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"Unter Tage" - Der Stollenkrieg

Romane/Serien · Erinnerungen
Tagebucheintrag 18. Juni:
Das Beste am Beruf eines Erzminenarbeiters ist, dass er nie für eine Fehlentscheidung zur Verantwortung herangezogen werden kann. Vielleicht war ich auch deshalb dazu gekommen, die Hälfte meines Alltages unter Tage zu verbringen und von morgens bis abends das zu tun, was ein Minenarbeiter eben so tun muss: Pünktlich am Eingang eintreffen, die Arbeitskleidung aus dem Spint holen, sich umziehen und sich mit den Kollegen im Aufzug treffen, der sich seinen zweiminütigen Weg in die Tiefe bahnt und dessen Zahnräder dabei etwa in der Mitte der Strecke eine Schwelle passieren: tack, tack, tack, tack - viermal.
Anschließend geht es über den Ausrüstungsraum an den Arbeitsplatz im Stollen, man greift zum Werkzeug und - arbeitet eben bis zum Abend.
Das war im Grunde das, was mein Leben, äußerlich gesehen, ausmachte - bis gestern. Aber um zu begreifen, warum der gestrige Tag mein Leben gänzlich verändert hat, muss man zunächst einmal wissen, wie es in der Zeit davor ausgesehen hat.
Meine Mutter hatte immer gesagt, ich würde den halben Tag verträumen, ohne dass ich dabei irgendetwas in dieser Welt bewirken würde, und aus ihrer Sicht stimmte das auch. Doch im Grunde lebte ich lediglich in einer anderen Welt - einer Fantasiewelt. Dort erlebte ich mit Sicherheit weitaus mehr als alle anderen zusammen. Nur erfuhren sie es nie. Es war eine Welt voller Abenteuer, in der man aber nichts verlieren, sondern jeden Tag von Neuem anfangen konnte. Wahrscheinlich liebte ich sie deshalb so sehr und freute mich jeden Morgen, wenn der Wecker mich in einen neuen Tag rief. Ein grauer Tag wie jeder andere - von außen betrachtet. Ein Tag großer Ereignisse - aus meiner Sicht... einer trügerischen Sicht...
Fortsetzung folgt...


8. Juni 2014 - 16:05 Uhr
Firmenzentrale der Foreman Mining Company Orlando, Florida

„Wäre es nicht auch einmal an der Zeit, dass wir den Arbeitern entgegenkommen, Mister Foreman?“
Dawson stand mit stocksteifer Körperhaltung vor dem Schreibtisch des Bosses, der in fast schon penetranter Ruhe seinen Tee umrührte. Dabei verzog er nicht mal ansatzweise sein mit grauem Bart gespicktes, fünfundsechzig Jahre altes Gesicht. Erst nach einer langen Pause antwortete Foreman:
„Wissen Sie, Dawson, ich schätze Ihr Engagement. Sie tun nichts anderes als Ihren Job. Ich kann es Ihnen nicht verübeln, wenn Sie die theatralischen Aufschreie der Arbeiterschaft, die Ihnen Mister Finley diktiert, weitergeben. Aber dass ich auf diese zeitraubenden Unverschämtheiten nicht eingehe, ist Ihnen hoffentlich auch klar.“
Dawson schämte sich, weil er spürte, wie genau Foreman die Situation erfasst hatte. Und er wusste auch, dass Foreman seine Motive kannte. Ihm ging es natürlich nicht um eine Gehaltserhöhung für die Arbeiter der John-Locke-Erzmine, sondern darum, dass Foreman ihn für einen fähigen Mann mit Rückgrat hielt, dem man auch größere Aufgaben überantworten konnte. Es kümmerte ihn dabei wenig, dass die Arbeiter mit ihren neunhundert Dollar pro Monat am Existenzminimum kratzten und der harte zwölf-Stunden-Tag die Grenzen des Gesetzes deutlich überschritt. In Zeiten der politischen Depression in der zerstrittenen Welt hatte die Regierung eben andere Sorgen als die Arbeitszustände, die in einer der noch dazu ertragreichsten Firmen des Staates herrschten. Seit Beginn des Wettrüstens der großen Nationen vor zehn Jahren war jedes Erzvorkommen so viel Wert wie hundert Goldminen. Und die Firmen, die sie besaßen, hatten so viel Kontrolle wie zehn Regierungen.
Foreman war damals einer der Glückspelze gewesen, die vom wirtschaftlichen Aufschwung der Erzindustrie profitierten. Es war der Lohn für die harte Arbeit, die er für den Aufbau seiner Existenz investiert hatte. Sicherlich spielte auch sein ausgeprägter Spürsinn für den günstigsten Umgang mit seinen Mitmenschen eine entscheidende Rolle, dass aus seiner einzelnen kleinen Mine inzwischen einundzwanzig werden konnten. Und es würden noch mehr werden, wenn die übrig gebliebenen Mitbewerber es nicht schafften, sein außergewöhnlich brüderliches Verhältnis zum Staat zu brechen. Er würde sie alle Stück für Stück schlucken und dabei noch nicht einmal lange kauen müssen.
„Sie wollen sich also auf keine Verhandlungen mit dem Arbeiterverband einlassen.“
„Ich kenne keinen Arbeiterverband. Ich kenne nur einen Haufen armseliger Männer, denen ich die Gnade erweise, in meiner Mine zu arbeiten, damit sie nicht wie dreißig Prozent der Bevölkerung arbeitslos auf der Straße landen. Haben Sie sonst noch ein Anliegen, Dawson? Wenn nicht, dann würde ich Sie bitten, mich weiter an meinen Steuerunterlagen arbeiten zu lassen.“
„Äh,... natürlich, Mister Foreman. Ich werde Mister Finley mitteilen, dass sein Antrag abgelehnt wurde.“ Damit nickte er dem Chef zu, der bereits über seine Unterlagen gebeugt war und nur noch ein kaltes „Auf Wiedersehen, Mister Dawson“ verlauten ließ.
„Auf Wiedersehen, Mister Foreman.“ Er drehte sich um und verließ das Büro.
Hoffentlich hatte sein bescheidener Auftritt seiner Karriere nicht allzusehr geschadet. Aber eigentlich kam außer ihm niemand für die Nachfolge als Verwalter der John-Locke-Mine in Frage.


10. Juni 2014 - 7:00 Uhr
Eingangsbereich der John-Locke-Mine Clayton, Idaho

Wie jeden Tag passierte Max Truman die Eingangskontrolle, indem er seine Identitätskarte durch den Scanner schob, öffnete danach die Tür zur Umkleidekabine und setzte sich an seinen Platz in der Ecke ganz rechts. Dann zog er sich die Schuhe aus, anschließend seine restliche Alltagskleidung. In der weißen Unterhose ging er zum Spint Nummer vierzehn, holte die Arbeitskleidung heraus und legte sie ohne große Hektik an. Zwei Minuten später stand er auch schon in der Mitte des bisher halb besetzten Personenaufzuges.
Seine Gedanken waren bereits seit dem Klingeln des Weckers mitten in einer idyllischen Märchenstadt, die er als erster Mensch entdeckt hatte und nun Meter für Meter erforschte.
Der Aufzug füllte sich in den nächsten Minuten vollends mit den dreiundzwanzig behelmten Arbeitern, Max erwiderte das allseitige „Morgen!“ geistesabwesend und lebte zugleich seine Geschichte weiter.
Um 7.18 Uhr setzte sich der Aufzug in Bewegung und rauschte wie immer mit leichten Vibrationen in die Tiefe. Etwa in der Mitte pochte es laut: tack, tack, tack, tack - viermal. Dann arbeitete sich der Aufzug die letzten Meter hinunter und kam knapp über dem Boden des Schachtes zum Stehen, um sich seiner Passagiere zu entledigen und die nächste Fuhre abholen zu können.
Es war einer von zwei Aufzügen in der Locke-Mine. Für jede der beiden Haupthallen A und B gab es einen. Von den Hallen aus gruben sich dann jeweils etwa ein halbes Dutzend einzelner Stollenabschnitte in das Bergmassiv, in deren Gänge das Erz abgebaut und über das Schienensystem in die Haupthalle und von dort nach oben ans Tageslicht transportiert wurde. Über zweihundertdreißig Arbeiter und mehr als vierzig Aufseher und sonstige Sicherheitskräfte und Techniker waren in den Stollen beschäftigt.
Max spazierte mit den anderen Arbeitern aus seinem Team wie gewohnt in Richtung Ausrüstungsraum, der sich ebenfalls in der Haupthalle befand und dessen breite Glasfenster von allen Seiten einen guten Ein- aber auch Ausblick boten.
„Sag mal, Max, was hast du eigentlich heute Abend vor?“, sprach ihn Tom mit einladender Stimme an.
„Wieso fragst du?“
„Nun, könnte ja sein, dass du Interesse daran hast, nach der Arbeit mit einigen von uns in einer gemütlichen Runde zusammenzusitzen.“
„Wer ist 'einige'?“
„Diejenigen, denen daran liegt, dass die Gemeinschaft im Team sich etwas verbessert.“
„Wir sind zwölf Stunden am Tag zusammen. Reicht das nicht?“
„Allerdings. Und genau das ist der Punkt. Wir arbeiten täglich zwölf Stunden unter unmenschlichen Bedingungen zu einem lächerlichen Lohn. Der große Foreman hat unseren Antrag auf die überfällige Gehaltserhöhung abgelehnt. Wie können wir das noch länger hinnehmen? Wenn der Boss sich querstellt, dann müssen wir eben ein bisschen nachhelfen.“
„Ihr plant einen Streik?“
„Mal sehen. Irgendetwas. Es kommt darauf an, wie viele von uns den Mut haben, für etwas mehr Gerechtigkeit aufzustehen. Also, bist du dabei?“
„Eigentlich kann ich heute Abend nicht. Tut mir leid.“
„Du willst also nicht, dass sich etwas ändert. Schade.“
„Man kann nicht immer alles ändern. Ich halte es für sinnvoller, zu lernen, mit einer schwierigen Situation umzugehen und sie zu akzeptieren. Das macht einen weitaus zufriedener als immer nur zu wollen.“
„Wenn ich gewusst hätte, dass du ein Reaktionär bist, hätte ich dich nicht fragen brauchen. Ich wünsche dir noch viel Spaß bei deiner Arbeit!“ Tom wandte sich von ihm ab und ging zu einem anderen Arbeiter. Max dachte wieder an seine Märchenstadt. Sie war einfach zu aufregend...
Die dreiundzwanzig Arbeiter des Stollens B6 versammelten sich im Ausrüstungsraum halbkreisförmig um den stämmigen Schwarzen in der Aufseheruniform. Mike Finley rückte sich den etwas zu locker sitzenden Helm zurecht und schaute den Arbeitern motivierend ins Gesicht.
„Tja, Jungs, es geht wieder los. Wir wollen bis nächste Woche den Durchbruch zu Stollen B5 schaffen. Also müssen wir uns ranhalten. Schließlich wollen wir es sein, die die Grenzlinie überschreiten, oder?“
Eine Welle lautstarker Zustimmung mit erhobenen Fäusten schwappte ihm entgegen.
„Wir werden es den Jungs vom B5-Team schon beibringen. Ihr seid die Besten und das wisst ihr!“
Der Jubel wurde lauter. Finley lächelte sie an. Sie wussten, dass auch er der Beste war. Keiner sonst schaffte es, die Arbeiter nach einer derartigen Enttäuschung, wie sie sie nach der Antragsablehnung erlebt hatten, so schnell wieder zu motivieren. Und da er als stellvertretender Verwalter der Mine der Wortführer der Protestbewegung war, hatten sie zu ihm ein weit angenehmeres Verhältnis als jedes andere Team zu seinem Aufseher. Jedenfalls hatte er bislang weder seinen Elektroschocker, noch seine Beretta, mit der jeder Aufseher ausgerüstet war, benutzen müssen. Und niemand vermutete, dass dies je einmal der Fall sein würde.
Nachdem er das Briefing beendet hatte, trat Finley in den Kontrollraum, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Die Jungs holten ihre Werkzeuge aus den Schränken und begaben sich, jeder an seinem Platz, in die dunklen Stollen, um mit der Arbeit zu beginnen.


12. Juni 2014 - 13:39 Uhr
Firmenzentrale der Foreman Mining Company Orlando, Florida

Mit zitternder Hand klopfte Dawson vorsichtig an die Bürotür. Schon jetzt rannen die ersten Schweißtropfen unter seinem Haaransatz hervor. Schnell wischte er sie hinweg, ehe die Tür sich vor ihm aufschob. Langsam und mit dem Versuch eines Lächelns im Gesicht trat er ein und blieb in sicherem Abstand vor dem Schreibtisch des Chefs stehen. Die Tür schloss sich wieder.
„Was ist diesmal mit der John-Locke-Mine nicht in Ordnung, Mister Dawson?“, begann Foreman, ohne zu ihm aufzusehen.
„Ich, ähm... woher wussten Sie?“
„Immer wenn Sie Ihre Hände über dem Rücken zusammenschlagen und die Finger herumkneten, ist etwas mit Ihrer Lieblingsmine los. Dabei haben Sie gar keinen Grund, sich Sorgen zu machen.“ Er blickte endlich auf. „Ich habe bereits im Kommitee meinen Willen geäußert, dass ich Sie gerne zum Nachfolger des alten Mitchell machen werde, wenn er die Verwaltung der Locke-Mine abgibt.“
Dawson setzte ein verunsichertes aber überwältigtes Grinsen auf. „Aber Mister Foreman, das ist ja,... ich weiß gar nicht...“
„Geben Sie sich keine Mühe. Sie wussten doch genau, dass niemand anderes für den Job in Frage kam. Also machen Sie's halblang und erzählen mir lieber, was es in der Locke-Mine Neues gibt.“
„Ich... nun, ähm... es gab da einen Zwischenfall. Aber nicht so schlimm, wie Sie jetzt vielleicht denken...“
„Was ist passiert? Ich habe nicht ewig Zeit.“ Er tippte mit Sorgenfalten auf der Stirn einige Daten in den Laptop auf seinem Tisch ein.
„Einer der Aufseher. Er hat einen Arm verloren. Er ist... in die... Fräse gekommen.“
„Und wie kommt der Arm eines Aufsehers in die Fräse?“
„Nun, man glaubt, dass vielleicht einer der Arbeiter ihn...“
„Wer ist 'man'?“
„Mister Finley.“
„Ausgerechnet Finley, der große Kämpfer für die Unterdrückten?“
„Er sagte, in der Mine herrsche eine äußerst depressive Stimmung aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen. Da kann es schnell passieren, dass die Arbeiter ausrasten, wenn sie zu hart rangenommen werden.“
„Nicht nur die Arbeiter. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass man den Aufsehern mal wieder eine Art Standortbestimmung vermittelt, damit sie sich von dieser 'depressiven Stimmung' beeindrucken lassen. Nicht wahr, Dawson?“, damit blickte er von seinem Bildschirm auf und setzte Dawson einem herausfordernden Blick aus.
„Ganz recht, das glaube ich auch, Mister Foreman.“
„Gut. Und was schlagen Sie vor?“
Foreman wandte sich wieder seinem Laptop zu, ließ Dawson aber seine Erwartungshaltung deutlich spüren. Dawson holte seine Hände hinter dem Rücken hervor, um damit vor seinem Gesicht ungewöhnliche Figuren zu formen, während er nachgrübelte.
„Nun... vielleicht wäre es an der Zeit, dass...“, Foreman blickte wieder zu ihm auf, „Sie ein Zeichen setzen und selbst einmal in Erscheinung treten.“
„Konkretisieren Sie das.“
„Ich meine, es gibt wohl niemand Geeigneteren, der die Leute motivieren kann, als Sie selbst. Deshalb wäre es mein Vorschlag, dass Sie der Mine und ihren Mitarbeitern einen kleinen Besuch abstatten.“
Erstmals machte Foreman für kurze Zeit ein nachdenkliches Gesicht. „Das ist ein gewagter Vorschlag.“ Er machte eine kurze Pause. „Wer garantiert mir, dass mir die Arbeiter nicht mit ihren schmutzigen Bohrmaschinen den Schädel einschlagen?“
„Natürlich werden wir entsprechende Maßnahmen ergreifen, die für Ihre Sicherheit garantieren werden.“
„Wissen Sie, eigentlich ist mir meine Zeit für dererlei Abenteur zu schade. Aber andererseits möchte ich nicht, dass sich solche Vorfälle wie der mit dem Aufseher wiederholen und irgendetwas an die Öffentlichkeit gelangt. Wenn nur einer dieser neugierigen Journalisten, die für eine noch so kleine Information ihren Kopf sogar in die Scheiße stecken würden, sich für die Mine interessiert, könnten wir einen Medienkrieg an den Hals kriegen, der uns momentan gerade noch gefehlt hat. Also gut. Organisieren Sie einen Besuch in fünf Tagen. Ich möchte zuerst in einem separaten Raum eine kleine Konferenz mit den Sicherheitskräften, inklusive der Aufseher abhalten. Danach werde ich ein paar Worte an die Arbeiterschaft richten. Das Ganze nicht länger als eine halbe Stunde. Ich habe an diesem Tag noch eine Golfpartie mit dem Außenminister.“
„Ist gut, Mister Foreman. Ich werde alles so organisieren.“
„Schön, dann machen Sie, dass Sie rauskommen, sonst überlege ich mir das mit Ihrer Beförderung noch einmal.“
„Jawohl, Mister Foreman. Auf Wiedersehen, Mister Foreman.“ Er drehte sich um und schritt zum Ausgang.
„Ach, Mister Dawson?“
„Mister Foreman?“
„Das mit den Bohrmaschinen habe ich ernst gemeint. Wenn auch nur einer von diesen schmutzigen Kerlen in Verdacht steht, sich über seine Anweisungen hinwegsetzen und seine kleine Privatvorstellung inszenieren zu wollen, können Sie ihn hinstecken, wohin sie wollen, aber auf der Veranstaltung hat er nichts verloren, verstanden? Am besten machen Sie den Männern von Anfang an klar, dass Zwischenrufer bei mir noch nie eine besonders lange Laufbahn hatten.“
„Aber selbstverständlich, Mister Foreman. Die Arbeiter werden Ihnen wie Lämmchen zuhören. Verlassen Sie sich drauf!“


17. Juni 2014 - 7:01 Uhr
Eingangsbereich der John-Locke-Mine Clayton, Idaho

Der Scanner surrte, Max nahm die Codekarte wieder zu sich und begab sich dann in den Umkleideraum. Der Platz in der rechten Ecke war heute besetzt. Er musste sich einen anderen suchen, um sich umzuziehen.
Er war bereits seit dem Aufstehen heute Morgen in eine bedrohliche Gebirgswelt mit hohen Schluchten und reißenden Flüssen eingetaucht. Sein großes Abenteuer nahm seinen Lauf.
Nach dem Umziehen schritt er zum Aufzug und wartete mit den anderen, bis er sich gefüllt und in Bewegung gesetzt hatte. Bei der Hälfte der Strecke passierte er die Schwelle: tack, tack, tack - dreimal. Max runzelte kurz die Stirn, aber dachte nicht länger darüber nach, sondern versank wieder in seiner gefährlichen Schlucht.
Der Trupp mit den zweiundzwanzig Arbeitern stieg aus dem Aufzug und versammelte sich zum Briefing im Ausrüstungsraum B.
„Jungs, wir haben heute einen besonderen Tag vor uns“, begann Finley. „Aus Sicherheitsgründen habe ich die Anweisung bekommen, es euch erst heute mitzuteilen. Wir bekommen Besuch.“ Er blickte in die überraschten und zugleich gespannten Gesichter. „Der Chef persönlich, Richard Foreman wird uns heute aufsuchen, um seine persönliche Verbundenheit mit dieser Mine zum Ausdruck zu bringen.“
„Foreman hat sich Jahre lang nicht um uns gekümmert. Was will der hier?“, sagte einer der Arbeiter.
„Will er uns auf die Finger schauen? Vielleicht sind ihm ja unsere Löhne zu hoch.“ Ein vergnügtes Lachen brach aus.
„Wahrscheinlich will er uns mit einer seiner perfekt ausgefeilten Heuchlerreden zutexten?“, kam es von anderswo.
„Nun, ich verstehe euren Unmut über Mister Foreman. Ihr schuldet ihm nicht gerade besonderen Dank oder Anerkennung. Aber dass er uns heute mit seiner Anwesenheit beehren will, sollten wir als Chance sehen. Ich werde als stellvertretender Leiter der Mine sicher die Möglichkeit haben, mit ihm direkt ins Gespräch zu kommen. Vielleicht kann ich da was für euch rausschlagen.“
„Dieser Mann ist unmenschlicher als jeder Erzbrocken, den wir für ihn aus der Erde popeln. Seine Ohren sind taub für jedes gut gemeinte Wort. Bei dem hilft nur Druck. Druck, wie er ihn noch nie erlebt hat!“
Die übrigen Arbeiter unterstützten ihn mit einem deutlichen Nicken und Ausrufen der Zustimmung.
„Leute, denkt gut darüber nach, was ihr tut. Wollt ihr all das, wofür wir nun seit Jahren kämpfen, riskieren, indem ihr euch nicht nur den Boss, sondern die ganze Öffentlichkeit durch einen sinnlosen Aufstand zum Feind macht?“
„Erstens hat Foreman bisher immer bestens dafür gesorgt, dass die Öffentlichkeit keine Ahnung davon hat, was hier unten abgeht und zweitens hat sich in dieser Welt bisher nie etwas geändert, bevor irgendjemand aufgestanden ist und gehandelt hat“, brüllte jemand aus den hinteren Reihen.
„Das haben wir ja gesehen. Ich habe zwar keine Ahnung, wer Travis vor letzte Woche in die Fräse geschuckt hat. Aber auf jeden Fall weiß ich, dass diese Heldentat nicht im Geringsten Wirkung erzielt hat. Im Gegenteil. Foreman hat wegen des Vorfalls die Sicherheitskräfte zu einer Sondersitzung einberufen, bevor er seine Rede halten wird, um die Disziplin hier unten wieder zu straffen. Ihr habt es ganz alleine zu verschulden, dass das Verhältnis zwischen Aufsehern und Arbeitern, das sich in den letzten Jahren so verbessert hat, wieder untergraben wird, weil ihr eure Vernunft gegen euren Groll ausgespielt habt. Macht nur weiter so!“
In der Menge wurde es ruhig. Was sollten sie noch sagen?
„Hört zu, Jungs. Es ist noch lange nichts verloren. Was mit euch gemacht wird, ist eine große Ungerechtigkeit und die werden wir nicht hinnehmen. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir jetzt überreagieren, weil sich die Gelegenheit bietet. Es ist wichtig, dass wir Foreman wie echte Männer begegnen: mit Anstand, Würde und Souveränität. Wir dürfen ihn nicht zu unserem Feind machen, sondern müssen seine Gunst gewinnen. Also versucht euch zusammenzureißen! Macht eure Arbeit wie jeden Tag und wenn er dann vor euch tritt, hört ihm geduldig zu, als würde euch jedes seiner Worte zutiefst berühren. Den Rest überlasst mir!“
Er hielt inne und schaute erleichtert in die zufriedengestellten Gesichter. Jeder Anflug von Übereifer war geschwunden, er hatte sie vielleicht vor einer großen Dummheit bewahrt.
„Ich werde während der Konferenz der Sicherheitskräfte übrigens bei euch hier drüben bleiben und Wache schieben. Ein Minimalaufgebot an Aufsehern muss schließlich anwesend sein und aufpassen. Ich habe mich freiwillig für die Schicht entschieden. Schließlich möchte ich mir den Alten nicht länger antun als unbedingt nötig.“ Ein verhaltenes Lachen der Menge wehte ihm entgegen. „Gut, wenn es keine weiteren Einwände mehr gibt, dann schlage ich vor, dass wir uns endlich an die Arbeit machen.“
Motiviert griffen die Männer zu den Geräten und marschierten in die Stollen.
Max interessierte das angekündigte Ereignis wenig. Er arbeitete wie jeden Tag. Mit einem Hydraulikbohrmeisel entfernte er bis in den Mittag hinein Felsvorsprünge, die den Gang versperrten, dessen Ende bald durchbrochen werden und in den B5-Stollen führen sollte. Als er endlich die letzten großen Brocken entfernt hatte, dachte er auch nicht daran, dass seit fünf Minuten im Konferenzraum die Sitzung der Sicherheitskräfte mit Richard Foreman begonnen hatte. Dazu war sein Abenteuer in der Schlucht viel zu aufregend, in dem er sich noch immer befand.
Er hämmerte ein letztes spitzes Stück Stein aus der Wand, dann legte er den Meisel ab und ging zur Lastzugschiene, die in den Stollenabschnitt führte, in dem er momentan mutterseelenallein arbeitete. Er musste den Zug herbeibeordern, um den ganzen Schutt dort aufladen und danach abtransportieren zu können.
Lässig drückte er auf den grünen Knopf auf dem Kontrollpad neben der Schienenstrecke, der den Zug herbeirief. Dann wartete er die üblichen Sekunden, bis das System die Bestätigung gab, dass der Zug unterwegs war.
Max merkte kaum, dass es länger dauerte als gewöhnlich. Erst nach einer halben Minute blickte er ungläubig auf das Kontrollpad. Ein rotes Lämpchen begann aufzublinken, begleitet von einem schrillen Krächzen. Max grunste und schüttelte den Kopf. Das war ihm noch nie passiert. Normalerweise waren die Züge immer bestens organisiert, sodass sie in allen Stollenbereichen angefordert werden konnten. Irgendetwas stimmte nicht. Verunsichert blieb er wie angewurzelt vor dem Kontrollpad stehen.
In seiner Traumwelt war er gerade dabei, mit einem Schlauchboot die reißende Strömung zwischen den Felswänden hinunterzudonnern. Plötzlich tauchte ein riesiger Steinbrocken direkt vor ihm auf. Mit Hochgeschwindigkeit schoss sein Boot darauf zu. Er würde es nicht mehr vom Kurs ablenken können. Entsetzt riss er den Mund auf und war Im Begriff, kurz vor dem Aufprall zu aufzuschreien, als ihn die Frauenstimme aus dem Computersystem augenblicklich wieder in die Realwelt rief. „Für diesen Streckenabschnitt ist leider kein Lastzug in Bereitschaft. Er wurde umgeleitet.“
Sein Blick erstarrte. Doch so sehr er es auch versuchte, er schaffte es nicht mehr, sich auf seine Fanatsiewelt zu konzentrieren. Es war das erste Mal, dass es zu einer solchen unvorhergesehenen Situation kam. Er blieb noch eine Weile stehen, dann setzte er sich verärgert in Bewegung. Die einzige Möglichkeit, um normal weiterarbeiten zu können, war, dass er sich auf den Weg zur Kontrollstation machte, den Zug dort wieder in seinen Bereich umleitete und dann zurück zu seinem Arbeitsplatz ging.
Ein Aufseher würde sicherlich an der Kontrollstation postiert sein und ihm weiterhelfen. Trotzdem fühlte er sich sehr verunsichert.
Mit zügigen Schritten erreichte er die Haupthalle B und begab sich zum langen Seitentunnel, in dem die Kontrollstation positioniert war. Niemand war anwesend. Langsam näherte er sich der Installation. Als er angekommen war, schaute er sich noch einmal um, konnte aber niemanden ausmachen. Die zahlreichen Schalter und Knöpfe machten ihm Angst. Hier würde er alleine nichts ausrichten können. Was nun?
Er drehte sich um und wollte nach einem Aufseher schauen, als er beinahe stolperte. Er blickte zu Boden. Ein Helm lag lose vor ihm. Vorsichtig bückte er sich und hob ihn auf. Mit ungläubigem Blick inspizierte er den Fund und erschrak, als er den großen Blutfleck am hinteren Teil des Helmes entdeckte. Max wurde kreidebleich. Sein Herz begann aufdringlich zu pulsieren. Das war keine Fantasiegeschichte mehr. Keine Geschichte, bei der er es immer wieder einen Neuanfang gab.
Er war versucht, den Helm fallen zu lassen und zurück in seinen Stollenabschnitt zu rennen. Jemand anderes würde das Indiz bald entdecken und Max würde mit der Sache nichts zu tun haben. Er würde wie jeden Abend pünktlich um 19:00 Uhr umgezogen sein und die John-Locke-Mine Richtung Heimat verlassen. Nichts Ungewöhnliches wäre passiert.
Aber konnte er das? Konnte er sich noch raushalten? Konnte er sich wieder in seine eigene Welt zurückziehen und die hiesige völlig vergessen? Es war das erste Mal, dass Max über so etwas nachdachte. Wenn er jetzt handelte, dann, das wusste er, wäre sein Leben nicht mehr dasselbe. Er hätte etwas verändert. Und was würde es ihn kosten? Seine Zufriedenheit, seine Sicherheit, vielleicht sein Leben? Er wusste nicht, was hier passiert war und vielleicht noch vor sich ging. Alles war möglich. Und es war echt.
Noch immer stand er regungslos da und wagte nicht, sich zu bewegen. Gleichmäßig atmete er aus und ein und überlegte.
Dann senkte er langsam den Kopf und blickte noch einmal auf den Helm. Er nickte und nuschelte hinzu: „Also gut.“ Er hob den Kopf wieder und schaute den Tunnel entlang. Dann setzten sich seine Glieder in Bewegung, wurden schneller und schneller und versetzten ihn in ein Tempo, das er nie zuvor in seinem Leben erreicht hatte. Die dunklen Wände rasten an ihm vorbei, als er sich dem Ausrüstungsraum in der Haupthalle näherte. Oftmals war er in Gefahr, bei den vielen Unebenheiten ins Stolpern zu geraten, doch seine Beine trugen ihn zuverlässig, bis er lautstark keuchend den Eingang zum Ausrüstungsraum erreicht hatte. Die Tür war offen, Max hielt sich erschöpft am Rahmen fest.
Finley saß an der Kontrollanalge und schaute dem Ankömmling entgeistert ins Gesicht.
„Was ist los? Warum sind Sie nicht bei Ihrer Arbeit?“
Max atmete noch immer angestrengt. Ohne ein Wort zu sagen hielt er den Helm hoch.
„Wo haben Sie den her?“, fragte der erschrockene Finley, der den Blutfleck sofort erkannte.
„Ich... er lag vor der Kontrollstation. Es niemand da.“
„Vor der Kontrollstation?“ Finley stand nervös auf und setzte sich sofort wieder. „Da müsste eigentlich Harrison Wache schieben.“ Schnell warf er einen Blick auf einen der zahlreichen Monitore, die ihm den Überblick über sämtliche Schauplätze im Stollensystem boten. „Tatsächlich, er ist verschwunden.“ Er machte eine kurze Pause. Dann schlug er mit der Faust auf das Pult. „Diese verfluchten Idioten! Ich habe ihnen gesagt, keine Kurzschlusshandlungen! Aber sie wollen es wohl nicht anders!“
„Sind Sie sicher, dass es einer der Arbeiter war?“, fragte Max vorsichtig, aber herausfordernd.
„Das lässt sich herausfinden.“ Finley setzte alle Überwachungsmonitore in Betrieb und begann die Arbeiter zu zählen, die er auf ihnen beobachten konnte. Sein Finger wanderte von einem Bildschirm zum anderen, bis er am letzten angekommen war. „...zwanzig, einundzwanzig,... zweiundzwanzig.“ Wieder folgte eine kurze Pause. „Einer fehlt“, murmelte er. „Sagen Sie, haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo Tom Wyler sich aufhält?“
„Ich glaube, er arbeitet normalerweise bei der Fräse.“
Schnell blickte Finley auf den entsprechenden Monitor und nickte dann. „Da haben wir's. Tom ist nicht dabei. Ich wusste es! Wenn sich jemand nicht im Zaum halten kann, dann ist er es, dieser unvernünftige Schwachkopf!“ Max wunderte sich, als Finley einen flüchtigen und in diesem Moment völlig unpassenden Blick auf seine Armbanduhr warf.
„Da war noch etwas, Mister Finley.“
„Ja?“
„Der Zug... er wurde irgendwie umgeleitet. Ich konnte ihn nicht herbeibeordern.“
„Hm, das ist seltsam. Aber das haben wir auch gleich.“ Mit schnellen Bewegungen tippte er einige Befehle in die Konsole ein und schaute dann auf den Hauptschirm, der die Übersicht des Schienensystems anzeigte. Finley starrte mit konzentriertem Blick darauf. Nach einer halben Ewigkeit entwich ihm ein leises, aber entsetztes „Oh mein Gott!“
„Was ist los?“, fragte Max und trat endlich ins Innere des Raumes, um sich selbst einen Überblick auf dem Bildschirm zu verschaffen.
„Jetzt weiß ich, was der Junge vorhat.“ Verstört deutete er auf eine Weiche, die den Zug auf eine lange Gerade im A-Flügel der Mine leitete, die in eine Sackgasse führte, hinter der sich eine gemauerte Wand befand.
„Er ist weitaus verrückter als ich je geahnt hätte. Er will es wirklich wissen.“
Max brauchte keine Erklärung mehr dafür, was das Schema auf dem Schirm verriet. Die Gerade führte den Lastzug von einer erhöhten Strecke eine Rampe hinab, die vor der Mauer in der Sackgasse endete - hinter der sich der kleine Konferenzraum befand, in dem momentan der Boss und die Sicherheitskräfte tagten...
„Aber das ist doch...“, brachte Max nur noch heraus.
„Der Zug befindet sich momentan noch in einem anderen Stollen. Tom hat ihn wahrscheinlich von einer Kontrollanalge aus auf Hochgeschwindigkeit programmiert und wird ihn in die Sackgasse schicken, sobald er frei ist. Wenn ich doch nur wüsste, wo er sich gerade aufhält. Von hier aus kann ich den Zug nicht stoppen.
Plötzlich schrie Max auf und deutete auf einen der Monitore. „Sehen Sie, der Zug beschleunigt und rast auf die Weiche zu!“
„Verdammt, der Konferenzraum muss sofort evakuiert werden!“, brüllte er hektisch und gab einige Befehle in die Konsole ein. Daraufhin schrillte eine laute Sirene auf, von einem blinkenden Rotlicht begleitet. Mit panischem Blick schrie Finley in das Mikrofon: „Achtung, Achtung, Konferenzsaal sofort evakuieren, Konferenzsaal sofort evakuieren! Ein Zug rast mit Hochgeschwindigkeit auf Sie zu! Verlassen Sie augenblicklich den Raum...“


17. Juni 2014 - 12:57 Uhr
Konferenzraum der John-Locke-Mine Clayton, Idaho

„...verlassen Sie augenblicklich den Raum! Dies ist keine Übung!“ Einige Sicherheitsmänner waren sofort aufgesprungen und hatten die Tür aufgerissen.
„Was ist hier los?“, brach es aus Foreman heraus, der mit ungewohnt entsetztem Blick am Ende des Tisches aufstand.
„Ich habe keine Ahnung, Mister Foreman“, antwortete der Minenverwalter Mitchell, der neben Foreman saß.
„Wir müssen raus hier, so schnell es geht“, schrie ein Beamter, der am Ausgang stand und die aufgebrachten Leute herbeiwinkte.
Ein kleiner Trupp der Soldaten, die Foreman ständig begleiteten, ergriffen ihren Boss und spurteten mit ihm zum Ausgang, während die panischen Konferenzteilnehmer begannen, sich an der schmalen Tür zu drängen. Manche wurden zu Boden gestoßen und kamen unter die Füße ihrer hektischen Kollegen, andere schafften es, sich mit ihrem Ellenbogen voranzuarbeiten.
Die Soldatengruppe, die um Foreman einen geschlossenen Ring bildete, streckte die Kolben ihrer Maschinengewehre aus und stieß sich damit eine Schneiße durch die Menge. Die verängstigten Ausrufe wurden lauter und hysterischer, sodass das dumpfe Grollen, das plötzlich von Seiten der gemauerten Vorderwand zu hören war, kaum bemerkt wurde.
Einer der Soldaten schwang seinen Gewehrkolben und ließ ihn auf dem Hinterkopf eines in Anzug gekleideten Dränglers auftreffen, der sofort zu Boden sackte. Foreman blickte kurz zu ihm hinunter: er erkannte sofort den vornehmen Anzug und den kurzen Haarschnitt, der nur zu Dawson gehören konnte.
Das Grollen wurde immer lauter und bedrohlicher.
Endlich hatten sie den Ausgang erreicht und wurden vom Sog der Leute in die Freiheit des Korridors gezogen. Dann folgte der Trupp dem eilenden Strom durch den schmalen Gang in Richtung Haupthalle A.
Jetzt wurde das Grollen ohrenbetäubend. Foreman blieb kurz stehen und schaute zurück. Noch etwa ein Drittel der Leute befand sich im Innern des Konferenzsaals und würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen, dem Einschlag zu entgehen.
In dem Augenblick, in dem die Soldaten ihn drängten, weiter zu gehen, passierte es: mit einem lauten Donnern wurde die dicke Steinmauer von einem wuchtigen Stahlwaggon durchbrochen, der sich seinen Weg durch den gesamten Konferenzraum bahnte, dabei alles - inklusive dem schweren Holztisch - mitriss und seine Höllenfahrt erst mit einem krachenden Aufprall auf der gegenüberliegenden Wand beendete. Sofort wurde der gesamte Raum von dichtem Rauch eingehüllt und ließ den Betrachter durch das laute Getöse nur erahnen, wie ein Steinbrocken nach dem anderen von der Decke und den Wänden herunterbrach und in zerstörerischer Wucht alles unter sich begrub, was sich in dem Raum befand.
Das Grollen nahm kein Ende, als die Rauchschwaden aus dem Ausgang hervorquollen und die letzten Fliehenden, die mit panischen Schreien aus dem Raum in den Gang stürmten, für kurze Zeit verschwinden ließen.
Foreman und seine Beschützer hechteten um die letzte Biegung und warfen sich erschöpft auf den harten Steinboden der Haupthalle A, wo sich alle Überlebenden eingefunden hatten.
Da saßen sie. Keiner redete ein Wort, während sie noch die letzten Geräusche der Mauereinstürze im Hintergrund vernahmen. Alle röchelten lautstark mit ungläubigem Blick, manche waren am ganzen Körper mit weißem Staub bedeckt.
Erst nach wenigen Minuten standen die Ersten auf und begannen, verletzten Kollegen zu helfen, eine Gruppe Sanitäter kam aus dem Aufzug herbeigeeilt und versorgte die Schwerverletzten, die entweder in der panischen Menge starke Prellungen erlitten hatten oder noch von einem der herumgeschleuderten Gegenstände getroffen worden war. Ein paar der Sicherheitsmänner begannen, mit Mundschutz den verrauchten Korridor, durch den sie geflüchtet waren, zu inspizieren, um mögliche Überlebende zu finden.
Foreman saß noch immer wie betäubt auf dem Boden und beobachtete das hektische Treiben mit verbittertem Blick. „Also gut“, murmelte er, „ihr wollt Krieg - ihr sollt ihn haben.“
Er hatte weder Dawson noch Mitchell unter den Überlebenden entdecken können. Beiden mussten sie entweder von dem hereindonnernden Zug oder spätestens von den herabstürzenden Steinbrocken erwischt worden sein. Eben noch hatten sie friedlich beisammen gesessen und diskutiert plötzlich... Nein, das passierte nicht wirklich! Er versuchte sich immer wieder einzureden, dass er sich in einem Traum, einer bösen Inszenierung befand. Aber sein schmerzender Arm erinnerte ihn daran, dass alles der Realität entsprach.
„Ist alles in Ordnung, Mister Foreman?“ Er drehte sich um. Es war Jefferson, der Anführer seiner Leibwache, die mit über dreißig Mann vertreten war. Foreman nickte.
„Das heißt: nein, es ist noch nicht alles in Ordnung. Es hat erst angefangen, Jefferson.“
„Was meinen Sie damit?“
„Die Gefahr ist erst dann beseitigt, wenn die Verursacher eliminiert sind. Haben Sie das verstanden?“
„Ich glaube schon.“ Der stämmige Soldat schaute ihn noch immer skeptisch an.
„Dann ergreifen Sie die nötigen Maßnahmen, Jefferson. Ich will keinen von ihnen lebend zurückkommen sehen, verstehen Sie?“
„Mister Foreman?“
„Keinen einzigen. Die schmutzigen Grubenwürmer haben uns herausgefordert, wir nehmen die Herausforderung an. Ich habe mir immer eines geschworen: Ich werde lieber sterben als bei einer Revolution nachzugeben. Ein Aufstand ist das absolut Verachtenswerteste, Jefferson. Und deshalb werden wir ihn niederschlagen. Haben Sie mich verstanden?“
„Ja, Mister Foreman.“
„Wir sind nicht die Bösen. Sie haben uns das Recht zur Gewalt gegeben. Sie wollen ein einziges Mal wichtig sein und keine armseligen Herumkriecher, die sich im Dreck wühlen. Das sollen sie gerne bekommen... Versammeln Sie alle kampffähigen Männer und rüsten Sie sie aus! Der Aufstand wird schneller vorbei sein als dieser Pöbel denken kann. Ach ja, melden Sie Mister Finley, dass er augenblicklich hier oben erscheinen soll. Er ist jetzt neuer Minenverwalter. Er darf nicht länger in der Gegenwart der Arbeiter sein, sonst verlieren wir ihn auch noch. Er kennt sich in diesen Gängen am besten aus. Ich möchte, dass er Ihnen bei der Koordination unseres Gegenschlags behilflich ist.“
„In Ordung, ich werde eine Kampftruppe zusammenstellen. Wir sollten uns aber in einen der Seitenstollen zurückziehen, um vor möglichen Frontalangriffen geschützt zu sein.“
„Ist gut, Jefferson. Ergreifen Sie die Maßnahmen, die Sie für nötig halten. Ich will sie bluten sehen, verstanden?“


17. Juni 2014 - 13:11 Uhr
Kontrollraum B der John-Locke-Mine Clayton, Idaho

„Alle Minenarbeiter sofort in den Kontrollraum B kommen! Es herrscht Ausnahmezustand!“, brüllte Finley ins Mikrofon, nachdem er die Mitteilung von Jefferson bekommen hatte. Er wusste, dass die Sicherheitskräfte durch den Anschlag noch sehr beschäftigt waren und deshalb auch eine gewisse Zeit brauchten, um sich wieder zu formieren. Diese Zeit war die einzige Chance, die die Arbeiter noch hatten. Es hätte für ihn wohl nichts Schlimmeres geben können, als mitansehen zu müssen, wie die hilflosen Minenarbeiter in einem Sturmangriff der bewaffneten Soldaten einfach so niedergemäht würden. Sie waren vermutlich genau auf der anderen Seite der Mine in Teil A. Es würde einige Zeit dauern, ehe sie eintreffen würden.
Die ersten Arbeiter kamen keuchend vor dem Eingang des Ausrüstungsraumes an und schauten Finley fragend an. Andere, die von dem Anschlag bereits erfahren hatten, gestikulierten aufgebracht.
Nach wenigen Minuten waren alle zweihundertvierunddreißig Arbeiter versammelt und blickten gespannt zu Finley.
„Es ist gut, dass ihr alle gekommen seid. Wir befinden uns nämlich in einer mehr als ungewöhnlichen Situation. Ob ihr es glaubt oder nicht - wir befinden uns im Krieg! Vor etwa zwanzig Minuten hat unser nicht anwesender Mitarbeiter Tom Wyler ein folgenschweres Attentat im Namen der Arbeiterschaft auf die Teilnehmer der Sicherheitskonferenz verübt. Die meisten konnten gerettet werden, einige, darunter unser Minenverwalter Mitchell, sind jedoch auf tragische Weise ums Leben gekommen.“ Ein entsetztes Raunen ging durch die Reihen. „Ich weiß, dass dieses brutale Attentat nicht in eurem Sinne war. Dennoch muss ich euch die erschreckende Nachricht übermitteln, dass Richard Foreman es als eine Kriegserklärung eurerseits ansieht und einen sofortigen Gegenschlag vorbereitet. Er ist dabei, eine Gruppe von über sechzig gut bewaffneten Kämpfern zu versammeln, die die Bedrohung eines gewaltsamen Aufstandes unterbinden sollen.“ Laute Ausstöße der Empörung kamen aus den Reihen, viele standen mit offenem Mund wie angewurzelt da und blickten schockiert aus dem verdreckten Gesicht. Einer meldete sich zu Wort:
„Gut, er will den Krieg. Ich fasse das als eine längst überfällige Einladung auf, dass wir ihm endlich demonstrieren, was wir von ihm halten.“
„Ja, es ist an der Zeit, das Leben dieses vor Geld stinkenden Thyrannen zu beenden. Lange hätten wir sowieso nicht mehr gezögert!“
Finley versuchte die aufgeheizten Gemüter zu beruhigen. „Wir sollten jetzt nicht in Übereifer geraten. Aber wir dürfen andereseits auch keine Zeit verlieren. Ich habe euch Zugang zum Waffenraum der Aufseher verschafft. Dort kann sich zumindest ein größerer Teil von euch mit einem Schusseisen ausrüsten. Die anderen sollten anfangen, Schutzbarrikaden zu errichten. Wir liegen hier unter dem Normallevel. Sie haben also einen strategischen Vorteil, wenn sie kommen. Ihr müsst euch gut verschanzen können, um eine Chance zu haben.“
„Was ist mit Ihnen, Mister Finley?“
„Ich... ich werde mich ins Feindeslager begeben.“ Seine Antwort rief Blicke des Unverständnisses hervor. „Foreman hat mich zum neuen Minenverwalter ernannt und möchte mich an seiner Seite haben. Also werde ich mich ihm anschließen. Ich werde versuchen, ihn doch noch zur Vernunft zu bringen. Er handelt momentan aus dem Schock heraus. Vielleicht kann ich ihm erklären, dass nur ein Einziger aus der Gruppe für den Anschlag verantwortlich ist.“
„Das ist nicht nötig, Mister Finley. Tom hat im Namen aller gehandelt und wir stehen dahinter, nicht wahr Jungs?“ Wieder erklang erregte Zustimmung.
„Leute, denkt doch einmal nach! Foreman hat eine Gruppe bestens trainierter Soldaten bei sich. Ihr seid ihm in jeder Hinsicht unterlegen. Wir sollten den gewaltsamen Weg nur dann wählen, wenn es unbedingt nötig ist.“ Besorgt strich er sich über sein krauses Haar. Ihm fiel ein, dass er sich noch einen Helm besorgen wollte.
„Es ist wenigstens für eine gute Sache. Besser wir sterben hier unten, als für immer seine Sklaven zu bleiben.“
„Und was ist mit euren Familien, die zu Hause darauf warten, dass ihr nach Feierabend zurückkommt?“
Sie schwiegen eine Weile, ehe sich wieder jemand meldete.
„Versuchen Sie, was Sie können, Finley. Aber Sie werden es garantiert nicht schaffen, Foreman umzustimmen. Und dann wird es ernst. Wir sind bereit!“ Jubelschreie, die die Arbeiter begeistert ausstießen, hallten durch die Gänge.
„Dann wünsche euch alles Gute. Möge die Gerechtigkeit siegen. Hier ist der Zugang zu den Waffen. Ich habe alles vorbereitet. Wir sehen uns hoffentlich wieder.“
Er schritt durch die Menge hindurch und machte sich auf den Weg in Richtung Halle A.
Einige blickten ihm nach, andere strömten sofort in den Waffenraum und schnappten sich die in den Regalen verstauten Schussgeräte. Wiederum andere begannen, aus herumstehenden Maschinen, Kisten und Steinblöcken eine langgezogene Barrikade vor dem Eingang in den B6-Stollen zu errichten. Selten war der Zusammenhalt unter den Arbeitern stärker.
Insgesamt eine halbe Stunde dauerten die Vorbereitungen, ehe die Arbeiter schussbereit auf dem Boden lagen oder saßen und auf den Sturm warteten. Er kam nur kurze Zeit später.
Der Lastzug mit insgesamt zehn Wägen kam mit niedriger Geschwindigkeit angerollt und hielt mitten in der Haupthalle. Mehrere Dutzend Köpfe blickte hinter den Stahlwänden der Waggons hervor und ebensoviele Gewehrspitzen ragten aus den geräumigen Wannen. Dann entbrannte der Schusswechsel. Unzählige Kugeln schossen zwischen den beiden Fornten hin und her, hier und da fiel ein Mann aufschreiend zu Boden. Die ohrenbetäubenden Geräusche der heißlaufenden Revolver, Maschinenpistolen und Gewehren hallten durch den Echoeffekt der Mine mehrfach wieder. Die meisten Schüsse endeten mit einem schroffen Aufprall entweder am harten Stahlkörper der Waggons oder auf der anderen Seite an der dichten Schutzmauer der Arbeiter in einer wirkungslosen Rauchwolke.
Ein schwerer Schaufelradbagger setzte sich in Bewegung und steuerte auf den Lastzug zu, in dem sich die Angreifer verschanzten. Der Fahrer versetzte das Schaufelrad in maximale Geschwindigkeit und näherte sich seinem Ziel unter gewaltigem Kugelhagel. Nach einer Reihe von gezielten Schüssen zerschellte die Scheibe des Führerhauses und der Mann am Steuer sackte leblos auf seinem Stuhl zusammen. Ein Soldat sprang auf, kletterte aus dem Waggon und spurtete zu der sich nahenden Bedrohung, die sich ihnen jetzt führerlos näherte. Unter starkem Beschuss von Seiten der Arbeiter sprang er das Trittbrett zum Führerhaus hinauf und riss die Tür auf. Noch fünf Meter war das sich rasant drehende Schaufelrad vom vordersten Waggon entfernt. Geistesgegenwärtig riss der Soldat den Steuerhebel nach links, was den Kurs des Gefährts augenblicklich korrigierte. Jetzt steuerte es knapp am Zug vorbei und direkt auf einen Abhang zu. Erst ein weit herausragendes Hinterrad verhakte sich noch am vordersten Waggon und riss ihn mit sich. Nach einigen Metern kippte er um, landete mit der Bauchseite mit lautem Poltern auf dem harten Steinboden und entledigte sich der aufschreienden, herauspurzelnden Insassen.
Unterdessen hatte der Bagger den geröllbedeckten Abhang erreicht und wurde unaufhaltsam in die Tiefe gezogen. Einige Meter schlitterte er das Geröllfeld hinunter, ehe er mit ungebremster Wucht gegen die breite Felswand donnerte. Das Eisengestell zersplitterte unter lautem Krachen und brach über dem schweren Rumpf des Fahrzeuges zusammen, der unter dem mächtigen Einschlag ebenfalls an der Wand zerschellte. Helle Funken sprühten, schwarze, dichte Rauchschwaden stiegen aus der Kiesgrube auf und zogen bis zum Kampfschauplatz.
Der Schusswechsel hatte sich während des Geschehens ein wenig beruhigt, benommen blickten die Männer auf das Schauspiel.
Plötzlich erschallte ein weiterer Schlag, der sie aufschrecken ließ. Eine Rauchbombe war hinter der Barrikade gelandet, detonierte und begann, den gesamten Bereich vor dem Seitenstollen einzuhüllen, in dem sich die jetzt völlig orientierungslosen Arbeiter verschanzten. Ein neuer Stoßtrupp der Sicherheitskräfte tauchte auf einmal von der anderen Seite der Haupthalle auf und begann wild schießend auf den vernebelten Bereich zuzustürmen. Die völlig überraschten Arbeiter erhoben sich geschockt und begannen, irritiert vor dem Sturmlauf in den Tunnel hinter ihnen zu flüchten. Einige stürzten, von einer Kugel getroffen, zu Boden.
Laute Panikschreie hallten durch das Tunnelsystem, als die Masse der Aufständischen immer tiefer in das Stollengewirr spurtete. Die unaufhörlichen Schussgeräusche trieben sie immer weiter.
Was sie nicht merkten war, dass ihre Angreifer nicht etwa die Verfolgung aufnahmen, sondern hinter der eingenebelten, eroberten Barrikade stehenblieben und den letzten Fliehenden nachschauten.

Max lief ängstlich und einsam den Gang hinunter, den er zuvor noch nie betreten hatte. Noch kurz bevor die Angreifer eingetroffen waren, hatte er sich aus dem Staub gemacht und im B5-Stollen versteckt, um dem Kampfgeschehen aus dem Weg zu gehen. Das war nicht seine Sache. Er hatte nichts damit zu tun. So blieb ihm nichts anderes übrig, als heimlich in den Seitengängen zu verschwinden, durch die er den Kriegsschauplatz umgehen und den Aufzug und damit den Weg in die Sicherheit erreichen konnte, ohne die Halle passieren zu müssen, in der man ihn sofort entdecken würde. Er hatte die Verbindungen zu den Nachbarstollen genutzt und war nun bei B1 angelangt. Etwa in der Mitte der Strecke hatten die Schüsse angefangen, die er nun ununterbrochen hörte. Aber sie wurden leiser, was ihm zeigte, dass er sich vom Gefahrenherd entfernte. Hoffentlich werden die Kämpfe keinen Einsturz verursachen, der sie alle begraben würde, dachte er sich.
Er kroch eine schmale Passage entlang und sah plötzlich ein Ende des Tunnels. Nach seiner Einschätzung musste das die Haupthalle sein. Er würde neben dem Ausrüstungsraum herauskommen und konnte dann vollends bequem zum Aufzug schleichen.
Er bestritt die letzten Meter, lugte hinter der Wand hervor und ließ vorsichtig seinen Blick durch die Halle schweifen. Es war wie er es vermuetet hatte: die gesamte Invasion der Sicherheitskräfte hatte sich vor dem Eingang in den Stollen B6 versammelt, von wo sie die Arbeiter ins Innere des Tunnels getrieben hatte. Aus dem Ausrüstungsraum spazierten zwei Männer und schauten zu den Ereignissen hundert Meter von ihnen entfernt hinüber. Einer der beiden war Foreman, der andere trug Militärkleidung. Max belauschte sie aus seinem Hinterhalt.
„Haben Sie es so gemacht wie ich es Ihnen gesagt habe, Jefferson?“
„Jawohl, Mister Foreman. Die Arbeiter wurden alle in den Seitentunnel getrieben. Es gibt keinen Ausweg mehr für sie.“
„Sehr schön. Ich nehme an, Sie haben mit den Baggerarbeiten bereits angefangen.“
„Natürlich. Sehen Sie dort: wir haben bereits die Hälfte des Durchganges zum Tunnel verschüttet.“
Max schaute entsetzt zu dem Ort des Geschehens. Zwei große Maschinen waren damit beschäftigt, schweres Geröll vor dem Tunnel aufzustauen, in den die Arbeiter geflüchtet waren. Sie würden einen langen und qualvollen Tod, wahrscheinlich durch Verdursten, erleiden.
„Das haben Sie sehr gut gemacht. Die ganze Welt wird glauben, dass es sich hier um einen schrecklichen Minenunfall der gewöhnlichen Art handelt. Man wird Mitleid mit uns haben. Mit dem armen Unternehmer, der auf einen Schlag alle Arbeiter verloren hat. Dass diese ganze Angelegenheit so elegant gelöst wird, hätte ich auch nicht erwartet. Und ich habe noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, wer diesen lächerlichen Aufstand angefangen hat.“
Er klopfte dem Befehlshaber auf die Schulter und ging auf die Baustelle zu, um die sich seine Männer versammelt hatten.
Verstört blickte Max ihm nach, kam aber nicht zum Nachdenken, als er einen Blick durch das Fenster im Ausrüstungsraum warf und dabei Finley erblickte, der an der Computerkonsole saß. Max wagte nicht, auf sich aufmerksam zu machen. Wenn jemand anderes die beiden zusammen sah, wären Finley und natürlich auch er aufgeschmissen gewesen. Deshalb beobachtete er nur.
Finley tippte einige Dinge in den Computer ein. Dann stand er zufrieden auf, setzte sich den Helm auf, der auf dem Tisch lag, und spazierte ebenfalls hinaus zu den anderen.
Was hatte er nur vor?
Max kam endlich zum Nachdenken. Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten: er konnte die letzten Meter bis zum Fahrstuhl schleichen und sich dann still und heimlich aus dem Staub machen. Dann würde er es unversehrt nach Hause schaffen, ohne dass er dabei etwas falsch gemacht hätte. Die andere Möglichkeit war, in den Ausrüstungsraum zu huschen, im Computer nachzusehen und versuchen herauszufinden, was Finley im Sinn hatte. Vielleicht würde er ihn unterstützen und damit die ganze Gruppe retten können. Vielleicht würde er aber auch bei dem Versuch sterben. Dann hätte er alles verloren. Und er konnte nicht wie bei seinen Tagträumen immer wieder von vorne anfangen. Er würde für immer weg sein und nie mehr ein Abenteuer erleben. Es wäre für immer aus. Was aber, wenn es ihm gelang? - Er würde etwas bewegen. Er konnte eine positive Veränderung herbeiführen. Es würde so oder so nichts mehr so sein wie es einmal war. Er war bereits mitten in der Veränderung.
„Schön, dann muss ich das wohl zu Ende bringen“, murmelte er abschließend. Dann schlich er an der Wand des Ausrüstungsraumes entlang und huschte durch den Eingang. Hektisch setzte er sich an den Computer und rief die zuletzt bearbeitete Datei auf. Der Bildschirm zeigte eine Liste mit Namen. Es waren sämtliche Namen der Arbeiter aus den einzelnen Teams. Enttäuscht und zugleich verwirrt versuchte Max, irgend eine Besonderheit auf dem Dokument ausmachen zu können - doch vergeblich. Was wollte Finley mit der Liste anfangen? Max starrte gedankenverloren aus dem Fenster in Richtung der beiden Bagger. Sie hatten bereits den Durchgang zum größten Teil zugeschüttet.
Verdammt, die Jungs!, schoss es ihm durch den Kopf.
Von Panik erfüllt beobachtete er die Bagger, die die letzten freien Meter vor dem Tunnel zuschütteten. Sie begruben nicht nur den einzigen Ausgang seiner Kameraden, sondern auch seine letzte Hoffnung, dass er sie noch retten konnte. Frustriert setzte er sich nieder. Wenn Finley doch nur einen Ausweg für sie hätte. Aber was sollte er mit dieser Liste schon anfangen?
Er überlegte, was passiert wäre, wenn er Finley nicht den blutigen Helm gebracht hätte. Niemand hätte von den Sicherheitskrägten überlegte, alle - einschließlich Foreman - wären bei dem Anschlag ums Leben gekommen. Und er selbst hätte nichts damit zu tun gehabt. Er wäre in seinem Seitengang gesessen und hätte fleißig an seinem Durchgang gearbeitet, den er heute eigentlich schaffen wollte... Moment mal! Der Durchgang! Das war es! Es waren nur noch Zentimeter, bis er den Seitenstollen B5 mit dem Seitenstollen B6 verbunden hatte, in dem seine Kameraden im Moment gefangen waren. Wenn er es schaffte, die Stelle mit seinem Bohrer zu durchbrechen, dann konnte er einen Durchgang schaffen, mit dessen Hilfe die Arbeiter aus ihrem Gefängnis flüchten konnten.
Er schnellte auf, schlich zurück in den Gang, aus dem er gekommen war und lief den Stollen hinunter. Die fahlen Lampen an der Decke ermöglichten es ihm, sich in dem verzweigten System zu orientieren. Er rannte die Strecke zurück, die ihn durch die Stollen B1 bis B5 führte. Nach einem anstrengenden Spurt erreichte er endlich die Mauerstelle, an der er zuletzt gearbeitet hatte - nur von der anderen Seite. Der Bohrer seiner Kollegen vom B5-Team lag noch immer an seinem Platz, die Lampe war noch immer auf die Stelle gerichtet, die es nun zu durchbrechen galt. Er spuckte sich in die Hände und begann mit der Arbeit.


17. Juni 2014 - 13:58
Stollen B6, John-Locke-Mine Clayton, Idaho

Entmutigt saßen die überlebenden einhundertfünfundneunzig Minenarbeiter zusammengepfercht in der Grotte im hintersten Winkel des B6-Stollens. Fast vierzig Männer hatten sie in dem Gefecht verloren. Ihr Aufstand war auf beschähmende Weise niedergeschlagen worden, feige waren sie geflüchtet und nun mussten sie schockiert feststellen, dass es nur eine Falle gewesen war. Eine simple Falle, in die sie hineingetappt waren und aus der sie nicht mehr herauskommen würden. Kaum jemand redete. Jeder wartete nur. Wartete darauf, dass irgendetwas passierte. Wartete, dass ihnen der Sauerstoff ausgehen oder dass sie der Durst überwältigen würde. Aber bis es soweit war, würde die längste und qualvollste Zeit ihres Lebens vergehen.
Das laute Brummen des Bohrers in ihrer Nähe hatte sie mit Unglauben und den ein oder anderen auch mit einem Schimmer Hoffnung erfüllt, doch vor wenigen Sekunden hatte das Geräusch abrupt aufgehört. So warteten sie weiter. Ab und zu ein Husten, ab und zu jemand, der einen Spaziergang in die anderen Tunnelzweige wagte, um zumindest etwas zu tun. Sonst passierte nichts.
Plötzlich wurde es ganz still. Waren da etwa Schritte? Sie spitzten die Ohren. Irgendjemand näherte sich aus einem Seitengang, der so dunkel war, dass sich von ihnen eigentlich niemand dort aufhalten würde. Gespannt schauten sie auf den Eingang der Grotte. Die Schritte wurden immer lauter, bis die Person den Eingang erreicht hatte und nun vor ihnen stand.
„Max!“
„Hier seid ihr also. Welch ein Glück, dass ich euch gefunden habe.“
„Wir dachten, du seist tot!“
„Nein, so schnell ist es mit mir nicht vorbei. Ich habe noch ein paar kleine Überraschungen für unseren großen Boss in der Tasche... Jonathan, du bist mit Tom befreundet. Ist er heute morgen bei der Arbeit erschienen?“
„Wieso fragst du nach Tom?“
„Ist er erschienen?“ Max schaute ihn an als hätte er eine weltbewegende Frage gestellt.
„Also wenn ich es mir so recht überlege... nun,... eigentlich habe ich ihn heute nicht gesehen.“
„Hat ihn sonst irgendjemand heute gesehen?“ Er ließ seinen Blick durch die Menge schweifen. Die meisten schüttelten den Kopf oder gaben gar kein Zeichen. Das passte.
„Was soll das, Max? Wir haben jetzt ganz andere Probleme.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Wenn Tom heute nicht da war, dann kann er auch nicht für den Anschlag verantwortlich sein, oder?. Das Interessante bei der Sache ist: Ich habe vorhin eine Anwesenheitsliste gesehen - auf der Tom aufgezählt war.“
„Das ist doch logisch. Tom hat sich heute morgen angemeldet, ist irgendwo untergetaucht, und hat dann heimlich den Anschlag vorbereitet.“
„Das wäre eine Möglichkeit. Es gibt aber auch noch eine andere...“ Er starrte die Decke an und versuchte sich zu konzentrieren. Finley hatte sich die Liste angesehen, ehe er aufstand und ging. Falsch! Ehe er aufstand, den Helm nahm und dann ging... der Helm! Jetzt hatte er es!
„Jungs, haben wir noch genügend Schusswaffen?“
„Ein paar sind noch da, wieso?“
„Gut. Nehmt alles, was aussieht wie eine Waffe und dann macht euch bereit für einen kleinen Ausflug. Es wird Zeit, die Sache endlich zu Ende zu bringen...“


17. Juni 2014 - 14:09 Uhr
Haupthalle B, John-Locke-Mine Clayton, Idaho

Die beiden Bagger wurden an ihren ursprünglichen Platz zurückgestellt, einige Männer waren bemüht, den Platz vor dem zugeschütteten Tunneleingang so herzurichten, dass es nach einem Arbeitsunfall aussah. Die Waffen hatten die Sicherheitsmänner eingesteckt und entsichert, eine allgemeine Feierabendstimmung machte sich trotz der wenig fortgeschrittenen Uhrzeit breit. Sie hatten einen rasanten Tag hinter sich. Eine Aufgabe, die sie alle nicht gerne gemacht hatten. Aber dafür hatte man sie ausgebildet. Dafür hatten sie sich entschieden, als sie ihren Beruf annahmen. Ob einer von ihnen tatsächlich damit gerechnet hätte, einen Stollenkrieg gegen aufständische Arbeiter mitzuerleben, ist jedoch fraglich.
Ihre Verluste waren verhältnismäßig gering, etwa ein Dutzend Mann hatten in der hitzigen Schießerei ihr Leben lassen müssen. Das waren wenige im Vergleich zu den über zweihundert Toten Arbeitern im Stollen. Es war ein kurzer und brutaler Krieg gewesen. Ein ungewöhnlicher Krieg.
Foreman, Jefferson und Finley standen in genügend angenehmem Abstand vom Geschehen auf einem kleinen Geröllhügel und beobachteten die letzten Arbeiten.
„Ich möchte Ihnen beiden sagen, dass ich das nicht gewollt habe“, begann Foreman ruhig. „Aber ich hatte keine andere Wahl.“
„Es macht keinen Sinn mehr, sich darüber jetzt noch Gedanken zu machen“, gab Jefferson ebenso trocken zurück. Finley betrachtete das Geschehen vor sich nur mit finsterem Blick.
„Mister Finley, Sie werden keinen leichten Einstieg als Leiter dieser Mine haben. Aber ein wenig Aufbauarbeit ist sicher etwas, von dem Sie nicht abgeneigt sind“, bemerkte Foreman. Finley nickte nur. „Ich verstehe Ihren Frust. Sie haben sich jahrelang als menschennaher Aufseher für die Rechte der Arbeiterschaft eingesetzt. Dass Sie jetzt auf dem tragischen Unglück, in das sich Ihre Schützlinge hineingeritten haben, Ihre Zukunft aufbauen müssen, ist sicher eine persönliche Herausforderung für Sie. Aber Sie werden an ihr wachsen. So wie ich damals auch wachsen musste. Jemand mit einer derartigen diplomatischen Gabe wie Sie wird es weit bringen.“ Noch immer stand Finley schweigend da und schaute. Er bemerkte, dass auch Jefferson auf die unzähligen Leichen schaute, die sie an einer Stelle gesammelt hatten. Eine Träne rollte über die Wange des Militäkommandanten. Foreman warf ihm einen flüchtigen Blick zu, ignorierte aber, was er sah.
Er hüstelte und winkte einen der Männer zu sich.
„Wir sollten diese toten Arbeiter endlich abtransportieren und entsorgen. Haben Sie nicht so einen Lastenzug, mit dem sich das bequem erledigen lässt?“
„Aber natürlich, Mister Foreman. Der Zug ist bereits unterwegs“, antwortete der Arbeiter, der dafür ein zufriedenes Nicken des Bosses erhaschen durfte.
Die Schienen wurden freigeräumt, woraufhin auch schon ein dumpfes Rauschen im Hintergrund ertönte, das sekündlich lauter wurde. Kurze Zeit später tauchte die Schlange von neun Waggons aus einem der Seitengänge auf. Der Zug fuhr bis vor den verschütteten Eingang, wo ihn die Sicherheitsmänner erwartet hatten und hielt an.
„Und jetzt rein damit!“, befahl Foreman.
Die Männer bückten sich und hoben den ersten toten Körper auf. Vorsichtig trugen sie ihn zum ersten Waggon. Dann nahmen sie kräftig Schwung und schleuderten die Leiche über den Rand der Wanne, auf deren Grund er unerwartet leise aufschlug. Einige schauten verwundert zu dem Waggon hinüber.
Plötzlich richtete sich aus dem Innern der Wanne der Körper eines Arbeiters auf, der breitschultrig über den Stahlrand des Waggons hinwegblickte und mit einer Maschinenpistole auf die verdutzt dreinschauenden Sicherheitsmänner zielte. Einen Moment später erhoben sich auch aus den übrigen Waggons überall bewaffnete Arbeiter und warfen ihren Feinden einen verächtlichen Blick zu.
Die schockierten Sicherheitskräfte hatten keine andere Wahl, als alles fallenzulassen und demütig ihre Hände zu heben.
„Was soll das? Warum ergebt ihr euch? Das sind keine Gespenster. Sie sind weniger und schlechter bewaffnet. Los, fangt an...“
„Jetzt wird gar nichts mehr angefangen, Mister Foreman.“ Foreman hielt ein, drehte sich langsam um und erkannte dann die Pistole, die auf seine Stirn gerichtet war - Max hielt sie fest umklammert und schaute Foreman wutentbrannt in die Augen. „Wenn ich Sie richtig einschätze, wollten Sie gerade diesen Tunneleingang freiräumen, damit die armen Gefangenen da drin wieder frei kommen. Tut mir leid, dass wir Ihre Hilfe nicht in Anspruch genommen und einen besseren Ausgang genommen haben.“
„Ich kenne zwar Ihren Namen nicht, aber es scheint mir, dass es auch Arbeiter gibt, die in der Lage sind, ihren Verstand einzusetzen“, antwortete Foreman gelassen. „Diesen Eindruck hatte ich nach dem feigen Attentat noch nicht.“
„Sie glauben also immer noch, dass die Arbeiter geschlossen entschieden haben, eine blutige Revolution anzuzetteln. Ich frage mich wirklich, wie Sie es so weit schaffen konnten.“
„Nun, vielleicht war es auch nur ein Einzelner. Das macht aber keinen Unterschied.“
„Oh, richtig. Jeder Arbeiter ist ja gleich primitiv, gleich untüchtig, gleich minderwertig. Da ist es egal, ob man nur den Schuldigen bestraft oder gleich die ganze Gruppe. Im Übrigen ist der Verantwortliche kein Arbeiter.“
„Nicht?“, kam es plötzlich von Finley, der hinter Max stand.
„Nein, Mister Finley. Der Verdächtige war heute überhaupt nicht in der Mine.“
„Aber wer war es dann?“, fragte Foreman. Max drückte ihm die Waffe enger an die Stirn.
„Und das fragen Sie mich? Einen schwachsinnigen Arbeiter?“ Sein Finger krümmte sich über dem Auslöser. Foreman verzog keine Miene. Die Arbeiter, die noch immer auf den Waggons standen und die Stellung hielten, blickten erwartungsvoll zu ihm hinüber. Niemand traute es sich laut auszusprechen, aber insgeheim hoffte jeder von ihnen, dass Max endlich abdrücken würde.
„Überlegen Sie sich genau was Sie tun, Max!“, warnte ihn Finley und legte ihm seine Hand auf die Schulter.
„Ach ja? Was sollte es noch einen Grund für mich geben, sein Leben zu verschonen? Für Sie wäre das doch auch noch einmal ein kräftiger Karriereschub, oder? Vielleicht würden Sie ja in die Geschäftsführung der Foreman Mining Company aufsteigen, wenn dieses diktatorische Schwein aus dem Weg ist.“
„Hören Sie doch auf! Es gab heute wahrhaft genug Tote!“
Max biss die Zähne aufeinander, hielt die Waffe noch angekrampfter fest, drehte sich blitzartig um und richtete die Pistole jetzt auf Finleys Stirn, der erschrocken zurückwich. Mit wutentbranntem Blick brüllte er:
„Das müssen ausgerechnet Sie sagen, Mister Finley? Ausgerechnet Sie?“ Max packte ihn am Kragen und presste ihm die Waffe zitternd an die Schläfe. Jeder, einschließlich Finley, schaute ihn verständnislos an. Max wartete einige Momente ab, dann fuhr es mit ruhiger Stimme aus ihm:
„Er war es. Er allein.“ Wieder legte er eine Pause ein und ließ die Nachricht auf die Anwesenden wirken. „Unser kämpferischer Freund hier hat uns alle an der Nase herumgeführt. Er hat den Aufseher in die Fräse gestoßen, er hat den Zug umgeleitet und er hat mit seinem unglaublichen diplomatischen Geschick diesen verdammten Krieg inszeniert. Das Bemerkenswerte dabei ist, dass er sich dabei keine Feinde geschaffen hat; wir Arbeiter haben ihm vertraut, weil er sich so gnädig für uns eingesetzt hat und Mister Foreman hat in ihm einen fähigen Mitarbeiter gefunden, der ihm im Kampf gegen die Aufständischen beistehen konnte. Und warum das Ganze? Damit er endlich die Führung über diese Mine bekommt. Wie praktisch, dass bei dem tragischen Unfall sowohl Mister Mitchell als auch Mister Dawson ihr Leben lassen mussten, nicht wahr, Mister Finley? Damit war für Sie der Weg frei. Dass Mister Foreman den Anschlag überleben würde, wussten Sie, da der Boss unter speziellem Schutz stand und Sie ihn rechtzeitig gewarnt haben. Deshalb haben Sie im Kontrollraum auch so plötzlich auf die Uhr geschaut, als ich bei Ihnen stand. Ihr Timing musste genau stimmen. Foreman brauchten Sie noch, damit es zu dem Krieg kommen würde und Sie sich bei ihm profilieren konnten. Damit die Chancengleichheit bewahrt blieb, haben Sie den Arbeitern ihre gnädige Unterstützung zukommen lassen. Wirklich beeindruckend. Wenn Sie es jetzt noch geschafft hätten, dass Foreman irgendwie umkommt, hätten Sie es auf der Karriereleiter an nur einem Tag so weit geschafft, wie es andere ihr Leben lang nicht schaffen. Als heldenhafter Verwalter der berühmten John-Locke-Mine, in der die gesamte Arbeiterschaft in einem tragischen Unfall ums Leben kam, hätten Sie in der Öffentlichkeit eine ziemlich gute Figur gemacht.“
Finley zwang sich zu einem Lächeln. „Das ist ja wohl ausgemachter Blödsinn! Das glauben Sie doch nicht etwa?“ Die Menge schaute ihn verächtlich an.
„Tut mir leid, Mister Finley. Wir sind gezwungen, das zu glauben. Oder warum haben Sie sonst vor ein paar Minuten die Anwesenheitsliste um den Namen eines nicht anwesenden Arbeiters ergänzt: Tom Wyler. Und das obwohl er heute gar nicht bei der Arbeit erschienen ist. Sie haben es wohl deshalb getan, weil Sie jemanden brauchten, den man für das Attentat verantwortlich machen konnte. Aber das ist nur eine Bestätigung. Verraten hat Sie Ihr Helm. Heute morgen trugen Sie einen. Später plötzlich nicht mehr. Zufälligerweise habe ich genau den Helm, den Sie im Moment auf dem Kopf tragen mit einem Blutflecken neben der Kontrollanlage gefunden. Sie haben sich mit dem Aufseher dort einen kleinen Kampf geleistet und ihn dann beseitigt, damit Sie die Schiene auf den Konferenzraum umleiten konnten. Zu dumm, dass Sie bei dem Kampf auch etwas abgekriegt und dabei Ihren Helm verloren haben. Ich habe ihn Ihnen kurz nach Ihrer Tat gebracht, was Sie in gehörigen Zeitdruck brachte wegen des Zuges. Aber es hat ja dann doch noch genau gepasst...“
Finley griff blitzartig in seine Tasche, zückte eine Pistole, streckte sie impulsiv aus und schleuderte damit Max' Waffe weg. Erschrocken, aber wenig ängstlich schaute ihm Max in die Augen.
„Sie sind zwar der bessere Sherlock Holmes, aber überleben werden Sie mich nicht.“ Mit einem verhassten Blick starrte er Max in die Augen.
„Sie dürfen gerne schießen, Finley. Ich habe das getan, was ich tun wollte. Und ich habe damit etwas bewegt. Ich bin fertig. Sie können also gerne schießen, wenn Sie wollen.“
Sie standen einige Sekunden in dieser Position. Niemand sagte etwas. Finley zitterte.
Max schaute ihm noch immer in die Augen. Dann atmete er kräftig ein, warf einen flüchtigen Blick zu Jefferson hinüber und - hechtete sich dann augenblicklich zu Boden. Ein lauter Schuss fiel.
Die Patronenhülse fiel vor Finleys Füße, eine Rauchschwade stieg aus seiner Waffe, Max lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Die Pistole war auf Foreman gerichtet, der hinter Max gestanden hatte, sich benommen das rote Einschussloch auf seiner Brust betrachtete und dann mit ausdruckslosem Gesicht auf dem Kieshügel zusammensackte. Finley schaute entgeistert in seine Richtung, als er feststellte, dass sich in seiner Schläfe ebenfalls ein Einschussloch befand - ein zweiter Schuss war zeitgleich gefallen. Lautlos stürzte Finley zu Boden und blieb mit starrem Blick auf dem Rücken liegen.
Jefferson hielt seine rauchende Waffe noch immer auf die Stelle gerichtet, an der Finley gestanden hatte. Sein Gesicht war tränenüberströmt.
„Und das alles für nichts und wieder nichts“, stammelte er.
Max regte sich auf dem Boden, hob dann den Kopf und nickte Jefferson zu: „Doch, Jefferson. Für die Gerechtigkeit.“


Tagebucheintrag vom 18. Juni - Fortsetzung:
...Ich bin froh, dass ich aus meiner Traumwelt ausgestiegen und nicht mehr zurückgekehrt bin. Mein unsichtbares Gedankenleben „unter Tage“ ist damit endgültig vorbei. Zwar erlebe ich jetzt nicht mehr jeden Tag ein neues Abenteuer, aber dafür bin ich in ein Abenteuer eingestiegen, das weitaus aufregender, herausfordernder und schöner ist als alle meine Fanatsiegeschichten zusammen: das Leben. Noch immer habe ich die gestrigen Ereignisse nicht realisiert. Das wird wohl auch noch eine Weile dauern. Und ich will mir auch noch keine Gedanken über meine Zukunft machen. Das wäre nicht angebracht. Aber ich kann heute schon mit Gewissheit sagen, dass mein Leben ein anderes sein wird als bisher. Ein Leben, das nicht ohne Fehler sein wird. Vielleicht werde ich viele Dinge zum Negativen hin bewegen. Aber ich werde etwas bewegen - so wie ich es gestern getan habe.

gez. Max Truman
 
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ich sags ja immer und immer wieder, das einzig wahre genie, das im jahr 1983 in die wiege gelegt wurde. a black sheep, but a golden one

karl weissbach (04.11.2003)

Sehr spannende und fesselnde Geschichte. Auch wenn sie etwas länger ist lohnt sie sich zu lesen; vom ersten bis zum letzten Wort.

Molli (19.03.2003)

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