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Flunkereien

Kurzgeschichten · Erinnerungen
Flunkereien

Kürzlich verbrachte ich einen Tag mit meinem Onkel und meiner Tante in Gengenbach. Wir besuchten den Weihnachtsmarkt, schlenderten an den verschiedenen Buden und Ständen vorbei, ohne etwas zu kaufen. Irgendwann wurde es uns zu langweilig und wir wichen in die Seitenstraßen aus, die vom Marktplatz in die verschiedenen Wohnquartiere der Innenstadt führten. Bald bogen wir in eine Gasse ein, die den Namen „Engelgasse“ trug. Mit jedem Schritt den wir tiefer in das Viertel drangen, hatten wir das Gefühl, zurück in vergangene Zeiten, Jahrhunderte zu gehen. Häuser, Stallungen, Gebäude die im fünfzehnten Jahrhundert erbaut wurden, umgaben uns, schirmten uns ab von der Gegenwart mit ihrem hektischen Treiben. Informationsplaketten an den Außenwänden erzählten dem Betrachter was es mit diesem oder jenem Gebäude auf sich hatte, welche Dinge sich dort ereigneten. Manche der Gebäude waren in einem der zahlreichen Kriege der Vergangenheit niedergebrannt und später Stück um Stück, originalgetreu wieder aufgebaut worden.
Onkel philosophierte lachend: „Solche Infotafeln bräuchten wir auch in unserem Leben“, und er erzählte von seinem neuesten Projekt. Er schrieb an einem Buch in dem er seine Lebensgeschichte, seinen Lebensweg erzählte und das er seinen Enkeln und Urenkeln hinterlassen wolle. An die frühesten Kinderjahre konnte er sich nicht mehr erinnern „aber früher als bis zum fünften oder sechsten Lebensjahr kann eh keiner in seine Vergangenheit zurückblicken“, rechtfertigte er dieses kleine Manko. „Ich schon“, protestierte ich. Mir fiel eine Begebenheit ein, bei der ich definitiv jünger als fünf war und die Szene öffnete sich vor meinem geistigen Auge:
„Ich stand im Türrahmen der Küche meiner Großeltern. Großmutter stand am Herd, während Mutti und Großvater am Fenster standen und über etwas diskutierten, was sie mit mir tun oder was sie mir geben wollten. Es mußte etwas kollosal gutes, großes, tolles gewesen sein. Ich war nämlich ganz Feuer und Flamme während ich zuhörte. „Nein, nein“, lehnte meine Mutter ab und schüttelte den Kopf: „Dafür muß er mindestens fünf Jahre alt sein.“
„Aber ich b i n doch fünf“, krähte ich dazwischen. Großvater fuhr herum, starrte mich mit drohenden Augen an, hob den Zeigefinger und polterte:
„Du alter Lügenbeutel! Wie alt bist du?“
Sechs Augen richteten sich auf mich. Bis zu meinem fünften Geburtstag waren es noch sechs Monate.
Im neuen Testament fordert ein eifriger Apostel: „Verdeckt die Sünde nicht, deckt sie vielmehr auf damit sie von der Gerechtigkeit Gottes ans Licht gebracht und vor aller Augen offenbar werde!“
„Viereinhalb“, korrigierte ich leise. Mutter kicherte und kam mir zu Hilfe: „So ganz unrecht hat er ja nicht. Er ist beinahe fünf.“
Wieder fasste ich Mut doch Großmutter zerstörte das bisschen Hoffnung mit einem Handstreich:
„Halbe Sachen zählen nicht!“
Damit war mein Einsatz, durch Flunkerei in den Genuss von etwas unendlich wertvollem, wichtigem, schönen zu kommen, verloren.
Heute, fünfzig Jahre später kann sich der erwachsene Mensch nicht mehr daran erinnern, was ihm vor fünfzig Jahren so wertvoll erschien, dass er dafür sechs Monate hinzu flunkerte, von sechs Augen durchleuchtet wurde und erfuhr, dass „halbe Sachen nicht zählen.“

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Kommentare  

Hallo Thomas,

eine niedliche Geschichte, die mich nun neugierig macht, was denn das Schöne war. Weißt du dieses noch oder sind nur die Gefühle in Erinnerung geblieben?

Viele Grüße,
Frank


Frank Bao Carter (08.03.2017)

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