Kapitel 48 – Die Stadt der Sünde
United Europe, Jahr 2473
Weit entfernt hinter dem Uralgebirge wurde 123 Jahre zuvor die letzte Kuppelstadt von United Europe fertig gestellt. Die City mit der Baunummer No. 345 war ursprünglich ein Außenposten für Forscher und Wissenschaftler gedacht. Das nötige Know-how und die technologischen Möglichkeiten waren damals ausgereift genug gewesen, um innerhalb 8 Jahren die zweitgrößte City zu errichten. Das ehemalige Russland war zur jeder Jahreszeit nur noch eine einzige Eiswüste, die sich über den gesamten asiatischen Kontinent erstreckte. Alle russische Großstädte waren so zerstört, dass man es nur noch als vereiste Utensilien bezeichnen konnte. Japan war unter gefrorenen Eismassen völlig verschüttet, ebenso China, und der Pazifische Ozean glich einer einzigen, undurchdringlichen Eisscholle. In diesem trostlosen Terrain herrschten konstante Temperaturen bis zu Minus 95 Grad Celsius.
City No. 345 war mit 112 Etagen ausgestattet und ragte beinahe 780 Meter in die Höhe, somit war diese Kuppelstadt die größte wissenschaftliche Station, die jemals von Menschenhand auf der Erde erschaffen wurde. Der Zweck dieser gigantischen Forschungscity war, um auf die andere Erdhälfte zu gelangen und günstige Bauplätze ausfindig zu machen, eventuell sogar Lebensformen aufzuspüren, die vielleicht irgendwie noch existierten. Aber die unaufhörlichen Schneeorkane wüteten jährlich heftiger, sodass derartige Expeditionen nahezu unmöglich waren.
Trotzdem wagten es eines Tages mehrere Forschungsteams, mit speziell angefertigten Kettenfahrzeugen und Ausrüstungen, das lebensfeindliche Territorium zu erforschen. Der Funkkontakt brach allerdings irgendwann ab und die wagemutigen Forscher kehrten nie wieder zurück. Letztendlich musste das gigantische Forschungszentrum aufgegeben werden, weil jenseits des Uralgebirges die Lebensbedingungen sogar noch unmöglicher einzustufen war, als mitten auf dem europäischen Kontinent und jede Konstruktion einer weiteren City nur unnötig das Leben der Architekten und Bauarbeitern vor Ort gefährdet hätte. Zudem verschlang City No. 345 mitsamt ihren vielzähligen Expeditionen immense Kosten, bis das Budget der Regierung nicht mehr ausreichte, die abgelegene City weiterhin zu finanzieren.
Zum ersten Mal in der Geschichte von United Europe wurde daraufhin eine City zum Verkauf angeboten, jedoch durften die zahlungskräftigen Kunden jeweils allerhöchstens eine Etage erwerben, damit keine ungewollte Machtübernahme über die komplette City No. 345 entstünde. Zudem wurde von der UE-Regierung die Bedingung auferlegt, dass ausschließlich sozialschwache Menschen in City No. 345 aufgenommen werden. Seitdem diente die abgelegene City als ein Ventil gegen die Überbevölkerung. In dieser Kuppelstadt wurden jene Menschen praktisch abgeschoben, die aufgrund ihrer Armut in keiner anderen City überleben würden, weil sie sich dort nicht einmal das günstigste Appartement oder Nahrung leisten konnten.
In City No. 345 war so manches kostengünstiger – insbesondere die Lebensunterhaltungskosten und die Immobilien sowie ein Hotelaufenthalt – als in den übrigen Kuppelstädten, weshalb hauptsächlich die Normalbürger aus dem Mittelstand, die sich keine Zeitreise leisten konnten oder zu beabsichtigten wollten, dort oftmals ihren Urlaub verbrachten. Denn angeboten wurde in dieser scheinbaren Armutsstadt trotz alledem vielerlei, wenn es auch nicht unbedingt für eine anständige Familie mit Kindern geeignet war, bis auf die Vergnügungspark Etagen.
Die ehemalige Forschungscity wurde im Laufe der Jahre ausschließlich Sin City genannt – gewisse Herrschaften nannten diese Stadt jedoch Sun City –, weil aufgrund der bedenklichen Arbeitslosenquote die meisten Einwohner sich prostituierten oder als Sklaven günstig ihren Dienst anboten. Manch einer war gar bereitwillig seine eigenen Organe oder Körperteile an Cyborgs zu verscherbeln, beziehungsweise für tausende von Euros zu tauschen, die sich dazu entschlossen hatten, wieder ein vollwertiger Mensch zu sein und erneut komplizierte Operationen anstrebten.
Skrupellose Mediziner züchteten in Reagenzgläsern genmanipulierte Viren und führten illegale Operationen durch, welche für eine Mutation zu einem anderen Lebewesen erforderlich waren. Das Geschäft mit der Mutation war zwar äußerst lukrativ, dafür jedoch absolut illegal und gesetzwidrig. Aber in Sin City war alles möglich. Nirgendwo in United Europe war das Klonen von Menschen günstiger, nirgendwo existierten mehr Casinos, Vergnügungsparks der besonderen Art und Bordelle, als in Sin City.
In der Stadt der Sünde wurden regelrechte Eros-Center-Ketten betrieben, die unvorstellbare Fantasien erst entfachen ließen und die Straßen leuchteten bunter und greller, als man es von dem längst vergangenen Las Vegas in Erinnerung hatte. Trotz des verruchten Rufes geschahen in Sin City die wenigsten Verbrechen denn diese City wurde insgeheim von der mächtigen Mount Sekte regiert, die jede Unstimmigkeiten auf ihre Weise regelten. Sin City war ein regelrechtes Paradies für Verbrecher, die dort untertauchten und unbehelligt leben konnten, insofern sie sich dort benahmen und der Mount-Sekte ausgiebig Schutzgeld bezahlten. Die Mounts waren in United Europe äußerst mächtig und es gelang ihnen trotzdem, mithilfe einflussreicher Geschäftsleute, letztendlich die komplette City zu erwerben.
Sin City war überdies die Hochburg der Klone. Es war also keine Seltenheit wenn man im Bahnhofsterminal ausstieg, einer attraktiven Frau oder einem Mann begegnete und in den oberen Etagen exakt die gleiche Person mehrmals zu Gesicht bekam. Die begehrtesten Prostituierten ließen sich einfach klonen, um ihren Umsatz zu vervielfachen.
Das Klonen von Menschen wurde von der Regierung trotz der Überbevölkerung geduldet, ja, sogar mitunter gefördert, insofern man für solch eine äußerst kostspielige Prozedur auch kreditwürdig war. Selbstverständlich verdiente der UE-Staat sehr viel dabei, denn Klone sowie ihre Erschaffer mussten gesonderte Steuern zahlen, zudem hatte ein Klon ohnehin nur eine begrenzte Lebenserwartung. Allerdings durften Klone ausschließlich in Sin City ihren Wohnsitz anmelden. Aber wer konnte es schon unterscheiden und kontrollieren, ob nun das Original oder die Kopie im Centrum oder in einer anderen City wohnt? Ein Klon musste zwangsweise genauso wie sein echtes Pendant heißen, aber es war von der UE-Regierung gesetzlich festgelegt, dass im ID-Chip unbedingt der Hinweis CR (Clone Replica) eingetragen wird. Aber im Reich der Mounts war selbstverständlich auch die Manipulation der ID-Implantate in der Netzhaut des Auges möglich, um einen Klon als ein Zwilling auszugeben.
Einen Klon zu besitzen hatte vielerlei Vorteile für das Original, hauptsächlich für Menschen, die besondere Talente besaßen. So konnte beispielsweise ein berühmter Schauspieler mehrere Filmprojekte gleichzeitig bewältigen, wobei dessen Gage sich dementsprechend vervielfachte. Einem ungeschlagenen Boxchamp gelang es mithilfe der Klontechnik am Ende seiner Karriere sich selbst herauszufordern, solche Events waren im 25. Jahrhundert äußerst beliebt und füllten stets die Stadien.
Ein genialer Schriftsteller veröffentlichte somit mehrere E-Books gleichzeitig, wobei es ihm ermöglicht wurde, die Bestsellerliste für mehrere Monate unangefochten komplett anzuführen. Aber auch für den Normalbürger war die Klontechnik von Nutzen, um beispielsweise seinen Arbeitsplatz zu sichern, falls man eine längere Zeit erkrankte oder einfach nur eine Auszeit benötigte, damit eben erst keine seelische oder anderweitige Erkrankung entstünde.
Die Entwicklung des Wachstums eines Klons ließ sich nach Belieben steuern und erreichte bereits nach wenigen Wochen die erwünschte Altersstufe. Jedoch alterten die Klone allerhöchstens fünf Jahre mit ihrem Originalen synchron, dann beschleunigte sich der Alterungsprozess und sie verstarben innerhalb weniger Monate – manche überlebten aber trotzdem einige Jahre. Waren die Klone nicht mehr brauchbar, überließ ihre Besitzer sie einfach dem Schicksal, wobei die meisten in den Slums der Citys oder auf der berüchtigten Rotterdamstraat im Centrum irgendwann in absehbarer Zeit verendeten.
Die Mounts achteten peinlichst darauf, dass keine Abfallprodukte, wie solche im Zeitraffer gealterten Klone offiziell bezeichnet wurden, auf den Straßen ihres Sündenparadieses herumlungerten und die Touristen anbettelten. Solche Szenarien mussten die Urlauber schließlich in ihrer eigenen Heimatcity selbst tagtäglich ertragen. Also wurden die meisten der ausgedienten Klone von den Mounts heimlich in das Centrum oder in eine andere größere City geschleust, damit sie dort irgendwie in der Gosse verendeten.
Henry Gudimard legte sein weißes Jackett über ein Schaltpult, dann seinen hellen Hut darauf, und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Soeben war Henry am Checkpoint eingetroffen, nachdem er die Hochzeit von Ike und Eloise verlassen hatte. Er überblickte in der Sicherheitszentrale den riesigen Monitor, darauf unzählige Liveschaltungen von verschiedenen Missionen zu sehen waren, welche vom Satelliten aufgezeichnet und übertragen wurde.
„Schaltet die Belfast Mission auf den großen Monitor und gebt mir die aktuellsten Berichte“, forderte er. Als daraufhin ein Mitarbeiter an seinem Schaltpult die Filmsequenz aus dem Jahr September 1911 heranzoomte, sahen hunderte Geheimdienstler auf dem übergroßen Monitor, wie Ike gerade mitten in Annes Schlafgemach stand und Justin an ihm wie ein Äffchen klammerte. Eloise war just im Moment hereingekommen und wirkte sehr verärgert.
„Was ist mit der verdammten Tonübertragung? Warum hört man nichts? Ich will wissen, worüber sie sich unterhalten. Weshalb ist das Fräulein so aufgebracht? Würde mich gnädiger Weise irgendjemand auf der Stelle aufklären?!“
Henry war sehr ungehalten darüber, dass der Ton deaktiviert wurde. Sogleich meldete sich sein Stellvertreter, Nicholas Verhoeven, zu Wort. Der beleibte Mann lümmelte in Henrys Chefsessel, zog seine Brille ab, kraulte sich seinen gepflegten Vollbart und blickte in scharf an.
„Henry, so geht das nicht. Das können wir nicht machen!“, sprach er bestimmend, dennoch mit einem respektvollen Unterton. „Das ist eindeutig Privatsphäre! Auch wir haben uns an Vorschriften zu halten. Wenn Schleuser van Broek nach Missionsende das Protokoll durcharbeitet und erfährt, dass wir ihn in einem intimen Gespräch praktisch abgehört haben, steht ihm das Recht zu, uns zu verklagen. Solche Gespräche dürfen nach Beendigung einer Mission ohnehin nicht verwendet werden, sollte van Broek irgendetwas gesetzwidriges gesagt haben.“
Dann klärte Nicholas Verhoeven den obersten Chef des Geheimdienstes über die aktuellsten Meldungen auf, unter anderem auch, dass Vincenzo wiedermal mit seinen Rechtsanwälten gedroht hatte und somit die Anordnung durchgesetzt hatte, dass die Mikrochips von Anne Owen und ihrem Sohn deaktiviert und sie nicht für ihren Betrug belangt werden. Somit waren die Owens jetzt offiziell Akteure. Dafür aber hatte Vincenzo das Haus ausgehandelt, betonte Agent Nicholas Verhoeven. Anne Owen war nicht mehr die Besitzerin des Hauses, es gehörte nun der UE-Regierung und diente von nun ab als eine Basis in Belfast für alle Schleuser und Agenten.
Henry legte sich ein Headset an, verschränkte seine Arme und rief über die Lautsprecher um Aufmerksamkeit, woraufhin das Gemurmel in der Sicherheitszentrale augenblicklich verstummte.
„Meine geehrten Damen und Herren, ihr hört mir jetzt ganz aufmerksam zu! Wir müssen ab sofort jedes Gespräch von Schleuser Ike van Broek abhören, weil es allein seiner eigenen Sicherheit dient, zudem um ein Zeitparadoxon zu verhindern. Van Broek wird also niemanden verklagen!“, schallten seine Worte in der Sicherheitszentrale. „Soeben habe ich Schleuser Barnes am Checkpoint angetroffen und darüber bin ich absolut nicht entzückt, weil ursprünglich Ike aus der Mission scheiden sollte und nicht Simon! Ike schwebt in akuter Lebensgefahr und Vincenzo hat nichts Besseres zu tun, als uns ständig in den Rücken zu fallen. Zuerst entdeckte er eine Gesetzeslücke, woraufhin Schleuser van Broek es gar gestattet wurde, eine Lebensversicherung zugunsten einer Akteurin abzuschließen. Wir haben eine verdammte Mission zu erfüllen und Vincenzo Falkone führt sich wie ein Samariter der Akteure auf. Das ist inakzeptabel! Wir brauchen verdammt noch mal einen Erfolg!“
In der Sicherheitszentrale herrschte absolute Stille, denn Henry war zwar ein sehr umgänglicher Chef und immer zum Scherzen bereit, aber wehe dem es funktionierte nicht so, wie es geplant war, wie er es sich’s vorgestellt hatte.
„Hiermit entziehe ich Vincenzo mit sofortiger Wirkung die Befehlsgewalt! Ich werde sogleich mit dem Lift hinunterfahren und ihm in seinem verdammten Puff einen Besuch abstatten. Ab sofort …“
Plötzlich ertönte eine Alarmsirene und ein Satellitenbild von United Europe wurde auf den Monitor projiziert, darauf alle registrierte Kuppelstädte zu sehen waren. Weit im Osten blinkte die City No. 345 grün auf. Nun war die Zeit gekommen, jetzt war es endlich möglich, den geflohenen TT Eric aufzusuchen, um dessen Kontaktperson aufzuspüren und eventuell zu verhaften.
Dies alles geschah vor zwei Tagen …
Nach der Festnahme am Hafen von Southampton wurde Eric von Henry vorab verhört (Kapitel 7), aber nachdem er feststellen musste, dass der TT die Kooperation hartnäckig verweigerte, war Henry dazu gezwungen die Höchststrafe anzufordern: Die Verbannung aus allen Citys.
Zuvor hatte Henry dem Time Thief aber unbemerkt einen Funkpeilsender verpasst, um ihm gegebenenfalls in den Ruinen von Den Haag aufzuspüren. Als Eric daraufhin in die unterste Etage des Centrums geführt und im Inhaftierungsblock nochmals verhört sowie geschlagen wurde, verschwand er plötzlich mithilfe einer unbekannten Zeitreisetechnik, nachdem man ihm die elektronische Handschelle entnommen hatte. Eric tauchte daraufhin wieder in City No. 345 auf, in Sin City, jedoch war er exakt 6 Monate in die Vergangenheit gereist und der Funkpeilsender blinkte derzeit auf allen Monitoren noch rot, was bedeutete, dass ein Zugriff aufgrund eines möglichen Zeitparadoxes noch nicht möglich war. Aber nun war es soweit, nun konnte der Geheimdienst ihn beschatten um herauszufinden, wer seine Gehilfen sind, die Ike beseitigen wollen. Henry beorderte Agent Dave und Agent Maikel augenblicklich in das Jahr Dezember 2472 zu reisen, um den Flüchtling zu observieren.
Agent Maikel und Agent Dave betraten den Checkpoint. Mitten im weißsterilen Saal schimmerte die grünliche Glorie des Zeitfensters und summte permanent. In einer Minute würden beide Agenten in Sin City erscheinen, 6 Monate bevor die Belfast Mission beginnen wird.