich will dich jetzt endlich nicht mehr weiter anlügen müssen. Setz dich bitte.“
Anne ließ ihre Koffer abrupt fallen, weitete entsetzt ihre Augen und presste ihren Zeigefinger auf den Mund. Aber Ike versicherte mit einer Handbewegung, dass alles in Ordnung wäre, weil er soeben alle Mikrokameras deaktiviert hätte. Dies war eine legale Vorgehensweise, er durfte nur nicht in seinem Protokoll vergessen zu erwähnen, dass es sich bei diesem Zeitpunkt um eine private Diskussion gehandelt hatte.
Eloise durchfuhr ein kurzer Schreck, sodass sie sogleich ihren Groll vergaß. Sie gehorchte und setzte sich sofort an den Tisch. Die Art und Weise, wie alle Drei sie anblickten, beängstigte sie etwas. Eloise ahnte schließlich schon seitdem sie damals die Geheimfächer im Badezimmer entdeckt hatte, dass Ike etwas verbarg und die Wahrheit konnte demnach nur etwas unangenehmes sein. Trotz dass Ike sie befremdlich anschaute, als würde er gleich den Weltuntergang verkünden, überspielte sie ihren Kummer. Sie knabberte an einem Keks und lächelte ihm vergnügt ins Gesicht.
„Nun schieß schon los. Schüttle dein Herz einfach aus, ich werde dich schon nicht fressen.“ Dann sanken ihre lächelnden Mundwinkel, sie kaute langsamer und sah ihn mit gekniffenen Augen ebenso ernst an. „Es sei denn du wirst mir jetzt beichten, dass du eine andere Frau kennengelernt hast. Dann wirst du mich aber mal richtig kennenlernen, Freundchen!“
Ein Ansatz eines Lächelns verzierte seinen Mund. So wie Eloise dasaß und ihn eifersüchtig anblickte; am liebsten hätte er sie jetzt in seine Arme geschlossen und sie liebevoll geküsst.
„Nein Liebes, keine Sorge. Ich habe dich geheiratet und wir bleiben zusammen, bis dass der Tod uns scheidet“, sagte Ike und hielt ihr kurz seine Hand entgegen, wo sein Trauring am Finger steckte. Einen Moment starrte Ike sie nur an, dann blickte er kurz zum Boden und seufzte ausgiebig, bevor er sie erneut dringlich anblickte.
„Die Wahrheit ist … Ich bin gar kein Vorarbeiter von Harland & Wolff sondern ein Geheimagent.“
Eloise hörte ihm gespannt zu, steckte sich einen weiteren Keks in den Mund und kaute dabei hastig. „Ein was bist du?“
Ike räusperte sich bevor er fortfuhr.
„Ein Geheimagent ist so was ähnliches wie ein Polizist, Liebes, der für einen Staat im Geheimen agiert, weil niemand davon wissen darf. Deswegen habe ich mich gegenüber dir manchmal so seltsam benommen, was mir aufrichtig leid tut.“
Eloise blickte ihn stirnrunzelnd an. „Aha. Du bist also eigentlich ein Polizist. Soso“, antwortete sie wobei Ike merkte, dass es sehr schwierig wird, sie von der Wahrheit zu überzeugen.
„Zudem bin ich ein Zeitreisender und meine Heimat ist das Jahre 2473. Dort nennt man unseren Staat United Europe. Es gibt da ein Unternehmen, eine Art Reisebüro, das wesentlich größer als das Firmengelände von Harland & Wolff ist und Zeitreisen verkauft. In der Zukunft wird es üblich sein, dass man seinen Urlaub hier in der vergangenen Welt verbringt.“
Eloises starrte vor sich hin und kaute gemächlicher, während Ike und Anne sie behutsam aufklärten. Manchmal schaute sie zu Justin rüber woraufhin er nur nickte.
„Das ist echt wirklich voll die Wahrheit, Eloise. Ich schwöre es dir!“, beteuerte der Junge.
All die Sachen hinter den Kacheln im Badezimmer, die Medizin sowie die Waffe, selbst die wassergefüllte Matratze in ihrem Schlafzimmer und auch der Tiefkühlschrank im Keller wären Gegenstände, die erst in ferner Zukunft erfunden werden und eigentlich noch gar nicht existieren dürften, erklärte Ike. Er demonstrierte ihr zudem, dass der Herd anstatt mit Gas, mit elektrisch betrieben Akkus funktionierte und aktivierte sogleich vor ihren Augen seine Taschenuhr, seinen Dienstausweis, indem er dreimal auf das Uhrenglas drückte. Als das Hologramm Passbild seines Gesichtes projiziert wurde, samt seinen persönlichen Daten – sein Geburtsdatum sowie sein Geburtsort erschienen direkt unter seinem projizierten Antlitz: 6 May 2449, Staatscity Centrum –, staunte sie zwar kurz, aber blickte dennoch skeptisch drein. Was hat er denn jetzt schon wieder für einen komischen Kram von der Firma mitgebracht, fuhr es sofort durch ihre Gedanken. Wozu soll das gut sein?
„Schau dir mein Geburtsdatum an und nun rechne einmal nach. Ich bin gar nicht 33 Jahre alt, sondern grad mal fünf Jahre älter als du, also erst 27. Als wir uns im Frühjahr 1909 kennenlernten, war ich demnach 24 Jahre alt. Mich etwas älter darzustellen war notwendig, damit man mich bei Harland & Wolff als einen Vorarbeiter einstellt. Und überhaupt … Zwischen meinem Geburtsjahr und unserer Gegenwart hier und jetzt liegen exakt 538 Jahre. Du siehst, ich komme aus der fernen Zukunft, Liebes. Ich bin ein Zeitreisender.“
Ike forderte sie schließlich auf, seine Nickelbrille aufzusetzen. Eloise sah hindurch und staunte zwar erneut, als sie die vielen, bunten Miniatur-Apps und aufgeschlagenen Geheimakten erblickte, und trotzdem klar und deutlich die Umgebung sehen konnte, war aber von der Technik der Lesebrille nichtsdestotrotz unbeeindruckt geblieben. Schließlich war sie mittlerweile einiges gewöhnt, weil Ike ihr schon öfters außergewöhnliche Gegenstände präsentierte wobei er stets beteuert hatte, dass das alles Erfindungen sind, welche auf der Schiffswerft Harland & Wolff entwickelt werden.
Eloise legte die Nickelbrille ab, verschränkte ihre Arme und blickte Anne in die Augen.
„Und ihr seid selbstverständlich auch Zeitreisende aus dem Jahr … ähm“ – sie überlegte kurz – „Zweitausendvierhundertachtundnochwas, richtig?“, fragte sie mit einem zynischen Unterton.
„Zweitausendvierhundertdreiundsiebzig“, verbesserte Anne nickend, woraufhin Eloise nur ärgerlich abwinkte. Sie blickte Ike grantig an.
„Pah … Vereinigtes Europa und ihr Holländer regiert es? Ja, natürlich, wer auch sonst? Ich könnte mich totlachen. England ist die Weltmacht, das weiß doch jedes Kind! So war es schon immer gewesen und so wird es auch immer bleiben! Scheinbar habe ich euch ein paar Kapitel zu viel von H. G. Wells vorgelesen: Die Zeitmaschine. Zeitreisen, das ist ja urkomisch. Leben bei euch in der Kanalisation etwa auch die menschenfressenden Morlocks?“, spottete sie. „Ihr wollt mich doch nur auf den Arm nehmen. So etwas gibt es nämlich gar nicht, das ist doch bloß reine Fantasie eines Schriftstellers. Das ist Science Fiktion hat mir Mister Goldsmith erklärt und Science Fiktion ist nur Utopie, was es nie geben wird! Aber der Gipfel eurer schamlosen Unverfrorenheit ist, dass ihr in der Tat behauptet, Charles wäre ein fremder Mann gewesen und hatte obendrein versucht, Ike, seinen eigenen Neffen, umzubringen. Ich gebe es ja zu, dass Charles und ich nie die besten Freunde waren, aber ihn jetzt dermaßen schlecht darzustellen und ihn obendrein zu verleugnen ist eine Schande! Möge der HERR euch dies verzeihen!“
Ike stützte die Hände auf den Tisch ab und senkte seinen Kopf. Es schien hoffnungslos zu sein. Wie es zu erwarten war, glaubte Eloise die Wahrheit nicht. Sie machte einen äußerst verärgerten Eindruck und drohte sogar damit, ihre Koffer ebenfalls zu packen und zu ihren Eltern zu gehen. Als Eloise mit erhobenem Haupt an Ike vorbei marschieren wollte, packte er nach ihren Arm.
„Aber Liebes, ich schwöre dir, das ist die reine Wahrheit! Du musst mir jetzt genauso vertrauen, wie du es immer getan hast. Ich weiß, es hört sich alles unrealistisch an und es ist gewiss nicht einfach für dich, dies alles zu glauben. Aber diesmal ist es äußerst wichtig, dass du mir blind vertraust. Irgendwo in der Stadt lauern Leute auf mich, die mich beseitigen wollen und falls sie erfahren sollten, dass du meine Frau bist, wovon ich mittlerweile ausgehe, dann bist auch du in Gefahr. Sie würden dich entführen und dich als Druckmittel gegen mich einsetzen, daher bitte ich dich, dass du dieses Haus nicht mehr verlässt! Nur hier bist du sicher. Henry kann dich in meiner Abwesenheit ständig durch einen Monitor beobachten und falls diese Kerle hier erscheinen, würde er auf der Stelle eine SEK-Einheit hierher beordern.“
Eloise überblickte kurz die Decke und suchte nach diesen merkwürdigen Dingern, die sie angeblich täglich beobachten würden. Es war aber nichts zu sehen, nicht einmal Spinnenweben. Eloise schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
„Dann sag mir, mein lieber Ehemann, wenn du tatsächlich aus der Zukunft kommst, weshalb du hier bist. Wohl sicher nicht, weil du mich auch auf so ein … (Sie ruderte mit ihren Händen, weil sie die Bezeichnung Monitor vergessen hatte) komisches Dingsbums gesehen und dich unsterblich in mich verliebt hast. Warum hast du mich überhaupt geheiratet, wenn du ja letztendlich wieder zurückgehen musst?“, fragte sie bissig.
„Das ist etwas kompliziert es zu erklären, aber sei dir gewiss, dass meine Liebe zu dir immer aufrichtig war und so wird es auch bleiben. Gehe bitte nicht, Liebes. Bleibe bei mir!“
Im Grunde wollte Eloise ihren Ehemann gar nicht verlassen, sondern ihm trotz alledem glauben und auch weiterhin vertrauen. Sie war zwiegespalten. Sie wollte ihm unbedingt glauben aber konnte es beim besten Willen nicht. Seine Worte klangen einfach viel zu irreal.
Ike offenbarte ihr sogar das Geheimnis des Badezimmers, welches er stets gehütet hatte und zeigte und erklärte ihr sogar die Mikrokamera hinter dem Spiegel. Selbst der Spiegel war eigentlich ein Computer. Aber diese Mikrokamera ähnelte lediglich einem Stecknadelkopf und Ike erntete von seiner Ehefrau nur belustigtes Prusten, plus einen energisch gezeigten Stirnvogel. „Du spinnst ja total“, entgegnete sie ihm.
Eloise sah sich kurz um. Das hier war ihr Zuhause und sie liebte Ike, wie keinen Menschen zuvor. Sie hatte Angst, das alles hinter sich lassen zu müssen, vor allem wollte sie Ike um keinen Preis der Welt verlieren. Schon allein bei diesen Gedanken war sie eigentlich bereit alles zu glauben, was er ihr erzählte. Sie war völlig durcheinander und hatte Angst, dass ihre Ehe jetzt zerbrechen könnte.
Eloise schloss ihre Augen und redete sich ein, dass sie ihm nun blindlings vertrauen müsste. Sie umklammerte Ike, schluchzte dabei bitterlich und fragte immer wieder, wenn es wahr ist, weshalb er aus dem 25. Jahrhundert gekommen war. Er streichelte über ihren Kopf, über ihren geflochtenen, kupferfarbenen Zopf und drückte sie zärtlich an sich heran, während er behutsam seine Mission erläuterte.
„Ich bin wegen der Titanic hier, Liebes. Meine Aufgabe besteht darin, diese winzigen Dinger, wofür du mich eben ausgelacht hast, in jede Kabine des Schiffes zu montieren. Überdies muss ich den Bau der Titanic überwachen, damit das Schiff nicht manipuliert wird.“
Ike seufzte bevor er fortfuhr. Er war nun bereit dazu, einer Akteurin etwas über die Zukunft zu verraten, obwohl dies absolut untersagt war und mit der Höchststrafe geahndet wird.
„Die Sache ist nämlich die … Die Titanic wird am 14. April 1912, um 23.40 Uhr, also ungefähr in sechs Monaten, während ihrer Jungfernfahrt nach Amerika mit einem Eisberg kollidieren und in die Abgrundtiefe des Nordatlantiks versinken. Das wird die bekannteste Schiffskatastrophe aller Zeiten werden, wobei mehr als 1.500 Menschen ihr Leben verlieren. Diese Tragödie wird eine ungeahnte Bedeutsamkeit erlangen, welches hauptsächlich das 20. und 21. Jahrhundert in vieler Hinsicht prägen wird. Insbesondere wird die Sicherheit der Schiffsfahrten daraufhin verschärft, die bislang noch in den Kinderschuhen steckt. Die Titanic Katastrophe wird ein Schlüsselerlebnis sein, welches die Menschheit wachrütteln und ihr bisheriges, unerschüttertes Vertrauen in die Technik zu Recht in Frage stellen wird.“
Ike atmete einmal tief durch. Er fühlte sich immer erleichterter, weil er Eloise endlich die Wahrheit sagte und diesmal nicht log.
„Aber Leute aus der Zukunft, also aus meiner Welt, versuchen dieses Unglück zu verhindern, womit sie die Weltgeschichte und die Zukunft verändern würden. Sie sind demnach Schwerverbrecher. Kannst du mir soweit folgen?“, hakte er nach.
Eloise zuckte nur mit der Schulter und wusste eigentlich nicht, ob sie nun nicken oder mit dem Kopf schütteln sollte.
Ike blies kurz die Backen auf, bevor er einfach fortfuhr.
„Also meine Aufgabe ist es jedenfalls, diese Verbrecher aufzuspüren und sie aufzuhalten, damit sich diese Katastrophe ereignet, so wie es in den Geschichtsbüchern geschrieben steht. Verstehst du das? Dieses Unglück muss leider unbedingt geschehen!“
Eloise löste sich aus seiner Umarmung, blickte ihn ungläubig an und zweifelte erneut.
„Ja aber … aber die Titanic kann doch gar nicht untergehen, wegen den wasserdichten Schotten. Das habe ich in der Zeitung gelesen und außerdem ist das Schiff meiner Meinung nach sowieso viel zu groß, als dass es im Meer versinken könnte. Die Titanic wird sich immer über Wasser halten können, das sagen doch alle. Selbst Mister Andrews persönlich hatte mir letztens versichert, dass die Titanic unsinkbar sei und er wird es ja wohl am besten wissen.“
„Das ist ein Irrtum, Liebes, und das weiß Mister Andrews auch ganz genau! Solchen Unsinn muss er den Leuten weißmachen, weil es längst publik geworden ist. Das ist Geschäftspolitik!“, antwortete Ike barsch, um sie endlich zu überzeugen. „Begreife doch, setze deinen Verstand ein! Dieses Schiff besteht aus Stahl und Eisen und wiegt über 50.000 Tonnen! Selbstverständlich kann es sinken. Und das wird auch geschehen!“
Eloise verschränkte ihre Arme, kniff ihre Augen und antwortete trotzig: „Mister Andrews irrt sich niemals, denn er ist viel klüger als du! So, das wollte ich dir schon immer mal sagen! Und außerdem glaube ich nicht, dass Mister Andrews mich angeschwindelt hat. Der ist nämlich bestimmt nicht so wie du!“
Jetzt war Ike beleidigt und verschränkte ebenfalls seine Arme.
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie die Geschäftswelt funktioniert. Alle hohe Tiere lügen und betrügen, so verdienen die Reichen ihr Geld!“, antwortete er patzig. Aber um keinen unsinnigen Streit zu entfachen, besann sich Ike sogleich und lenkte behutsam ein.
„Entschuldige, Liebes. Ich versuch dir nur zu erklären, weshalb ich überhaupt hier in deine Welt aufgetaucht bin. Ich weiß, dass es für dich schwer sein muss, das alles zu begreifen. Ich mache dir deswegen keinen Vorwurf.“
Eloise hielt einen Moment inne und dachte nach. Ihr Ehemann glaubt also, dass sie ihm gedanklich nicht folgen könnte? Innerlich gab sie es zwar zu, dass es irgendwie so ist, aber sie wollte keinesfalls dass er glaubt, sie sei dumm. Sie hielt ihren Zeigefinger in die Höhe und machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Ah ja, jetzt verstehe ich alles. Du bist also aus der Zukunft gekommen, um die Titanic vor dem Untergang zu bewahren. Und was wirst du danach machen? Wirst du mich dann wirklich verlassen müssen, so wie es Anne mir erklärt hat?“, fragte sie besorgt.
Ike schlug verzweifelt die Hände über seinen Kopf und wanderte in der Küchenstube umher.
„Nein, nein, nein, Liebes … Nein! Du missverstehst da etwas. Ich beabsichtige NICHT die Titanic vor dem Untergang zu bewahren, sondern das Gegenteil soll geschehen!“, redete Ike auf sie ein. Wie sollte er ihr das alles nur verständlich machen, fragte er sich.
„Lass es mich nochmal erklären: Die Titanic MUSS mit einen Eisberg kollidieren und MUSS untergehen, weil es in den zukünftigen Geschichtsbüchern so geschrieben stehen wird!“ Er seufzte einmal ausgiebig. „Liebes, denke einfach nicht mehr drüber nach, sondern vertraue mir einfach. Ich habe dir dieses Geheimnis erzählt, weil ich nicht mehr in die Zukunft zurückgehe, sondern mit dir gemeinsam hier im 20. Jahrhundert alt werden will.“
Nun war Eloise endgültig konfus und zog ihre Augenbraue zusammen.
„Wieso … Ja, aber wieso willst du, dass die Titanic untergeht? Das ist jetzt aber wirklich ganz schön verflixt. Jetzt kapiere ich nämlich gar nix mehr. Wir werden doch mitfahren. Mister Andrews hatte uns als Hochzeitsgeschenk die Tickets geschenkt. Ich hab sogar schon ein paar Sachen gepackt und freue mich riesig auf die Fahrt nach Amerika. Wenn du es wünscht und es angeblich auch zu wissen meinst, dass das Schiff untergehen wird, weshalb gehen wir dann an Bord? Das macht doch absolut keinen Sinn“, sagte Eloise, wobei sie sich die Hände gegen ihre Stirn presste, verwirrt in der Küchenstube rumlief und dabei grübelte.
Ike hatte sie bislang so oft angelogen und sie hatte ihm immer wieder erneut verziehen und vertraut. Aber jetzt wollte sie einen eindeutigen Beweis haben, dass er diesmal tatsächlich die Wahrheit gesagt hat. Diesen Beweis sollte er ihr jetzt irgendwie vorlegen. Und zwar jetzt und sofort. Andernfalls blieb ihr keine andere Wahl, als dass sie Ike verlassen und wieder zu ihren Eltern ziehen müsste. Mit einem Lügner wollte sie keinesfalls ihr Leben teilen. Denn Lügen ziehen das Unheil nur an, so besagt es die Bibel.
„Ach du Schreck!“, rief Anne plötzlich aufgelöst, als sie aus dem Fenster sah, wobei sie sich die Hand vor dem Mund hielt. „Soeben parkt ein Automobil auf unserem Grundstück. Die sehen wie Agenten aus! Die haben scheinbar doch alles mitgehört.“
Anne beobachtete hinter den Gardinen wie drei Männer, bekleidet mit Mänteln und Hüten, aus einem schwarzen Automobil, dessen Verdeck geschlossen war, ausstiegen und gemächlich zur Haustür liefen.
„Ike, was machen wir denn jetzt?“, fragte sie ängstlich. „Vielleicht sind es sogar Charles Komplizen. Du musst sofort die Mikrokameras wieder aktivieren, damit die Sicherheitszentrale erfährt, dass wir unerwarteten Besuch bekommen.“
Ike aber schüttelte mit dem Kopf, setzte seine Nickelbrille auf und inspizierte die Fremden durch die Hauswand im Röntgenmodus. Sie waren unbewaffnet und nicht einmal mit magnetischen, kugelsicheren Schutzwesten ausgestattet, weshalb er erst mal davon ausging, dass diese Herrschaften nur Akteure sind.
„Anne, jetzt bloß keine Panik. Das sind keine UE-Agenten und die Komplizen von Charles; das kann ich mir nicht vorstellen, denn die wissen ganz genau, dass dieses Haus von der Sicherheitszentrale überwacht wird. Ich regle das schon irgendwie.“
Mit diesen Worten versuchte er die angespannte Situation zu beruhigen, obwohl ihm selbst etwas mulmig zumute war. Als es an der Haustüre klopfte, öffnete er. Die drei Herren griffen zur Begrüßung gleichzeitig an ihren Hüten. Der Älteste von ihnen – ungefähr war dieser stattliche, beleibte Mann um die Fünfzig –, trat hervor, lächelte und kramte in seiner Mantelinnentasche herum. Dann hielt er Ike einen ledernen Ausweis vor die Nase, daran ein silbernes, sternartiges Emblem haftete, mit der Aufschrift: Police London.
„Entschuldigen Sie, Sir. New Scotland Yard. Mein Name ist Detective Sergeant Miller. Wir würden gerne mit Misses Anne Owen sprechen. Ist Misses Owen Zuhause? Es handelt bezüglich ihres verstorbenen Ehemannes.“
„Scotland Yard?“, fragte Ike stutzig. „Verstehe ich nicht. Die Belfaster Polizei hat diesen Fall bereits zu den Akten gelegt. Police Inspector Gardner persönlich schrieb einen Bericht, dass ein tragischer Arbeitsunfall Mister Charles Owens Tod verursacht hatte.“
„Sie müssen Mister van Broek sein, Mister Charles Owens Neffe, richtig?“, antwortete der Herr freundlich. „Unser Beileid. Wir bedauern es sehr, Sie, Misses Owen und ihren Sohn in diesen schweren Stunden belästigen zu müssen. Die Todesursache Ihres verstorbenen Onkels ist zwar eindeutig geklärt, Mister van Broek, deswegen sind wir nicht hier. Jedoch gibt es eine Ungereimtheit bezüglich der Lebensversicherung, die Mister Owen im März dieses Jahres abgeschlossen hatte.“
Ike blickte die Herrschaften verdutzt an.
„Weshalb interessiert sich das Scotland Yard dafür?“, fragte er verwundert. „Wir sind hier in Irland, nicht in England. Mein Onkel und ich hatten jeweils eine Lebensversicherung im Hauptquartier von Harland & Wolff abgeschlossen. Das ist richtig.“
„Das mag ja sein, Mister van Broek, aber die Versicherungsagentur gehört unter anderem der White Star Line, dessen Hauptsitz nun mal in Liverpool ist, wie Sie wissen. Und diese hatte uns beauftragt. Ich bitte Sie, lassen Sie uns diese Angelegenheit nicht zwischen Tür und Angel bereden“, sagte der Detective. „Es besteht eine vertragliche Ungereimtheit bezüglich der Auszahlung der Lebensversicherung. Ich rate Ihnen, diese Angelegenheit hier vor Ort zu klären, andernfalls wird Misses Owen kein Pence zustehen“, fügte er nachdringlich hinzu.
Ike bat die Herren also herein, wobei er sein Misstrauen zu verbergen versuchte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie der Verdacht auf einen angeblichen Versicherungsbetrug zustande gekommen sein sollte – was offensichtlich die Anklage war –, vielmehr sorgte er sich, ob diese Leute tatsächlich vom Scotland Yard waren oder vielleicht doch die Komplizen von Charles sind. Er hegte diesen Verdacht, weil sie ausgerechnet zu dritt erschienen und sie nicht einmal mit einem Revolver bewaffnet waren. Schließlich waren sie Gesetzeshüter, die normalerweise Schusswaffen bei sich trugen. Nachdem die Männer sich am Küchentisch gesetzt hatten, blickte Eloise ihren Ehemann verwundert an.
„Was? Du und Charles hattet eine Lebensversicherung abgeschlossen? Ja aber, aber wieso das denn? Ich habe davon neulich was in der Zeitung gelesen, dass es so was gibt, aber ...“
„Du bist meine Ehefrau, Liebes. Ich arbeite auf einer Schiffswerft und dort ist es immerzu lebensgefährlich. Falls mir also etwas zustoßen sollte, wirst du finanziell abgesichert sein. Deshalb.“
Eloise reagierte sofort aufgebracht.
„Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich nur einen einzigen Penny davon annehmen würde, falls du stirbst! Niemals würde ich mich an deinen Tod bereichern wollen. Das wäre ja das Allerletzte!“, empörte sie sich, woraufhin Ike nur seine Augen verdrehte und sie freundlichst bat, Tee für die Gäste aufzubrühen.
Während Eloise seiner Aufforderung griesgrämig folgte, die Porzellantassen hektisch aus dem Küchenschrank holte und Wasser aufkochte, spitzte sie die Ohren und hörte genau mit.
Detective Sergeant Millers Kollege, Detective Hunter, öffnete einen Aktenkoffer und legte die Versicherungspolice von Charles Owen auf den Tisch. Er erläuterte, dass der Vertragsinhalt zwar korrekt wäre, jedoch bestand eine Ungereimtheit bei der Unterschrift. Anne warf einen kurzen Blick darauf und beteuerte jedoch, dass es die originale Handschrift ihres Ehemanns wäre.
„Das mag ja sein, Misses Owen“, antwortete Detective Sergeant Miller, „aber sehen Sie sich doch bitte mal diese eigenartige Zahl an, die Ihr verstorbener Ehegatte als Datum angegeben hatte.“
Er tippte mit dem Zeigefinger neben Charles Unterschrift: Belfast, 1. März 2473 stand dort geschrieben. Detective Sergeant Miller lächelte, sodass seine goldene Backenzähne hervorblitzten.
„Was hat das zu bedeuten … Zwei, Vier, Sieben, Drei? Doch sicher nicht das Jahr 2473?“, antwortete er fragend, woraufhin seine Kollegen schmunzelten.
Eloise brühte gerade den Tee auf und als sie diese Zahlen hörte, weitete sie ihre grünen Augen und verharrte. Hatte Ike also diesmal tatsächlich die Wahrheit gesagt? Ist er wirklich ein Zeitreisender aus dem Jahr 2473? Stimmt es also etwa doch, was auch Anne und Justin behauptet hatten? Und dass Charles ihn umbringen wollte, stimmt also dann auch? Sie senkte kurz ihren Kopf und überlegte. Das ist eindeutig der Beweis, dass Ike diesmal aufrichtig zu mir war, dachte sie. Dann servierte sie strahlendlächelnd den Tee.
„Meine Herren, Ihr Tee ist fertig. Leider aber ohne Zitrone“, sagte sie freundlich.
Ike blinzelte verlegen und lächelte dabei, als er die Versicherungspolice in seinen Händen hielt. Na, Prima. Dieser Vollidiot hatte doch tatsächlich gewohnheitsbedingt das falsche Jahrhundert angegeben. Verdomme, ich hätte auf diesen Knallkopf besser aufpassen müssen, fuhr es durch seine Gedanken.
Er nahm die Vertragsunterlagen, schleuderte sie auf den Tisch, verzog seinen Mund, zuckte mit der Schulter und seufzte.
„Tja, keine Ahnung, meine Herren, was Zwei, Vier, Sieben, Drei bedeuten. Vielleicht war mein Onkel in Gedanken versunken gewesen und hatte irrtümlich seine Dienstnummer von Harland & Wolff angegeben, oder so. Was weiß ich.“
„O nein, nein, nein“, entgegnete ihm der Kollege Detective Hunter hektisch. „Das haben wir bereits kontrolliert, als wir seine Akten im Hauptquartier eingesehen hatten. Diese ist ohnehin eine achtstellige Zahl und ...“
„Dann war es vermutlich die Zahlenkombination des Schlosses seines Spindes. Ich werde es nachher für Sie herausfinden. Sparen Sie sich die Mühe, Sie müssen deswegen nicht schon wieder extra zur Schiffswerft fahren. Ich erledige das für Sie, Detective. Meine Schicht beginnt sowieso bald, daher muss ich Sie jetzt auch leider bitten, zu gehen“, fiel Ike ihm ins Wort und versuchte somit diesen unangenehmen Besuch wieder loszuwerden.
Detective Sergeant Miller allerdings starrte ihn wortlos an, um ihm verständlich zu machen, dass er mit seinem Verhör noch nicht fertig war.
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Mister van Broek. Aber hierbei handelt es sich immerhin um eine beachtliche Vertragssumme. White Star Line weigert sich verständlicherweise, einen Betrag von 220.000 Pfund auszuzahlen, falls diese Angelegenheit nicht eindeutig aufgeklärt werden kann.“
„220.000 englische Pfund???“, entwich es Anne perplex, wobei ihr Mund einen Moment geöffnet blieb. Schließlich war auch ihr mittlerweile bewusst geworden, dass dies in ihrer jetzigen Gegenwart ein wirkliches Vermögen war. Sie wäre dann eine reiche Frau, die sich ein prachtvolles Herrenhaus und weiter Annehmlichkeiten leisten könnte. Anne würde im anfänglichen 20. Jahrhundert mit ihrem Sohn ein absolut angenehmes Leben führen können und das sogar legal, ohne dabei zu befürchten, dass die Sicherheitszentrale sie für eine Bereicherung an der vergangenen Welt anklagen könnte.
„Ja, um Himmels Willen, nun sagen Sie schon, was ich jetzt machen soll, damit ich das Geld bekomme! Wo muss ich unterschreiben? Die Beerdigung meines Mannes hatte mich bereits ein Vermögen gekostet und nun stehe ich vor dem Ruin und …“
Ike unterbrach sie, indem er unbemerkt unter dem Tisch auf ihren Fuß trat.
„Anne … lass es. Das Geld ist jetzt nicht wirklich wichtig. Wenn ein Versicherungsunternehmen einmal einen Fehler entdeckt hat, wittern sie die Chance, nicht auszahlen zu müssen. Die werden dich jahrelang in einen bürokratischen Krieg verwickeln, bis du ein seelisches Wrack bist und letztendlich zermürbt aufgeben wirst. Das ist es nicht wert! Du verdienst als Schuldirektorin ausreichend“, zwinkerte Ike ihr zu.
Daraufhin wurde es Anne bewusst, dass sie alle in einer äußerst unangenehmen Situation steckten und die Polizisten unbedingt verschwinden mussten, weil ihre wahre Identität ansonsten aufzufliegen drohte.
Anne atmete einmal tief durch und gab dann ihr Einverständnis, dass sie auf die beachtliche Auszahlung der Lebensversicherung verzichten möchte, nur um die unangenehmen Herrschaften los zu werden.
„Wie Sie wollen, Misses Owen. Ihre Entscheidung“, sagte Detective Miller. „Jedoch möchte ich Sie bitten, uns nach Belfast zum Police Department zu begleiten, damit wir eine Verzichtserklärung aufsetzen können. Ihr Sohn muss auch zwingend dabei sein, schließlich wurde er von Ihrem Mann ebenfalls begünstigt.“
Anne merkte wie ihr Herz immer heftiger schlug. Sie fing leicht zu zittern an und es wurde ihr übel. Auf gar keinen Fall wollte sie gemeinsam mit ihrem Sohn mit diesen fremden Männern nach Belfast fahren, selbst wenn sie Polizisten waren. Anne überkam bei diesen Gedanken ein unwohles Gefühl.
Detective Hunter kratzte sich an der Stirn, woraufhin eine silberne TAG Heuer Armbanduhr aus dem Ärmel hervor blitzte. Ike entging dies nicht, weil er die ganze Zeit die Nickelbrille auf seiner Nase lag. Für einen Augenblick rumorten seine Gedanken, wobei sein Herz ein paar Takte schneller schlug, als gewöhnlich. Er wusste zwar, dass das Unternehmen TAG Heuer bereits existierte und seit 1860 ausschließlich Uhren produzierte, aber auch Armbanduhren? Taschenuhren waren doch im frühen 20. Jahrhundert üblicher. Gab es da bereits schon Armbanduhren, fragte er sich.
Sein Verdacht verdichtete sich, dass diese Herrschaften möglicherweise doch keine Akteure vom New Scotland Yard, sondern die gesuchten Komplizen von Charles waren. Vielleicht wollten sie Anne und den Jungen entführen, um zwei wichtige Zeugen zu beseitigen. Vielleicht beabsichtigten sie aber auch und rechneten damit, dass Ike Verdacht schöpfen und stattdessen mit aufs Revier kommen wollte. Unterwegs würden sie ihn schließlich problemlos töten können. Für Ike war dies ebenfalls eine einmalige Chance, falls sie die gesuchten Zielpersonen waren, diese Unterwegs ohne irgendeinen Zeugen zu eliminieren. Schließlich waren sie unbewaffnet.
Jedoch gab es ein Problem. Sollten diese Leute nämlich tatsächlich vom Scotland Yard sein, dürfte er die Männer keinesfalls töten, weil sie Akteure wären. Andernfalls würde er gegen das UE-Gesetz verstoßen und ihn würde ein Strafprozess erwarten. Zudem würde er in dieser Gegenwart als Polizistenmörder gejagt werden und müsste sofort flüchten, womit die Belfast Mission, kurz vor dem Ende, gescheitert wäre.
„Entschuldigen Sie mich bitte, Sirs. Ich muss mal austreten“, sagte Ike und erntete daraufhin verdutzte Blicke der Detectives.
„Kein Problem. Wer muss, der muss halt. Wir warten hier so lange, Mister van Broek“, antwortete der Detective Sergeant Hunter gelassen, als er an seiner Teetasse nippte.
Ike schlenderte gemütlich, um keinen Verdacht zu erwecken, dass er in Eile sei und müsse unbedingt einen Bericht im Badezimmer erstatten.
Kaum hatte er die Tür abgeschlossen, sprach er hastig den Geheimcode in den Spiegel aus und wartete darauf, dass sich Vincenzos knurrige Stimme endlich meldete, während er sein Hemd auszog, um sich eine hauchdünne, latexähnliche kugelsichere Schutzweste über seinen muskulösen Oberkörper anzulegen. Zu seiner Verwunderung begrüßte ihn jedoch eine Frauenstimme. Es war seine persönliche Psychologin, Frau Dr. Heinzmann.
„Ike, wie schön wieder etwas von Ihnen zu hören. Die Funkverbindung in Vincenzo`s Bar wurde zu mir umgeleitet. Hier in der Sicherheitszentrale ist mittlerweile sehr viel passiert“, sprach sie aufgeregt. „Stellen Sie sich vor, Vincenzo wurde verhaftet. Er wird in diesem Augenblick von Agent Henry verhört!“
„Wie bitte?“, entgegnete Ike ungläubig, während er seine kugelsichere Schutzweste anlegte. „Aber weshalb? Das muss doch ein Irrtum sein!“
„Nein, nein! Vincenzo wird beschuldigt, dass er in die Aktivitäten von Charles Owen involviert war und er vermutlich der Drahtzieher ist. Ike, Vincenzo ist möglicherweise der gesuchte Maulwurf. Das haben Agent Maikel und Agent Dave in Sin City herausgefunden und … “
Währendem die Psychologin hektisch auf ihn einsprach, betrachtete sie den Monitor und sah, wie sein Gesicht näher herankam, bis nur noch seine Augen auf dem Bildschirm zu sehen waren. Seine hellblauen Augen blickten sie streng an. Die Psychologin stockte.
„Frau Doktor Heinzmann, ich bin Ihnen für Ihre Informationen zwar äußerst dankbar und will nicht unhöflich erscheinen, aber halten Sie bitte endlich die Luft an! Uns bleiben nur noch dreißig Sekunden für die Funkübertragung. Ich brauche eine wichtige Information, ansonsten eliminiere ich möglicherweise unschuldige Akteure. Finden Sie auf der Stelle heraus, ob es im Jahre 1911 bereits Armbanduhren der Marke TAG Heuer gegeben hatte. Armbanduhren, keine Taschenuhren, meine ich. Eilen Sie sich!“
Die Psychologin folgte sogleich seine Anweisung und recherchierte im Internet.
„Einen Moment“, antwortete sie. „Es-es ist verwirrend. Ich ähm … ich weiß gar nicht welchen Link ich anklicken soll.“
„Was soll das? Lassen Sie das dämliche Internet und benutzen Sie gefälligst das Archiv! Die integrierte KI antwortet Ihnen innerhalb einer Sekunde! Na los, machen Sie schon!“
„Ich-ich habe doch gar keinen Zugang zum Archiv“, stammelte Dr. Heinzmann, wobei er erkannte, dass sie mit der momentanen Situation völlig überfordert war.
„Dann verbinden Sie mich auf der Stelle mit dem Vizechef. Ich muss augenblicklich mit Agent Nicholas Verhoeven sprechen! Ich benötige eine Sondergenehmigung, um im Notfall drei Akteure zu eliminieren. Das Risiko ist einfach zu hoch. Nicht nur mein Leben ist gefährdet, sondern auch das von Mutter und Sohn!“, fauchte Ike sichtlich aufgebracht in den Spiegel.
Frau Dr. Heinzmann starrte erschrocken auf den Monitor.
„Aber Ike … Das können Sie doch nicht einfach so machen. Wenn Sie sich nicht sicher sind, dann betäuben Sie sie einfach!“
Nun waren nur noch wertvolle zwanzig Sekunden für die Funkübertragung übrig.
„Das ist leider nicht möglich. Die Energie meiner Waffe reicht nur noch allerhöchstens für einen Betäubungsschuss oder für drei scharfe Geschosse aus. Ich vergaß dieses verdammte Ding aufzuladen. Verdomme! Entweder bekomme ich jetzt diese Information von ihnen, oder Sie beschaffen mir diese verfluchte Genehmigung. Andernfalls töte ich diese Typen, gleich wenn sie vom Scotland Yard sind! Eilen Sie sich bitte, Frau Doktor, denn ich möchte ungerne unschuldige Akteure ausschalten müssen!“
Dr. Heinzmann war zwar darauf geschult worden, in brenzligen Situationen schnellstmöglich konkrete Entscheidungen zu fällen, bezüglich eines zwischenmenschlichen Konfliktes, jedoch war diese Frau nicht geschult worden, polizeiliche Anweisungen zu erteilen und überdies dazu befugt, geschichtliche Details aus dem Archiv zu recherchieren.
Unschuldige Menschenleben standen wohlmöglich auf dem Spiel und Ike schien dazu bereit sein, diese einfach zu opfern, um die Mission und sein eigenes Leben nicht zu gefährden. Nun lag das Schicksal der kompletten Mission in ihrer Hand, weil sie wusste, wenn diese Männer tatsächlich Akteure sind, Ike die Polizisten auf ihre Genehmigung eliminieren würde, würde die Mission abgebrochen werden und wäre gescheitert. Die Psychologin müsste daraufhin die Verantwortung dafür tragen. Falls Ike aber Recht haben sollte und er, aufgrund ihrer Fehlentscheidung getötet wird, würde man Frau Dr. Heinzmann ebenfalls verurteilen.
„Ike, es tut mir leid. Ich kann auf die Schnelle einfach nichts herausfinden, dazu brauche ich mehr Zeit. Sie müssen es irgendwie abschätzen, ob diese Leute Akteure sind oder nicht.“
Sie seufzte niedergeschlagen, nahm ihre Brille ab und schaute verzweifelt auf den Monitor, worauf sie Ikes konfuses Gesicht sah. Er selbst war ratlos und benötigte jetzt unbedingt eine Entscheidung von der Obrigkeit. Doch die Verbindung brach langsam ab.
„Ich bin für Sie verantwortlich, Ike. Bleiben Sie einfach von den Leuten fern od .. flüchten Sie …we … müss … all ...“
Die Funkverbindung rauschte und war abgebrochen. 40 Sekunden waren verstrichen. Ike schlug mit der Faust wütend auf das Waschbecken, holte dann die EM23 aus dem Versteck, ließ das Magazin aus dem Griff herausschnellen und betätigte den Druckknopf, bis die LED-Leuchte rot blinkte. Er überlegte kurz.
Die roten Projektile würden gewaltige Schäden anrichten, wie er es damals im South Western Hotel feststellen musste, und selbst ein harmloser Streifschuss würde tödlich enden. Die Energie für diese verheerenden Geschosse würde allerhöchstens nur dreimal ausreichen, und nur für einen einzigen Betäubungsschuss. Er durfte sich also keinen Fehlschuss erlauben. Das 9mm Geschoss wäre zwar auch tödlich, jedoch müsste er dabei ganz genau zielen. Diese Zeit hätte er möglicherweise nicht.
Ike rastete das Munitionsmagazin wieder in die Vorrichtung ein, lud durch und die Waffe war zum Töten bereit. Er blickte finster in den Spiegel.
„Lieber ihr, wer auch immer ihr seid … als Eloise und ich.“
Frau Dr. Heinzmann setzte mit leicht geöffnetem Mund ihre Brille wieder auf und sah entsetzt auf den Monitor. Endlich hatte sie einen Link gefunden, welcher die begehrte Information über eine Tag Heuer Armbanduhr preisgab. Armbanduhren waren zu jener Zeit zwar eher unüblich und es würden noch einige Jahre vergehen, bis diese von der Bevölkerung bevorzugt wird, dennoch wurden Armbanduhren bereits von verschiedenen Unternehmen, wie beispielsweise von Rolex sowie auch von dem Unternehmen TAG Heuer im anfänglichen 20. Jahrhundert produziert.
Die Psychologin zitterte und ihr Gesicht wurde blass. Ike war darauf und dran, eventuell Akteure zu erschießen. Obendrein waren sie Polizisten vom Scotland Yard. Und sie hatte keine weitere Gelegenheit, diese Information dem Schleuser van Broek irgendwie zu übermitteln. Wiedermal drohte die Belfast Mission zu scheitern.