
Kapitel 40 – Entscheidung am Hafen
Ike klappte seine Taschenuhr auf. Es war kurz vor 19 Uhr. In einer Stunde würden Bugsy und die unbekannten Männer aus der Zukunft erscheinen, um das Geschäft mit der Munition abzuwickeln. Wie er an die 10 Flinten und eine Munitionskiste gefüllt mit Schrotpatronen gelangt war, wollte Bugsy ihm nicht verraten.
„Glaube mir, van Broek. Es ist gesünder für dich, wenn du unwissend bleibst“, hatte Bugsy ihm erklärt, wobei Ike an seinen bedrückten Tonfall erahnen konnte, wie tief er in diesen Sumpf überhaupt steckte.
Ike vermutete, dass er den Kontakt mit skrupellosen Waffenhändlern pflegte, oder vielleicht hielt er gar geschäftliche Beziehungen mit korrupten Polizisten, die ihre Gehälter etwas aufstocken wollten, die Bugsy Zugang zu einen Waffenlager mit beschlagnahmten Waffen verschafft hatten und letztendlich vergebens auf ihr Geld warten würden. Wie dem auch sei; die Dark Crows waren nur Unterhändler, die sich mit mächtigen Leuten auf einen äußerst gefährlichen Deal eingelassen hatten.
Ike wurde es bewusst, dass Bugsy jeden Beteiligten einen riesengroßen Gewinn versprochen haben musste und er nun in erheblichen Schwierigkeiten steckte, weil er, samt seinen Gangmitgliedern, jeden zu prellen beabsichtigte.
Benjamin Glover war noch ein viel zu junger Gauner, um die Welt der wirklichen Schwerverbrecher zu überblicken. Er war der Ansicht, dass er der absolute König der Straße sei und mit vorgeheuchelter Loyalität unter den anderen Kriminellen seine Ziele erreichen würde. Er hielt sich für gerissen und klug, aber nun hatte er es mit Verbrechern zu tun, die weder an Gebietskontrolle und erst recht nicht an Geld interessiert waren, sondern sie beabsichtigten ein viel höheres Ziel zu erreichen: Die Weltgeschichte zu manipulieren. Und diese Leute, die Leute aus der entfernten Zukunft, hatten die Situation völlig unter Kontrolle. Die Dark Crows waren nur unbedeutende Akteure für sie, die sie für ihre Zwecke benutzten und sie leben oder sterben lassen konnten. Aber Ike war allen einen Schritt voraus, denn er wusste, dass Bugsy genau an diesem Tag etwas zustoßen würde. Es gab also eine reale Chance, Glovers tragisches Schicksal abzuwenden.
Heute am Silvester würde Bugsy sterben. Entweder durch einen Unfall oder irgendjemand würde ihn zu töten beabsichtigen, was realistischer war. Das stand fest. Die Liste seiner Feinde war einfach zu unüberschaubar, als dass Ike es abschätzen konnte, aus welchen Kreisen die tödliche Attacke kommen könnte, die Bugsy niederstrecken sollte.
Er atmete schwermütig auf. Momentan sah die Situation für ihn auch nicht rosiger aus. Dies war die einmalige Gelegenheit, die Saboteure zu identifizieren und auszuschalten. Dann wäre wenigstens dieser Spuk vorbei und er müsste vorerst nicht mehr mit einem hinterhältigen Angriff rechnen. Sollte er oder Bugsy aber nicht erfolgreich sein, wären die Unbekannten nicht nur im Besitz von mehreren Schrotflinten, sondern zudem auch von der zugehörigen Munition. Darüber hinaus versuchte Ike einen Akteur vor seinen vorbestimmten Tod zu beschützen, womit er gesetzwidrig handelte und nach seiner Rückkehr in das 25. Jahrhundert dafür zur Rechenschaft gezogen werden würde, zumal er von Vincenzo ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dies strikt zu unterlassen, weil Benjamin Glovers Grabmal bis mindestens im Jahr 2065 erhalten bleibt. Ein kniffeliges Zeitparadoxon könnte sich eventuell anbahnen, denn das Mausoleum existierte selbst in einigen Sachbüchern und wer soll darin bestattet worden sein, wenn Bugsy nicht stirbt?
Feuerwerksraketen knallten in der Ferne des Festlandes, zerplatzten am Firmament und erhellten den Nachthimmel kurz mit grünen, roten und weißen Strahlen.
Ike fragte sich, wozu sie zehn Schrotflinten benötigen. Nach Bugsys Aussage zufolge waren allerhöchstens vier TT involviert. Waren es etwa doch mehr? Eine Schrotflinte würde doch völlig ausreichen, um ihn zu beseitigen. Er fühlte sich etwas geschmeichelt. Diese Leute wussten scheinbar, dass man ihn keineswegs unterschätzen durfte und zudem verriet ihre Vorgehensweise, dass dies möglicherweise ihre allerletzte Option war, die Mission zum Scheitern zu bringen. Sie waren vielleicht am Ende ihres Lateins, ließen es darauf ankommen und beabsichtigten ein Gefecht zu riskieren. Aber zehn Schrotflinten klangen nach einer äußerst hinterhältigen Attacke, die ihm bevorstünde. Zehn Schrotflinten bedeuteten zudem, dass die TT auf Nummer sicher gehen wollten.
Ike sollte sterben. Unbedingt. Außerdem sorgte er sich um Bugsy. War dessen Schicksal tatsächlich besiegelt, selbst wenn Ike ihn beharrlich zu beschützen versuchte? Vincenzo hatte behauptet, dass man zwar Ereignisse verändern könnte, aber das Schicksal eines Menschen könnte man niemals betrügen. Was geschehen soll, wird geschehen. So oder so. Dahinter steckt wohlmöglich eine geheimnisvolle Macht, das Universum, hatte Vincenzo vermutet.
Ike hatte es niemals erwähnt weil er immer genauso rational gedacht hatte, wie Henry und Vincenzo. Aber Eloise sowie alle seine Freunde in der vergangenen Welt glaubten felsenfest an den allmächtigen Gott. Bestimmte etwa dieser Gott das Schicksal aller Menschen?, fragte er sich. Dann hat der Herrgott jetzt ihn als Schutzengel geschickt, um Benjamin Glover vor dem Tod zu bewahren, glaubte Ike felsenfest.
Wasserwellen plätscherten gegen die Hafenmole, darauf sich die Lichter vom Festland widerspiegelten. In weiter Ferne, Richtung gegen das Meer, hörte Ike das Glockenläuten eines einlaufenden Schiffes. Das Licht des Leuchtturmes rotierte und warf gleichmäßig einen Lichtkegel über das Hafengebiet. Und wieder zerplatzte eine Feuerwerksrakete am Himmel. Belfast war im Partyrausch.
Leider gelang es ihm nicht mithilfe seiner Taschenuhr eine Signalverbindung zum Satelliten herzustellen. Der integrierte Infrarotmodus wäre ihm jetzt sehr hilfreich gewesen, um im Dunklen mit Impulse jegliches Lebewesen im Umkreis von 50 Meter aufzuspüren. Überdies war ihm nun bewusst, falls ihm Lebensgefahr drohte, dass kein Agent zur Hilfe herbeieilen könnte.
Der Satellit war außer Reichweite, somit war ein Funkspruch oder eine SMS unmöglich. Er flüsterte einen holländischen Fluch vor sich hin, als er obendrein verärgert feststellte, dass soeben der Akku seiner Nickelbrille schwächer wurde und die Energie nicht ausreichte, um den Nachtsichtmodus zu aktivieren.
Ike schüttelte seine Nickelbrille und betrachtete sie verwundert.
„Das verstehe ich jetzt nicht. Ich hab das Scheißding doch gestern Abend erst aufgeladen.“
Das Schicksal eines Menschen lässt sich nicht betrügen; an diese Worte erinnerte er sich wieder, aber das war noch lange kein Beweis für ihn. „Ich werde Benjamin Glover beschützen … Egal wie“, schwor er sich und steckte seine technologische Brille in die Manteltasche.
Ike huschte geduckt zwischen riesigen Überseecontainer, zwischen den Verladekränen hindurch und erkundete vorsichtig das Gelände. Weder vernahm er Stimmen, noch sah er irgendwelche Hafenarbeiter. Es war Silvester 1910 und niemand war um diese Uhrzeit am Arbeiten. Jedenfalls nicht in dem Hafengebiet, wo der herrenlose Dreimastschoner ankerte.
Mitunter jaulte nur eine weitere Feuerwerksrakete hoch hinauf zum bewölkten Abendhimmel und zerplatzte in rote und grünen Farben. Dann prasselte es am Himmel und abertausend weiße Funken sprühten wie ein leuchtender Regen herab, die sogleich wieder erloschen.
Frohes neues Jahr 1911, verkündeten die Böller.
Plötzlich entdeckte Ike den Umriss des besagten Dreimastschoners und schlich vorsichtig an Deck des Schiffes. Wie ein Geisterschiff war es plötzlich in seinem Blickfeld erschien. Es war mit dicken Tauen festgezurrt und schunkelte sachte umher. Auf dem Bootsdeck des Segelschiffes war es still, bis auf gleichmäßiges Holzknarren und aufschlagenden Wasserwogen war nichts weiter zu hören.
Ike öffnete eine knarrende Eisenluke und stieg die hölzerne Treppe hinunter in den Frachtraum. Vorsichtig tastete er sich an Holzfässern, einer alten Kanone und Stützbalken vorbei, bis er das Verladegitter erreichte. Wieder fluchte er leise niederländisch, weil er mit seiner Stirn gegen eine verrostete Öllampe gestoßen war, die herab hing.
Wenn der Vollmond manchmal hinter den Wolken hervorschien, wurde der Frachtraum mit seichtem Licht erhellt und der gekachelte Schatten des Verladegitters legte sich auf den Boden nieder. Von dort unten konnte er das Geschehen oben auf dem Bootsdeck etwas beobachten, sowie auch am günstigsten belauschen, ohne dabei entdeckt zu werden. Ike war bereit, das Treffen mit den Time Thieves konnte nun beginnen.
Nachdem Ike das Magazin seiner vollautomatischen EM23 überprüft und durchgeladen hatte, verschanzte er sich in eine dunkle Nische und wartete ab. Das Segelschiff schaukelte sachte und stieß manchmal gegen die Mole. Er hörte, wie die Wasserwogen gegen den Schiffsrumpf plätscherten. Immer wieder knarrte das hölzerne Segelschiff. Es herrschte eine unheimliche Atmosphäre und ständig trat er in eine Wasserpfütze.
Ike kontrollierte regelmäßig die Uhrzeit mit seiner Taschenuhr und je näher der Zeiger sich zur vollen Stunde bewegte, desto nervöser wurde er. Es war mittlerweile schon kurz vor 20 Uhr.
Er erinnerte sich daran, wie er zwei Jahre zuvor in Southampton im South Western Hotel das erste Mal einen Menschen liquidiert hatte. Damals ging er die Angelegenheit etwas unbefangener an, was letztendlich auch zum Erfolg geführt hatte. Nun hatte er es aber höchstwahrscheinlich mit vier Gegnern zu tun – möglicherweise sogar mit den Dark Crows, die vielleicht irgendwo in einem Versteck lauerten – und musste obendrein aufpassen, dass er im Dunkeln nicht ausversehen Bugsy erschießen würde. Denn dann wäre Ike es zu guter Letzt gewesen, der für Benjamin Glovers Tod verantwortlich war.
Die Möglichkeit, diese Kerle mit dem Betäubungsschuss zuerst niederzustrecken, wäre eigentlich optimal gewesen. Dann könnte er bedenkenlos jeden ausschalten, der gleich auf dem Bootsdeck erscheinen wird, einschließlich Bugsy, und könnte schließlich seelenruhig die bewusstlosen Männer eliminieren, die er aus dem Weg schaffen wollte. Aber er musste damit rechnen, dass seine Feinde mit magnetischen Schusswesten ausgestattet waren und die Betäubungsmunition daher unwirksam wäre. Nur ein gezielter Kopfschuss würde diese Misere ein für alle Mal beenden.
Ike blickte erneut auf seine Taschenuhr. Jetzt war es Punkt 20:00 Uhr aber niemand war erschienen. Nicht einmal Stimmen außerhalb des Schiffes vernahm er, nur das entfernte dröhnende Hupen eines Ozeandampfers und wiedermal einige Feuerwerksraketen, die hochzischten und den wolkenbehangenen Himmel stellenweise kurzeitig erhellten, als würde ein buntes Gewitter toben.
Das alte Segelschiff schunkelte leicht und es knarrte ständig von irgendwoher. Ike war äußerst nervös, zog sofort seine EM23 aus seinem Mantel und zielte in die Dunkelheit, als er fiepende Geräusche vernahm. Das seichte Mondlicht erhellte kurzzeitig den Frachtraum und er atmete erleichtert auf, denn es waren nur herumhuschende Ratten.
„Verdammt, wo stecken die bloß? Bugsy hat doch gesagt, die seien immer pünktlich gewesen“, murmelte er vor sich hin. Er klappte seine Taschenuhr auf, es war bereits 20:22 Uhr.
Ike blieb weiterhin in seinem Versteck und überprüfte beinahe minütlich die Uhrzeit. Nachdem aber eine Dreiviertelstunde vergangen war und sich oben praktisch gar nichts getan hatte, wagte er sich vorsichtig hinauf auf das Bootsdeck. Wieder war der Vollmond hinter dichten Wolken verschwunden. Es war stockduster, nur die pechschwarzen Konturen der Segelmasten und der Reling zeichneten sich aus der Dunkelheit ab. Gespenstisch.
Mit beiden Händen zielte er die EM23 in die Finsternis, drehte sich langsam vorwärtsgehend herum und hielt seine Sinne wachsam. Wieder zerplatzten Feuerwerksraketen am Himmel.
Was war nur geschehen? Hatten die Saboteure die Situation etwa durchschaut und kurzfristig einen anderen Treffpunkt mit Bugsy vereinbart? Oder hatte das Schlitzohr ihn tatsächlich reingelegt? 20.000 Dollar waren damals immerhin ein verlockendes sowie ausreichendes Vermögen, womit er sich leicht hätte wegschleichen können. Wofür sollte er weiterhin sein Leben riskieren, wenn er dieses Geld doch sicher in seiner Tasche hatte? Ike gab es innerlich zu, dass er in Bugsys Situation genauso gehandelt hätte. Er hätte sich mit Zaster aus dem Staub gemacht, denn keine Geldsumme ist es wert, dass man dafür sein Leben riskiert.
Aber Bugsy wollte ernsthaft nach Amerika auswandern, sein Lebenstraum war zum Greifen nahe und dies schien ihm nun wichtiger zu sein, als die Habgier nach der kompletten Geldsumme. Tage zuvor hatte er Ike gebeichtet, dass er sogar auch ohne der Knete abhauen würde, wie er die Dollars bezeichnete. Seine neue Bekleidung und die Schiffsreise in der Ersten Klasse auf der Mauretania wäre für ihn Anreiz genug, um zu verschwinden, und würde ihm vielmehr Freude bereiten, sogar mehr als die 40.000 Dollar, die er zu ergaunern gedachte. Ihm sei seit dem Heiligabend bewusst geworden, dass ein anständiges Leben, ohne Gewalt, ohne Diebstahl und Erpressung zu verüben, das wahre Leben sei, was er von nun ab anstrebte. Dies wäre sein allerletztes illegales Geschäft, hatte er beteuert.
Bugsys gepackte Koffer samt dem Ticket lagen auf der Ladefläche von Ikes Fuhrwagen. Bugsy selbst hatte noch am gestrigen Tag darauf getätschelt, abermals seine neuen Sachen bestaunt und sich auf seine Flucht wie ein Kind gefreut. Niemals würde er ohne sein Gepäck verschwinden, dessen war sich Ike sicher.
Ike schlich sich mit vorgehaltener Waffe vorsichtig auf dem Bootsdeck herum und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Er war alleine, realisierte er nun. Was aber verdammt nochmal war bloß geschehen? Warum war niemand erschienen? Weshalb kam das Treffen nicht zustande und wieso hatte Bugsy ihm nichts davon berichtet?
Plötzlich entdeckte Ike auf dem Boden des Mittelmastes einen hellen Gegenstand. Es war ein demoliertes Holzkästchen. Verwundert hob er es auf. Es war eine Spieluhr. Ike öffnete den angeknacksten Sprungdeckel und eine Melodie spielte zögernd ihre letzten Takte. Die tanzende Ballerina war umgeknickt und drehte gerade ihre letzte Runde, bevor das Geklimper der Spieluhr verstummte. Er hätte die Spieluhr nur wieder aufziehen müssen und die Melodie würde wieder spielen, genauso würde die Ballerina wieder munter im Kreise tanzen. Als er den eingravierten Bibelvers auf der Deckelinnenseite las: Der HERR ist treu; Der wird euch stärken und bewahren vor dem Argen: 2. Thessalonicher 3, 3 wusste er, dass dies die Spieluhr war, welche Eloise ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Bugsy muss also bereits hier gewesen sein, oder war er es immer noch?
Die Spieluhr war stark beschädigt. Entweder wurde sie gewaltsam zu Boden geworfen oder war von hoch oben heruntergefallen. Er schluckte und ahnte Schlimmes.
Langsam schaute Ike am Segelmast entlang, immer weiter höher. Er erstarrte, als er in schwindelnder Höhe eine schattige Gestalt gefesselt erblickte, die sachte herumbaumelte.
„NEIN!“, rief Ike entsetzt und eilte die geflochtene Seilleiter am Mast hinauf, wobei er seine eigene Höhenangst völlig vergaß. Mit entsetztem Blick kletterte er immer höher und erkannte, dass Bugsy am Segelmastende mit einem Tau aufgeknüpft wurde und regungslos sachte umherschwang.
Nachdem er Bugsy entfesselt und ihn auf seinen Schultern wieder nach unten verfrachtet hatte, legte er ihn behutsam auf das Bootsdeck. Die Wolken zogen vorüber, das Mondlicht erhellte das Segelschiff kurzzeitig.
Man hatte Benjamin Glover schlimm zugerichtet und ihm verhöhnend seine Schirmmütze verkehrtherum aufgesetzt. Sein Gesicht war geschwollen, von Platzwunden übersät. Seine blutenden Wunden waren schon geronnen, außerdem fehlten ihm einige Zähne. Insbesondere sorgte es Ike, dass ihm sogar Blut aus seinen Ohren gequollen war. Seine Kopfverletzungen waren verheerend. Bugsy musste bereits einige Stunden zuvor brutal verprügelt und dort oben aufgeknüpft worden sein. Gehängt hatte man ihn zwar nicht, sondern nur am Körper mit einem Seemannsseil gefesselt und hochgezogen, aber seine Verletzungen waren nichtsdestotrotz lebensbedrohlich. Vielleicht war er gar bereits tot?
Ike kniete nieder, hielt ihn in seinen Armen und fühlte seinen Puls. Nichts. Dann horchte er seine Brust ab und glaubte einen schwachen Herzschlag zu hören. Er glaubte auch, dass er noch schwach atmete. Aber sein Körper fühlte sich weich an, wie ein Leichentuch. Sämtliche Rippen hatten sie ihm gebrochen und seine inneren Verletzungen waren möglicherweise selbst mit seiner Medizin nicht mehr zu kitten.
Plötzlich öffnete Bugsy zaghaft ein Auge, das nicht gar so zugeschwollen war, und verlangte nach einem Schluck Wasser. Ike aber blickte nur entsetzt in sein geschundenes Gesicht.
„Tut mir leid, Kumpel. Es tut mir aufrichtig leid, dass ich dich doch nicht beschützen konnte.“
„Hey du … Mister van Broek …“, röchelte er nuschelnd. „Diese verfluchten Schweinehunde … Sie haben es gewusst. Die haben mich gelinkt … und mich fertig gemacht. Irgendjemand hat alles gewusst und uns verraten“, sprach er mit schwacher Stimme. Er hustete, wobei ihm Blut aus dem Mund quoll.
Bugsys war normalerweise ein knallharter Typ, der schon mehrfach zusammengeschlagen wurde und immer wieder aufgestanden war. Er war ein Überlebenskämpfer, den man nicht so leicht brechen konnte. Doch dieser Tag war sein letzter Tag.
Mit seinen letzten Atemzügen berichtete er, dass ihn seine Auftraggeber überraschend am Morgen abgefangen und zum Hafen entführt hatten. Obwohl er ihnen die Munitionskiste anstandslos und sogar ohne weitere Forderung ausgehändigt hatte, hatten sie ihn dennoch mit Schlagringen und einer Eisenstange brutal zusammengeschlagen. Ein Verräter hätte einen qualvollen Tod verdient, waren ihre einzigen Worte gewesen, brachte er noch heraus. Irgendjemand hatte es gewusst, dass Bugsy die Fronten gewechselt hatte. Aber wer?
„S-sieh dich vor, van Broek“, röchelte Bugsy. „Diese verdammten Hurensöhne haben jetzt die verfluchte Munition. Jetzt wollen sie dich erledigen, mein Freund.“
Ein Ansatz eines Lächelns verzierte sein geschundenes Gesicht.
„Sag deiner Frau … Sage ihr … Danke für die Spieluhr“, hauchte er noch zuletzt. Dann schloss er sein noch intaktes Auge. Sein geschundener Körper erschlaffte sogleich, als sein Lebenslicht erlosch. Nun war Benjamin Glover tot.
Ike fesselte ihn wieder und zog seinen leblosen Körper mit der Seilwinde wieder langsam hoch am Segelmast hinauf. Mit jedem Ruck, mit dem er ihn hinaufzog, kämpfte Ike mit seinen Tränen. Und wieder verschwand Bugsy in der Finsternis, als er ihn hochhievte und hinterher blickte, wie er langsam von der Dunkelheit verschlungen wurde. Wie jedes Mal, wenn Bugsy sich von ihm verabschiedete.
Die hiesige Polizei musste Bugsy unbedingt in dieser Position auffinden, damit die Umstände seines Todes nicht weiter nachgeforscht werden. Bugsy war schließlich polizeilich bekannt und es sollte den Anschein erwecken, dass irgendjemand mit diesem Ganoven abgerechnet hatte. Dies war sowieso nur eine Frage der Zeit gewesen. Ein Bandenkrieg hatte seine Verbrecherkarriere endgültig beendet, genauso sollte es die Belfaster Polizei auffassen.
Ike wanderte langsam mit gesenktem Haupt über das Bootsdeck. Seine Arme hingen schlaff herunter und die Laufmündung seiner EM23 zeigte zum Boden. In seinen Augen spiegelte sich der pure Hass wider.
Plötzlich grollte es am Himmel und als wenn jemand eine Duschbrause angestellt hätte, prasselte ein Regenschauer nieder. Triefnass stand er nun da und starrte apathisch zum Festland.
Dass man nach seinem Leben trachtete, akzeptierte Ike und auch das ein TT (Agentencode für Time Thief – Saboteur) ahnungslose Akteure für ihre Zwecke benutzten. Jedoch empfand er es als äußerst niederträchtig, einen Akteur zu töten, nachdem er benutzt wurde und danach nicht mehr nötig war.
Bugsy einfach nur zu verprügeln, ohne dass er lebensgefährliche Verletzungen davon tragen würde, wäre ausreichend gewesen. Nicht nur deswegen, weil es ohnehin gegen das Gesetz sprach, sondern weil es unter den TT ein allgemeiner Ehrenkodex war, niemals einen Menschen aus der vergangenen Welt zu killen, sofern es vermeidbar war.
Letztendlich atmeten einige hohe Herren in der vergangenen Welt erleichtert auf und verweigerten allen Zeitungsreportern jegliche Berichterstattung über diesen Vorfall am Hafen. Dass der Gangster nun tot war, darüber waren etliche Polizisten, Staatsanwälte und sonstige Herrschaften insgeheim erleichtert. Dieser ungeklärte Mord wurde vertuscht und mit Bugsy so manches dunkle Geheimnis begraben. Seine Ermordung erschien nicht einmal in der Tageszeitung. Die gefürchteten Dark Crows existierten ab sofort nicht mehr. Die Straßenviertels wurden unter den anderen Straßengangs aufgeteilt und einen gewissen Benjamin Glover, alias Bugsy, würde sowieso niemand vermissen und alsbald in Vergessenheit geraten. Doch die Jugendlichen aus seinem Viertel, die ihn vergötterten, vergaßen Bugsy nie. Die Jugend von damals behauptete, dass Bugsy wie Robin Hood war, der die Reichen ausgenommen und es unter den Armen verteilt hatte.
Ike berichtete seiner Ehefrau schließlich, dass Mr. Benjamin Glover in der Silvesternacht von Protestanten ermordet wurde, was damals keine Seltenheit war und sie es mit Schrecken aufgefasst hatte. Da nun Ike seinen verstorbenen Freund hochheilig versprochen hatte, sich um seine demenzkranke Mutter zu kümmern, nachdem die Flucht nach Amerika geglückt wäre, hielt er nichtsdestotrotz sein Versprechen.
Täglich besuchten Ike und Eloise seine Mutter und versuchten ihr zu erklären, dass ihr Sohn nun tot wäre. Eloise kümmerte sich um den Haushalt, wusch das Geschirr ab und räumte in der Wohnung auf. Und trotzdem kochte Mrs. Glover ständig zwei Mahlzeiten, für sich selbst und für ihren Sohn und fragte Ike jedes Mal, wann ihr guter Junge wieder von der Schiffsreise nach Hause kommen würde, davon Benjamin ihr letztens noch erzählt hatte.
Aber Ike zuckte immer nur mit der Schulter, wiederholte jeden Tag, dass ihr Sohn tot sei und aß seine zubereitete Mahlzeit auf. Und Mrs. Glover lächelte ihn daraufhin immer an, tätschelte sein Gesicht, küsste ihm auf die Stirn und dankte ihm vom Herzen, dass der HERR ihn geschickt hat, um ihren Sohn auf den rechten Weg zu leiten. Benjamins Mutter dankte ihm, dass er auf ihren Sohn aufpassen würde, denn ihr Ehemann, sein Vater, die starke Hand war wahrscheinlich bereits tot, erklärte Mrs. Glover ihm jeden Tag.
Exakt eine Woche später nach der Einäscherung von Benjamin hatte Mrs. Glover nicht mehr die Tür geöffnet, stattdessen roch es bereits im Hausflur verdächtig nach Gas. Als Ike die Haustür eintrat, fanden er und Eloise Mrs. Glover leblos auf dem Küchenboden liegen. Hustend öffneten sie rasch alle Fenster und die Balkontür im Zimmer ihres verstorbenen Sohnes. Aber es war zu spät. Die demenzkranke Frau hatte vermutlich vergessen, nach dem Kochen den Gasherd wieder abzustellen und war aufgrund dessen verendet.
Auf Bugsys Sarkophag und der seiner Mutter waren Gedenktafeln aus Messing befestigt worden, darauf ihre Todesdaten geschrieben standen. Auf dem Sandsteingesims des Mausoleums war eingemeißelt worden: Benjamin Walter Glover, Anno Domini 1890 – 31. December 1910. Helene Gabriella Glover, Anno Domini 1873 – 7. Januar 1911 R.I.P.
Ike wußte schließlich über die 20.000 Dollars bescheid, die unter seinem Bett versteckt waren. Er benutzte das Geld dafür, um ein Mauseleum für die Glovers zu errichten.
Nachdem das Mausoleum der Glovers im Herbst des Jahres 1911 auf dem Milltown Friedhof fertiggestellt wurde, besuchte Ike mit Eloise die vollendete Grabstätte. Vögel zwitscherten, die Sonne schien am wolkenlosen Himmel, als sie das Eisentor öffneten. Es knarrte wie ein Tor eines Schlosses. Licht verjagte die Dunkelheit und zwei Granitsarkophage erschienen wie aus dem Nichts. Eloise und Ike bekreuzigten sich, knieten sich vor ihren Ruhestätten nieder und sprachen das Vater Unser. Eloise knickste vor ihren Sarkophagen als sie aufgestanden waren, legte einen Blumenstrauß jeweils auf ihre Ruhestätten nieder und zündete zwei Kerzen an.
„Mister Benjamin Glover war doch so nett und noch viel zu jung, um zu sterben. Sowie auch seine Mutter. Weshalb nur musste er von uns gehen?“, fragte sie Ike vorwurfsvoll, als müsste er die Antwort wissen.
Ike strich zärtlich über ihren Kopf, an ihrem kupferroten geflochtenen Zopf entlang, und drückte sie behutsam an seine Brust. Er atmete schwermütig auf und blickte starr vor sich hin.
„Keine Ahnung, Liebes. Aber ein Freund sagte einmal zu mir: Das Schicksal eines Menschen lässt sich nicht betrügen. Zuerst wusste ich nicht, was er damit meinte. Aber jetzt vielleicht schon. Denn was geschehen soll, geschieht. Und selbst wenn man die Zeit einfach zurückdrehen könnte, würde das Schicksal eines Menschen trotzdem unbarmherzig zuschlagen. Weil der Herrgott es so bestimmt hat und es seine Richtigkeit hat. Aber wir Menschen können Gottes Entscheidungen oftmals nicht verstehen.“
Eloise senkte traurig ihren Kopf und nickte. Seine Antwort genügte ihr.