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12 Seiten

Endstation

Romane/Serien · Schauriges
Es war etwa gegen zwei Uhr morgens, als die Stille in der dunklen Seitenstraße durch das Schlurfen zweier alter Füße durchbrochen wurde. Die Beine, deren Enden in zwei alten, ausgefransten Turnschuhen steckten, gehörten Charly. Er war ein stadtbekannter Säufer und auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz.Er ging in der, für ihn typischen gebeugten Haltung die Seitenstraße entlang. In seiner rechten Hand hielt er eine halb volle Flasche Wein. Auf seinem Rücken trug er einen Rucksack, den er mit der linken Hand festhielt. Charly schlurfte durch die Pfützen, die der letzte Regen an diesem Abend hinterlassen hatte, und betrachtete die Lichter der Stadt.
Er war wütend auf diese Stadt, die ihm so übel mitgespielt hatte. Charly erinnerte sich. Er hatte einmal ein Leben. Ein Leben mit einem Job, einer Familie und einem Zuhause. Er ging die Straße, die eine Anhöhe hinauf führte, entlang und dachte daran, wie alles den Bach runter gegangen war. Es war vor etwa zehn Jahren...

Charly war damals als Buchhalter bei einer Speditionsfirma beschäftigt. An jenem Oktobertag hatte es ständig geregnet und das Laub auf den Straßen in eine rutschige Masse verwandelt. Charly saß in seinem Büro und freute sich schon auf den Feierabend, als das Telefon klingelte. Es war seine Frau. Charly hatte Mühe sie zu verstehen. Sie schluchzte so in den Telefonhörer, dass Charly nur drei Worte verstand: "Komm nach Hause."
Irgendetwas musste passiert sein. Er griff sich seinen Mantel und rannte los. Auf dem Flur begegneten ihm ein paar Kollegen, aber er beachtete sie nicht. Er rannte auf den Parkplatz und versuchte den Schlüssel in das Schloss seines Wagens zu stecken. Nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, gelang es ihm endlich. Er startete den Wagen und raste nach Hause.
Seine Frau stand vor dem Hochhaus, in dem sie damals wohnten, umringt von einigen Nachbarn und wartete auf ihn. Charly stürzte aus dem Auto, auf sie zu, und sie fiel ihm in die Arme. Sie hatte rot geweinte Augen.
"Was ist passiert?" fragte er. Seine Frau sah ihn an und er bemerkte, wie sie wieder mit den Tränen kämpfte.
"Es...", stammelte sie. "Es war ein Unfall." Sie brach wieder in Tränen aus. Charly war verwirrt. Er verstand nicht ganz, was seine Frau meinte. Er sah sich um und starrte in die mitleidigen Gesichter seiner Nachbarn. Plötzlich durchfuhr es ihn. Seine Tochter wollte doch mit dem Bus nach Hause fahren. Er packte seine Frau an beiden Schultern und drückte sie von sich weg.
"Wo ist Kathie?" fragte er. Seine Frau sah auf den Boden und ihr Schluchzen wurde lauter. Charly schüttelte sie.
"Wo ist sie?" schrie er. Seine Frau legte ihre Arme um seinen Bauch und zog ihn zu sich. Da wusste er es. Er nahm seine Frau fest in die Arme und sie weinten gemeinsam. Ihre Tochter war damals gerade zehn Jahre alt.
Danach ging es ziemlich schnell. Seine Frau bekam Depressionen und versuchte sie mit Tabletten und Alkohol zu beseitigen. Charly wollte ihr helfen so gut er konnte, aber sie ließ es nicht zu. Nach einem halben Jahr resignierte er. Ihm wuchs alles über den Kopf. Die Behandlungskosten für seine Frau konnte er nicht mehr bezahlen und er erwischte sich immer öfter, wie er zur Hausbar schlich und sich einen genehmigte.
Sein Büro rief immer öfter an, weil er nicht zur Arbeit erschien. Das war ihm egal. Er lag die meiste Zeit des Tages auf dem Sofa und betrachtete ein Foto seiner Tochter. Manchmal weinte er.
Als sich seine Frau schließlich erhängte, war es, als ob auch der letzte Rest in ihm zerbrach. Ihm wurde die Wohnung gekündigt. Nicht unbedingt, weil er die Miete nicht mehr bezahlen konnte. In dem öffentlichen Schreiben hieß es, um Platz für neue Familien zu schaffen. Familien mit Kindern.
So wurde aus Charly, was er war. Er hätte natürlich Sozialhilfe beantragen können, doch damals war er schon an einem Punkt angelangt, an dem ihm alles egal war. Er stand häufig an der Stadtkirche und schnorrte die vorübergehenden Passanten an. Hauptsache er hatte genug zu trinken und ab und zu eine warme Mahlzeit, was ziemlich selten vorkam.
Nach fünf Jahren auf der Straße versuchte er es noch einmal mit Gelegenheitsjobs. Doch er bekam keinen Fuß mehr auf den Boden. Darum ließ er es auch schnell wieder bleiben. Er setzte sich wieder an seinen alten Platz an der Kirche und wandelte jeden erbettelten Pfennig in etwas Flüssiges um.

Charly trank den letzten Schluck aus seiner Flasche, ging ein Stück die Anhöhe hinauf und warf die Flasche in Richtung Stadt. Die Weinflasche zersprang klirrend auf der Straße. Charly lächelte.
Die Anhöhe endete an einem Maschendrahtzaun, vor dem Charly stehen blieb. Hinter dem Zaun befand sich der alte Schrottplatz. Er war nicht bewacht. Das hatte Charly zumindest von seinen Kameraden gesagt bekommen. Er sah sich um und warf seinen Rucksack vor sich auf den Boden. Er öffnete die kleine Außentasche und holte eine Zange daraus hervor. Nachdem er einige Drähte durchgezwickt hatte,schlüpfte er durch die Öffnung, die dadurch entstanden war, auf das Gelände des Schrottplatzes. Charly sah sich um.
Der Mond, der ab und zu hinter den Wolken hervortrat, ließ die Schatten um die alten Autowracks tanzen. Es sah aus, als ob sich die Autos bewegen würden.
Charly ging weiter in das Gelände hinein. Rechts und links von ihm waren Schrottberge aufgehäuft. Vereinzelt standen alte Wagen herum. Er sah sich ein paar davon genauer an, um eine geeignete Schlafstätte zu finden. In den meisten waren die Sitze heraus gerissen, oder das Dach undicht. Charly dachte daran, dass es schon den ganzen Tag geregnet hatte und da er nicht nass werden wollte, beschloss er weiter zu suchen. Nachdem er noch ein Stück weiter gegangen war, sah er einen großen rechteckigen Schatten vor sich. Er ging auf ihn zu und langsam kristallisierte sich aus dem Schatten eine Tür. Dann ein Fenster, ein Seitenspiegel, der so groß war wie sein Unterarm und nur noch von ein paar Schrauben gehalten wurde. Charly blieb vor dem Schatten stehen, den er jetzt erst als alten Linienbus erkannte. Er schob die Tür, die wie eine Zieharmonika gefaltet war, etwas zur Seite, so dass er hindurch passte. Er betrat das Innere des Busses. Links und rechts waren ein paar Sitzgruppen herausgerissen, doch als Charly zum Ende des Busses sah, erkannte er, dass die letzte Bank noch da war. Er ging darauf zu und setzte sich. Er starrte eine Weile in das Dunkel des Busses und döste allmählich ein.
Charly schrak hoch. Etwas hatte ihn geweckt. Er richtete sich auf und sah sich um. Es war immer noch dunkel, doch der Mond erlaubte ihm, mit seinen Schattenspielen, das Innere des Busses zu erahnen. Plötzlich zuckte Charly zusammen. Da war es wieder. Der Bus hatte sich bewegt. Er wusste, dass das unmöglich war. Aber er hatte deutlich die Vibration gespürt. Er rutschte zum Fenster und rieb mit einer Hand ein Loch in den Schmutz, der sich darauf abgelagert hatte. Er spähte auf den Schrottplatz hinaus. Da war niemand. Aber irgendjemand musste doch für die Erschütterung verantwortlich sein. Charly wollte zur Mitte der Bank rutschen, als der Bus plötzlich wieder zu vibrieren begann. Diesmal war es nicht kurz, sondern es hielt an und wurde stärker. Charly rutschte verängstigt auf der Bank hin und her und versuchte sich irgendwo festzuhalten. Er sah sich hektisch um. Zuerst bemerkte er es nicht, aber die Schatten zwischen den Sitzgruppen veränderten sich. Als er es sah, war es schon zu spät. Vor ihm entstanden schemenhafte Gestalten, deren klauenartige Hände sich ihm entgegen streckten. Erst als sich die ersten Klauen um seinen Hals legten, begann er zu schreien.

David Langer saß auf der Schaukel des Spielplatzes und zeichnete mit seinem Fuß seltsame Gebilde in den Sand. Eigentlich war heute sein dreizehnter Geburtstag. Aber irgendwie hatte niemand daran gedacht. Seine Mutter war bei der Arbeit und sein Vater, der seit über drei Jahren arbeitslos war, lag Zuhause auf dem Sofa herum. Neben sich hatte er leere Bierflaschen verteilt. Der Aschenbecher quoll schon über und einige Zigarettenstummel waren vom Tisch auf den Boden gefallen.Als David die Wohnung verließ, wollte er seinem Vater mitteilen, wohin er ging. Als er in das Wohnzimmer kam, lag sein Vater, mit geschlossenen Augen und der Fernbedienung des Fernsehers auf seinem Bierbauch, da. David überlegte, ob er ihn aufwecken sollte. Er besann sich aber eines Besseren und ging leise aus dem Zimmer.
Jetzt saß er auf dem Spielplatz und überlegte, was er mit dem angebrochenen Tag machen sollte. Plötzlich hörte er ein Geräusch hinter sich im Gebüsch, das den gesammten Spielplatz von der Außenwelt abschirmte. David drehte sich um und sah jemanden aus dem Gebüsch treten. Es war Lars, ein Freund. Er ging mit David in die gleiche Klasse. Lars klopfte sich den Schmutz und einzelne Blätter von der Hose, wobei er sich auf dem Spielplatz umsah. Er entdeckte David und ging auf ihn zu.
"Hey,David", rief er. Er hatte ein breites Grinsen aufgesetzt und als er bei David angelangt war, klopfte er ihm freundschaftlich auf die Schulter.
"Wieso kommst du eigentlich immer durch das Gebüsch?" fragte David. "Auf dem Weg wäre es doch viel einfacher." Er zeigte auf den Weg, der zum Spielplatz führte. Man konnte nur ein kleines Stück sehen, da der Weg kurz vor dem Spielplatz eine Kurve beschrieb und hinter dem Gebüsch verschwand.
"Ja", sagte Lars. "Aber so ist es doch viel lustiger." Er lachte und als er sah, dass David seine Freude nicht teilen konnte, setzte er sich auf die Schaukel daneben.
"He, was ist denn mit dir los?" fragte er. David zog mit seinem Fuß wieder Figuren in den Sand. Er überlegte, ob er Lars von seinem Geburtstag erzählen sollte.
"Ach nichts", sagte er schließlich.
Lars schien sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben, denn er gab ein verständnisvolles Grunzen von sich. Die beiden Freunde saßen eine Weile nebeneinander und Lars sah David dabei zu, wie er Figuren in den Sand zeichnete. Nach ein paar Minuten fragte er ihn, was er denn heute machen wollte.
"Ich weiß nicht", hatte David geantwortet. "Vielleicht noch ins Space." Das Space war eine Spielhalle für Jugendliche. David ging dort öfter hin, wenn sein Vater daheim wieder verrückt spielte, weil er betrunken war. Und das kam oft vor.
"Klasse Idee", stimmte Lars zu. Doch dann stutzte er. "Moment mal." Er sah David an. "Hast du überhaupt Geld?"
David griff in seine Jackentasche und zog einen Zwanzig Euroschein heraus.
"Cool", rief Lars.
"Ja,cool", meinte David. Er hatte das Geld seinem Vater aus der Tasche geklaut und hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Er schlug Lars auf den Rücken, als er von der Schaukel aufstand.
"Komm", sagte er. "Lass uns gehen."


Zwanzig Minuten später standen die beiden Jungen in der Spielhalle und David begab sich zu der glasverkleideten Kabine, um seinen Geldschein zu wechseln. Frau Schmitz, die schon seit einer Ewigkeit im Space arbeitete, sah ihn über den Rand ihrer Hornbrille an.
"Was darf's denn sein?" fragte sie.
David schob ihr den Zwanzig Euroschein durch den Schlitz in der Glasscheibe entgegen. "Können Sie mir den wechseln?"
"Das ist mein Job", sagte Frau Schmitz. "Einser und Zweier nehme ich an."
David nickte. Frau Schmitz zog einige Münzen aus ihrer Wechselkasse, zählte noch einmal nach und schob sie zu David. Er griff nach den Geldstücken und steckte sie in seine Hosentasche. Als er zurück zu Lars ging, stand dieser nicht mehr alleine bei den Automaten. Simone Brant, die ebenfalls in ihrer Klasse war, hatte sich zu Lars gesellt. Sie war gerade dabei, ihm etwas zu erzählen. Als Lars David sah begann er hastig nach ihm zu winken. "Komm", rief er. "Das musst du dir anhören."
David blieb zwischen den Beiden stehen und sah Simone an.
"Hallo", sagte er. Simone lächelte ihn an und er bemerkte wie ihre Wangen sich röteten.
"Hi", sagte sie. David war schon oft aufgefallen, dass sie sehr schüchtern war. Sie redete normalerweise nicht viel und blieb meistens im Hintergrund. In den Schulpausen hatte er sie beobachtet, wie sie alleine am Zaun saß und las. Nicht, das es David störte. Er fand es nur nicht normal. Die anderen Mädchen aus seiner Klasse hingen immer gemeinsam auf dem Schulhof herum. Aber sie würde schon ihre Gründe haben, dachte er.
"Erzähl David, was du mir erzählt hast", sagte Lars und riss ihn damit aus seinen Gedanken.
"Also", sagte Simone sichtlich nervös. "Mein Vater ist doch bei der Polizei." Sie sah die beiden Jungen fragend an.
"Ja, und?" fragte David.
"Und... er ist heute Mittag zum Essen nach Hause gekommen und hat uns erzählt, was er und seine Kollegen heute morgen gefunden haben. Sie haben einen Anruf erhalten, dass im Zaun vom Schrottplatz ein Loch ist. Ihr kennt doch den alten Schrottplatz?" Die Jungen nickten wieder.
"Okay", fuhr Simone fort. "Mein Vater ging mit seinen Kollegen um das Gelände herum, weil das Tor verschlossen war. Ihr kennt doch die Geschichte, dass der alte Krug den Schrottplatz geschlossen hat, weil es da angeblich spukt. Na, egal. Auf jeden Fall hat einer der Polizisten ein Loch im Zaun gefunden. Von dem Loch führten Fußspuren auf das Gelände. Mein Vater und die anderen gingen den Fußspuren nach, bis zu einem alten Bus. Und wisst ihr, was die in dem Bus gefunden haben?" Sie sah zu Lars und David und die Jungen sahen sie fragend an.
"Was?" fragte David. "Nun sag schon."
"Eine Leiche", grinste Simone.
"Na, das ist doch ein Hammer", rief Lars und schlug David auf die Schulter. Er war völlig aufgeregt und hüpfte von einem Bein auf das andere. David konnte seine Begeisterung nicht teilen.
"Toll", sagte er. "Und was ist daran so ein Hammer?"
Lars zerrte an Simones Ärmel. "Los, sag's ihm."
"Die Leiche", sagte Simone. "Hatte Würgemale am Hals und auf dem ganzen Körper blaue Flecken. Aber, und jetzt kommt's, es gab nur Fußspuren von dem Toten, die zum Fundort führten. Aber keine anderen! Mein Vater hat gesagt, dass der Mann sich nicht selbst erwürgt haben kann. Aber, warum da keine anderen Spuren waren, konnte er sich auch nicht erklären." Sie sah zu David, dann zu Lars. "Was meint ihr? Sollen wir mal hinfahren und uns umsehen?"
"Klar,warum nicht", meinte Lars. "Vielleicht begegnen uns ein paar Geister! Huuuuuh!" Er griff nach Simones Haaren und zerzauste sie mit beiden Händen. Simone fing an zu kichern.
David ging an den Beiden vorbei in Richtung Tür und Lars und Simone sahen ihm verdutzt nach.Als er an der Tür angekommen war, drehte er sich zu ihnen um.
"Was ist?" fragte er. "Kommt ihr?"
Simone und Lars sahen sich einen Augenblick grinsend an und liefen zu ihm.

"Scheiße! Ist das hoch", meinte Lars und sah den Zaun hinauf. Die drei standen vor dem Tor, das durch eine Schiene im Boden nach rechts geschoben werden konnte. An der linken Seite war es mit einer schweren Eisenkette und einem großen Bügelschloss an einen Pfosten des Zaunes befestigt worden. David ging auf das Schloss zu und begann kräftig daran zu rütteln und zu ziehen.
"Tja", sagte er. "Da müssen wir wohl über den Zaun steigen."
"Spinnst du?" Lars zeigte ihm den Vogel. "Ich steig doch da nicht rüber. Hast du gesehen, wie hoch das ist?"
"Ja, schon", erwiderte David und zuckte mit den Schultern. "Aber irgendwie müssen wir ja rein."
"Wir können ja um das Gelände herum gehen und nach dem Loch im Zaun suchen."
Die beiden Jungen drehten sich um und sahen Simone an, die verlegen an ihnen vorbei schaute.
"Du bist gar nicht mal so blöd für ein Mädchen", sagte Lars und legte seinen Arm um sie. Er sah zu David. "Was meinst du?"
"Ja, gute Idee."
Sie einigten sich darauf, dass David rechts um das Gelände den Zaun absuchte, und Simone und Lars links um den Schrottplatz gingen. Wenn jemand etwas fand, sollte er oder sie laut pfeifen. Als sie losgingen, sah David noch einmal an dem Zaun hoch. Er überlegte sich, ob sein Vorschlag nicht einfacher gewesen wäre. Natürlich war er das. Aber er hatte schon bemerkt, dass Lars Simone imponieren wollte. Deshalb hatte er klein bei gegeben. Ihre Methode würde zwar länger dauern, aber David glaubte, dass er es ihr schuldig war. Schließlich war es ihre Geschichte. Oder, besser gesagt, ihre Leiche.
Plötzlich wurde er von einem schrillen Laut aus seinen Gedanken gerissen. Lars hatte nach ihm gepfiffen. David rannte los. Kurz nachdem er das Tor passiert hatte, sah er Lars neben einem Busch, der direkt an dem Zaun wuchs, stehen. Er winkte David hektisch zu sich.
"Was ist?" fragte David. "Habt ihr es gefunden?"
"Ja", sagte Lars und zeigte auf einige Maschen am Zaun, die notdürftig zusammen gedrahtet waren. Simone hatte sich schon an die Arbeit gemacht und versuchte die Drähte zu lösen.
"Soll ich dir helfen?" fragte David.
"Nicht nötig", meinte sie. "Ich hab's gleich."
Tatsächlich mussten die Jungen nicht lange warten. Simone erwies sich als sehr geschickt. Nach wenigen Augenblicken schlüpfte sie durch den Zaun auf das Gelände, wo sie versuchte ihre Hose von einem Fleck zu befreien, der bei ihrem Einbruchsversuch an ihrem Knie entstanden war. David und Lars folgten Simone. Als alle drei auf dem Schrottplatz standen sahen sie sich um.
"Was ist?" fragte Lars. "Sollen wir uns wieder trennen?"
"Lasst uns erstmal zusammen bleiben", meinte Simone.
David gab ihr recht und zeigte an ein paar Autowracks vorbei auf das Gelände. "Lasst uns da entlang."
Während die drei losgingen fragte David, wo man die Leiche gefunden hatte.
"Ich weiß nicht genau", sagte Simone. "Mein Vater hat irgendetwas von einem Bus gesagt."
"Ein Bus?" David sah sich um. "Wird ziemlich schwierig den hier zu finden."
"Ja", sagte Lars. "Hier stehen ja nur tausend Busse rum. Welcher war's denn?"
"Das weiß ich auch nicht", meinte Simone. "Aber die Polizei hat bestimmt irgendwelche Absperrungen gemacht, oder so."
"Ja genau", sagte Lars. Er drängte sich zwischen die Beiden und legte jedem eine Hand auf die Schulter. "Das hab ich mal im Fernseher gesehen. So machen die das immer, glaub ich."
Etwa zehn Meter vor ihnen machte der Weg eine Biegung nach links. Als sie um die Kurve gingen, sahen sie den Bus. Es war so, wie Simone es sich vorgestellt hatte. Um den Bus hatte man schmale Eisenstangen in den Boden getrieben, an denen man ein rot-weißes Plastikband geknotet hatte. So war ein Geländer im Abstand von zwei Meter um den Bus entstanden.
"Ich schätze hier sind wir richtig", sagte Lars. Er hob das Plastikband hoch und schlüpfte darunter durch. Simone und David folgten seinem Beispiel. Sie standen vor der Tür des Buswracks und keiner von ihnen hatte den Mut, die drei Stufen hinauf in das Innere zu gehen. Lars stupfte David an.
"Los", sagte er. "Du gehst zuerst."
"Warum ich?"
"Weil du mutiger bist als ich und weil Simone nicht kann."
"He", rief Simone. "Warum soll ich nicht können?"
"Na, weil du ein Mädchen bist."
"Das wollen wir doch mal sehen", sagte Simone trotzig und hastete die Stufen hinauf. Die beiden Jungen sahen ihr hinterher.
"Was ist?" fragte sie. "Wollt ihr da draußen Wurzeln schlagen? Oder habt ihr Schiss?"
Lars und David sahen sich verdutzt an. Das konnten sie nicht auf sich sitzen lassen. Schließlich waren sie Jungs.David wollte zuerst in den Bus steigen, als er von Lars zur Seite gedrückt wurde. Er musste sich an der Türkante festhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. "Hey", schrie er Lars hinterher. "Spinnst du?"
Lars drehte sich lachend um. "Erster!" rief er. David sah ihn grimmig an und zeigte ihm seinen Mittelfinger. "Arschloch!"
"Genau", sagte Lars. "Das ist mein zweiter Name. Lars "Arschloch" Müller." Er lachte wieder und Simone neben ihm fing an zu kichern. David stieg in den Bus. Als Lars und Simone sich wieder beruhigt hatten, sahen sie sich im Bus um. Es war ein wenig dunkel, da auf den Fenstern eine dicke Staubschicht lag und es draußen allmählich dunkel wurde. In dem Bus hing ein seltsamer Geruch, wie David fand. Es roch ein bisschen nach verfaulten Äpfeln.
"Hier stinkt's", sagte er.
"Ich bin es aber nicht", sagte Lars. Er huschte zwischen David und Simone durch, zum Fahrersitz. "Wow, geil!" rief er. Er fuhr mit einer Hand über den Sitz, um den Staub abzuwischen, und setzte sich. Er griff nach dem Lenkrad und machte mit seinem Mund Motorengeräusche. David verdrehte seine Augen und winkte mit der linken Hand verächtlich ab. "Kindskopf", sagte er und sah Simone an, die wieder zu kichern anfing.
"Lass uns nach hinten gehen."
Simone nickte und folgte ihm durch den Mittelgang in den hinteren Teil des Busses. David versuchte ein paar der umgestürzten Sitzbänke umzudrehen, in der Hoffnung darunter etwas Interessantes zu finden. Aber außer alten Schrauben, Dreck und Staub, fand er nur eine leere Bierflasche. Simone hatte mehr Glück. Sie kam zu ihm gelaufen und klopfte ihm auf die Schulter. David drehte sich um.
"Schau mal, was ich hier habe", sagte sie und hielt einen verrosteten Schraubenschlüssel hoch. David sah ihn sich an.
"Na ja", sagte er. "Ist ein Schraubenschlüssel."
"Ja", sagte Simone trotzig. "Aber immerhin habe ich etwas gefunden." Sie drehte sich um und suchte weiter. David hatte ein dummes Gefühl im Bauch.Vielleicht hätte er Simone etwas Begeisterung vortäuschen sollen. Er hatte sie sicher verletzt und das tat ihm leid. Er wollte gerade zu ihr gehen, als er Lars schreien hörte. David drehte sich zu ihm um, konnte aber nicht den Grund für seine Schreie erkennen. Erst als er bei ihm stand, sah er, dass Lars hinter dem Lenkrad eingeklemmt war.
"Wie ist denn das passiert?" schrie er. "Was hast du gemacht?" Er beugte sich über Lars, der wie wild mit seinen Beinen strampelte.
"Ich weiß doch auch nicht", schrie Lars. "Das ist auf einmal nach vorn gekommen und lässt sich nicht mehr zurückschieben. Hilf mir!"
David drückte mit aller Kraft gegen das Lenkrad, aber es ließ sich nicht bewegen. Im Gegenteil. Es schien sich immer fester gegen Lars zu stemmen.
"Ich krieg keine Luft mehr", schrie Lars.
Das Lenkrad presste sich so fest gegen Lars' Bauch, dass er nur noch kurze Atemzüge machen konnte. Er sah mit einem gequälten Blick zu David hinauf. Sein Kopf war rot angelaufen.
"Simone hol Hilfe", schrie David.
Er drehte sich zu Simone um, die nicht mehr da war. Er blickte in den hinteren Teil des Busses und suchte nach ihr.
"Ich bin gleich wieder da", sagte er zu Lars.
"Nein, geh nicht", schrie Lars, so gut es ging. "Hilf mir."
"Das versuch ich ja", sagte David.
Er rannte aus dem Bus und riss eine Stange aus dem Boden. Er zerrte an dem Plastikband bis es abriss und rannte zurück. Lars hatte eine seltsame Gesichtsfarbe. Es war eine Mischung aus rot und dunkelblau. David nahm die Eisenstange und klemmte sie zwischen das Lenkrad und dem Kunststoffrahmen hinter Lars, in dem früher eine Glasscheibe eingearbeitet war. Er klpfte die Stange fest.
"Das müsste halten", sagte David. "Ich bin gleich wieder da."
Lars hielt seinen Ärmel fest. "Geh nicht", presste er heraus.
"Ich bin gleich wieder da." David riss sich los und rannte nach hinten. Er rief nach Simone. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt. David suchte zwischen den Sitzbänken und hob die umgefallenen so weit er konnte hoch. Nirgendwo war eine Spur von ihr. Als er bei der letzten Bank angelangt war, sah er sie.
Sie lag hinter der vorletzten Bank. Ihre Beine waren unnatürlich zur Seite gedreht. Sie hatte ihre Augen weit aufgerissen und es machte den Eindruck, dass sie David erschrocken ansah.
David wollte schreien, doch er bekam keinen Ton heraus. Er hatte keine Luft in den Lungen. Er sah in die weit offenen Augen von Simone und dann auf den Schraubenschlüssel, der aus ihrem Mund ragte und von dem etwas Blut auf ihren Pullover tropfte.
Plötzlich hörte er hinter sich ein lautes Krachen. Der Kunststoffrahmen, an den er sie Eisenstange gepresst hatte, war durch den hohen Druck auseinander gebrochen. Lars gab einen erstickenden Laut von sich und David konnte erkennen, wie er auf dem Sitz zusammensackte. Er rannte zu ihm.
Lars Kopf hing regungslos nach vorn und das Lenkrad war beinahe in seinem Körper verschwunden. Es hatte seinen Brustkorb zerquetscht und Lars hatte sich noch kurz vor seinem Tod übergeben. Er hatte Blut und Essensreste auf seiner Jacke.
David stolperte rückwärts die Stufen herunter und fiel zwei Meter tief. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass der Bus in der Luft schwebte. David stützte sich ab und stand auf. Er konnte seinen Blick nicht von dem Bus abwenden. Er sah auf den Unterboden des Busses und konnte es nicht glauben.
Plötzlich waren die Fenster hell erleuchtet. Aus der offenen Tür drang ein gleißender Lichtstrahl, der von einem gewaltigen Luftstoß begleitet wurde. Der große Druck riss David von den Beinen. Er wurde ein paar Meter nach hinten geschleudert. Er landete in einem Schrotthaufen und stechender Schmerz durchfuhr ihn. Etwas steckte in seiner Schulter. David spürte, wie sich warmes Blut auf seinem Rücken ausbreitete. Vor ihm krachte der Bus auf die Erde und das Licht im Inneren erlosch. Ein paar Fensterscheiben zerbarsten und durch das Gewicht wurde Staub und Dreck aufgewühlt und weggeschleudert. David konnte die Erschütterung spüren. Danach verlor er das Bewusstsein.

Davids Mutter stand in dem Krankenhausgang und wartete auf den Arzt. Sie hatten sie bei der Arbeit angerufen und ihr gesagt, dass etwas passiert war. Was es war, wollte man ihr nicht mitteilen. Sie wusste, dass ihr Sohn immer ihre Telefonnummer im Geldbeutel hatte. So konnte er sie immer erreichen, wenn etwas passiert war. Und etwas war passiert. Sie erschrak. Der Arzt kam aus dem Zimmer, vor dem sie gewartet hatte.
"Herr Doktor, kann ich zu ihm?"
Der Arzt sah sie an. "Sind sie Frau Langer?"
"Ja", sagte sie. "Wie geht es meinem Jungen?"
"Nun, man hat ihn auf einem Schrottplatz gefunden. Er war ziemlich schwer verletzt, aber wir haben ihn wieder hinbekommen."
"Aber, was hat er denn auf einem Schrottplatz zu suchen?"
"Das wissen wir auch nicht. Ach, kennen sie einen Lars und eine Simone? Es sind wahrscheinlich Freunde ihres Sohnes."
"Ja", sagte Frau Langer. "Warum?"
Der Arzt kratzte sich am Kopf. "Na ja, er redete von den Beiden. Wahrscheinlich waren sie dabei. Aber die Polizei konnte sie bis jetzt nicht finden."
"Hat man denn alles abgesucht? Ich meine, auch auf dem Schrottplatz?"
"Ich denke schon", meinte der Arzt. "Aber sie sind seit über zehn Stunden verschwunden. Die Polizei geht sogar von einem Gewaltverbrechen aus. Der einzige, der Licht in die Sache bringen könnte, ist ihr Sohn." Er schob Davids Mutter auf die Tür zu.
"Er hat einen Schock, aber vielleicht redet er ja mit ihnen." Er öffnete die Tür. Frau Langer sah ihn an und nickte leicht. Der Arzt beugte sich zu ihr.
"Die Polizei glaubt, dass ihr Sohn weiß, wo die Kinder sind."
"Was soll das heißen?" Sie sah den Arzt entsetzt an. "Wollen Sie damit sagen, dass mein Junge..."
"Ich will gar nichts sagen", erwiderte der Arzt. "Es ist nur wichtig, dass man die Kinder findet."
Frau Langer nickte wieder und der Arzt schob sie in das Zimmer, in dem ihr Sohn lag. Er murmelte etwas, das sie nicht verstand. Erst als sie an seinem Bett stand, hörte sie es deutlich. Es waren nur zwei Worte.
"Bus...böse...Bus...böse..."
 
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Kommentare  

Hammerstory! Weiß gar nicht wo ich anfangen soll zu erzählen. Ich hatte so krasse Bilder vor den Augen. Erst die Story mit dem Obdachlosen (also wie er obdachlos wurde, der Teufelskreis usw)... Alles so realistisch. Kenne viele Obdachlose. Da habe ich ähnlich Geschichten gehört. Dann die Situation mit dem Geburstagskind. Dass der Junge so vernachlässigt wird. Du hast harte Realität mit Grusel und Fantasy verbunden. Es war einfach ein Genuss die geschichte zu lesen und der Spannungsfaktor war sehr hoch. Es hat mich ein wenig an X Faktor erinnert oder an Blair Wich Projekt. Halt richtig fett spannend. Bei dem Schrottplatz musste ich auch an diverse Filme denken, die ich mal sehen habe. Und bei dem Loch im Zaun kam auch eine Erinnerung an meine Kindheit. Ich mag es wenn eine Story so viele Assoziationen (?) und Bilder weckt. Respekt! DIe geschichte ist dir gelungen. Volle Punktzahl und einen schönen Tag Gruß Sabine

Sabine Müller (30.05.2006)

uhhh...
uaaaaaahhh...
wie gruselig...
*gänsehaut*
*mich schüttel*

...aber zur kritik: den geburtstag von david fand ich bissy überflüssig reingesteckt und (wie Maxson schon meinte) ist das böse zu wenig beschrieben. aber was die story bei mir ausgelöst hat siehst du ja oben ;o) weiter so! eine echt gute story!


*Becci* (02.12.2002)

Mysterie vom Feinsten.
Mir fehlt aber eine Beschriebung des Bösen.
Sind es Dämonen, sind es Geister?
Deine in gutem Schreibstil Online gestellte Geschichte schreit nach einer Fortsetzung.
5 Punkte


Maxson (30.11.2002)

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