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20 Seiten

Kind

Romane/Serien · Nachdenkliches
© Kyra
Sie verschwindet, wie immer wenn es an der Haustür läutet, hinter den Vorhängen, die die Diele von einem dunklen Flur trennen. Sie liebt diese rauhen, grob gewebten Leinenportieren, wenn sie ihr Gesicht nahe genug an den staubig riechenden Stoff bringt, kann sie die ganze Diele übersehen. Sie beugt sich vor, damit sie nicht mit ihrem Körper den Stoff berührt
Sie ist es so gewöhnt sich zu verstecken, daß nicht die geringste Bewegung ihre Anwesenheit verrät.
Diese riesige, ehemals herrschaftliche Wohnung ist ihr Wald, ihr Spielplatz voller Gefahren, weil in jedem der vielen Zimmer ein fremder Mensch wohnt. Wie eine magere, scheue verwilderte Katze sitzt sie stundenlang in dunklen Winkel und beobachtet diese Erwachsenen. Es gibt außer ihrer Mutter und ihrer Großmutter nur noch einige Mitbewohner vor der sie sich ohne Scheu zeigt. Auch hier behält sie das Verhalten einer Katze bei, wenn beispielsweise die Pastorentochter aus dem Schwäbischen von ihrer Arbeit in der Bibliothek nach Hause kommt. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer muß sie an dem Vorhang vorbei in den dunklen Gang, ihr Zimmer ist am Ende des Flurs und das Licht läßt sich nicht von der Diele aus anmachen. Dann springt das Kind aus seinem Versteck und stürzt sich wie ein verspieltes, kleines Raubtier in einer Scheinattacke von hinten auf sein schreckhaftes Opfer. Man hat sie oft gebeten sich doch wie ein normaler Mensch zu nähern - sie kann es nicht - es ist ihre Art Freude auszudrücken, Freude darüber daß endlich eine vertraute Person kommt. Fräulein Dauer ist eine große, grobknochige eckige Blondine, mit breitem Becken und schmalen Schultern, die Fußgelenke zu dick , die Waden zu dünn, mit bläulichen Narben von Frostbeulen an den Händen. Sie ist akkurat, freundlich, großzügig, aber nicht verschwenderisch, dabei nicht mütterlich, eher ungelenk im Umgang mit Kindern. Im Grunde ihres Herzens ist sie eine Romantikerin aber gleichzeitig sehr vernünftig - eine der beiden Eigenschaften ist ihr bei ihrem Liebesleben immer im Weg. Sie lädt das Mädchen häufig zu sich aufs Zimmer ein um ihr Quarkbrot, eingelegter Paprika und Salus-FrühundAbendTee zu geben. Sie bekommt von ihrer liebevoll besorgten Mutter auch Freßpakete vom Bodensee mit Hagebuttenmarmelade, Plätzchen, eingelegtem Obst und Schweizer Schokolade die sie bereitwillig mit der Großmutter und dem Kind teilte.

Heute ist ein besonderer Tag, eines der zehn Zimmer wird neu vermietet. Es ist der größte, schönste Raum der Wohnung mit Stuckdecke und einem großen Erker der fast die ganze Frontseite des Zimmers einnimmt.
Seit gestern Abend klingelt das Telefon, es gibt so viele Bewerber und jetzt kommen diejenigen die die erste Auslese ihrer Großmutter überstanden haben. Es sind meist Studenten, ordentliche junge Menschen, die durch ihr bemühen seriös zu wirken hölzern und nervös sind. Die Großmutter kennt kein Erbarmen, ist dabei scheinbar unvoreingenommen, sie quält keinen unnötig, sie erwartet nur freimütige, offene Auskunft, es ist wie vor Gericht, ihre Fragen stellen keine persönliche Kritik dar, sondern sind nur Teil des Verfahrens, sie hat die innere Überzeugung eine höhere Instanz, die nur ihr bekannt ist, zu vertreten. Man kann so was natürliche Autorität nennen, wenn man der Ansicht ist, daß Autorität etwas natürliches ist.

Alle die sie da antreten müssen sie ihr erzählen woher sie kommen, was die Eltern machen wo sie arbeiten oder - besser - studieren und wovon sie die Miete bezahlen wollen. Auch die politische Einstellung wird nicht außer Acht gelassen, belesen sollten sie sein, über das gegenwärtige Geschehen informiert und eine eigene, nicht zu konservative Meinung dazu haben. Eigenheiten werden akzeptiert, wenn sie Niveau haben. Das kleine Mädchen, in den seltenen Anfällen von Zärtlichkeit von ihrer Großmutter Kätzchen genannt, liebt dieses Schauspiel. Sie genieß die Unsicherheit all dieser Menschen vor denen sie selber Angst hat, aber durch ihre Großmutter hat sie jetzt, zwar unsichtbar für die anderen, an ihrer Macht Teil.
Eine junge Dame aus Straubing hat sich besonders hübsch gemacht, trägt einen engen Rippenpulli, sie hält sich, sichtlich beherrscht, sehr aufrecht, die kleinen Brüste werden durch den BH exakt getrennt und keck nach vorne gestreckt, sicher hat ihr die Mutter immer gesagt, 'halt dich gerade Kind, sonst bekommst du noch einen Buckel' oder der Vater 'wer so krumm steht kommt auch nicht aufrecht durchs Leben', die beste Freundin 'eigentlich hast du ja eine gute Figur...', diese Sätze bohrten sich jetzt wie Finger zwischen ihre Schulterblätter. Der dunkle Rock ist kurz, aber nicht zu kurz. Sie hat sich bemüht, das aufrecht zu erhalten was sie in Straubing vermutlich immer "mein Stil" genannt hatte - ihre Eltern hatten weit schillernde, aussagekräftigere Bezeichnungen dafür -, und trotzdem solide auszusehen. Ein schwieriges Unterfangen, was ihr zwar den Charme einer Ausreißerin gibt, ihr aber, vielleicht hauptsächlich durch die toupierten Haare und das zu sorgfältige Make-up ein, -leider- sehr unintelektuelles Erscheinungsbild gibt. Sie wird von der Großmutter abschätzig, aber scheinbar freundlich taxiert, noch lächelt die junge Frau ungebrochen, siegesgewiß, hält ihr schwarzes Handtäschen vor den mädchenhaft rundlichen Bauch und erklärt der alten Dame, daß sie aus Straubing stamme und hier in München eine Ausbildung zur Dolmetscherin machen möchte. Jetzt wird sie schon lockerer, entspannt sich, stellt anmutig ein Bein vor, sieht zufrieden auf ihren hübschen Fuß in den neuen Schuhen mit diesen wunderbar hohen Absätzen, ihre Fesseln sehen damit so schlank aus, die Waden so wohlgeformt. Sie erfährt den vernichtenden Schlag der Großmutter völlig unerwartet und ungeschützt.
"Es kommen mit keine Pfennigabsätzte ins Haus, das Parkett, sie verstehen..."

Damit ist die Sache für die Großmutter erledigt, 'der nächste bitte', wie beim Arzt als Kassenpatient.
Auf Zehenspitzen schleicht die Dolmetscherin in spe zur Haustür, ihre Mutter in Straubing hätte es ihr schon vorher sagen können, hat es ihr oft genug gesagt, ein anständiges Mädchen zieht so was nicht an, sie haßt München plötzlich, vielleicht hätte sie doch, wie ihre Mutter es gewollt hatte, bei dem Steuerberater ein Lehre machen sollen. An der Wohnungstür dreht sie sich noch mal um, immer noch auf Zehenspitzen, will was sagen - aber die alte Dame wendet sich schon dem nächsten Kandidaten zu der im Treppenhaus warten mußte und sich sofort beim öffnen der Tür an ihr vorbei schiebt, aber nicht ohne ihr eine kurzes Grinsen zu schenken.
Es ist ein junger Mann, lässig gekleidet mit Jeans und Lederjacke. Er setzt sich sofort unaufgefordert an den rechteckigen Tisch mit den vier fast antiken Stühlen an dem die Großmutter ihre Befragungen vornimmt. Das ist nicht üblich, wenn einer aufgefordert wird sich zu Setzten bedeutet es, daß er in die engere Wahl kommt. Vorher haben die Prüflinge ihre Antworten stehend zu geben.
Die alte Dame räuspert sich zieht die Augenbrauen, die sie immer leicht mit einem angesengten Korken nachzieht, etwas hoch und schweigt.
Sie sieht den jungen Mann nur an und schweigt. Er lacht unbehaglich auf.
"Na was soll ich ihnen jetzt von mir erzählen, da gibt es nicht viel..."
"Erzählen sie alles"
Das ist der einzige Satz den die Großmutter sagt, sie schweigt nur noch und beobachtet. Erst ist er forsch, dann werden die Pausen länger, die Sätze enden fragend, er verliert sich in Erklärungen, erzählt Anekdoten, er sieht die Großmutter an, dann starrt er wieder auf den Tisch, er fährt mit dem Daumennagel die Tischmaserung nach, öffnet und schließt die Knie, setzt sich plötzlich zurück und streicht sich die Haare nach hinten, sucht in seiner Jacke nach Zigaretten, steckt sie wieder zurück als er bemerkt daß kein Aschenbecher auf dem Tisch steht, und springt schließlich nach einigen Minuten mit dem aufbegehrend gequälten Ausruf
"Das ist doch nicht normal", auf und verläßt fluchtartig die Wohnung.

Die Großmutter ist ein kleine, zierliche Frau, die aber auf jeden Fremden beeindruckend fast einschüchternd wirkt. Das fehlende Körpervolumen gleicht sie durch eine tiefe, laute aber gepflegte Stimme aus mit der sie auch einen großen Raum beherrschen kann. Sie trägt immer ein schwarzes, männlich geschnittenes Kostüm mit gerader Jacke und wagenlangen Rock, eine weiße oder beige Bluse und um den Kragen eine große locker gebundene schwarze Seidenschleife, die Haare betonen mit dem kurzen Herrenschnitt ihr lebhaftes, aber herrisches Gesicht. Sie zeigt keinen Schmuck außer einem Eisenring an dem Finger wo früher ihre Ehering gewesen war. Sie erzähte immer, daß sie diesen Ring nach einem Bombenangriff gefunden hätte, er würde von der Bombe stammen. Es ist ein bleifarbiger , flacher Streifen Metall, dem das jahrelange Tragen jede scharfe Kante aber nicht seine Welligkeit genommen hatte. Dieser Ring paßt gut zu ihren grobknochigen alten Händen und schmückt sie besser als es jeder Diamantring gekonnt hätten. Sie hatte nichts von der Zartheit alter Damen an sich, die Verantwortung in ihrem langen Leben haben ihr alle Weichheit genommen, sie konnte sich durchsetzten und man merkte ihr an, daß sie viel Auseinandersetzungen siegreich überstanden hatte, sie war wie ein altes kluges Tier, sie wußte daß sie einem langen Kampf nicht mehr Stand halten konnte, sie mußte ihrem Gegenüber direkt Achtung einflößen. Es gibt keinen ihrer Mieter der nicht den größten Respekt vor ihr hätte. Sie hatte vielleicht ihre Reichtümer verloren, ihre sogenannten Güter - es hätten ebensogut Königreiche sein können - aufgeben müssen aber ihren Titel "Exzellenz" bewahrte sie vor allen Übergriffen auf ihr Eigentum, er haftete ihr so an, daß er selbst in dieser traurigen Umgebung von verlorener Pracht nie an Glanz einbüßte. Ihre Erscheinung setzte immer die Welt ins Unrecht nicht den passenden Rahmen für sie zur Verfügung zu stellen, ohne daß sie sich jemals darüber beklagt hätte, es war zu offensichtlich ein Fehler des großen Inszenators.
Das kleine Mädchen hinter dem Vorhang war sich ihrer verwandtschaftlichen Beziehung zur Herrscherin durchaus bewußt, aber sie hatte nun mal Angst vor allen fremden Menschen und die Welt, selbst ihre kleine Welt, war voll davon. Außerdem gab es das Problem, daß in der Hierarchie ihre Mutter vor ihr kam, eine ganz unsicher und unzuverlässige Kandidatin, häufig betrunken, schön, sehr weiblich und anziehend, aber auf eine Art verkommen, die eigentlich nur in sozialkritischen Filmen vorkam. Zumindest nicht in Filmen in denen sie oder ihre Großmutter mitgespielt hätten. Aber das weiß das kleine Mädchen noch nicht.
Der schrecklichste Augenblick kam wenn die Großmutter sich für einen Mieter entschieden hatte. Sie kam mit schnellen Schritten zum Vorhang und zog das Mädchen hervor. Sie wehrte sich nicht - versuchte weiterhin unsichtbar zu bleiben, gab den Fremden die Hand und blieb reglos stehen bis sie fühle daß keiner sie mehr ansah.
Aber dieses mal ist es anders, der junge Mann der alle Prüfungen bestanden hatte, sieht sie kaum an, ihm ist es genauso unbehaglich einem unsichtbaren Kind die Hand zu geben.

Die Großmutter stellte vor
"Das ist meine Enkelin, Wawa"
"Hasko"
Er sagt es mit einem gekünstelten Lachen. Sie fühlt seine Hand, sie ist kalt und etwas feucht. Ihre Kinderhand verschwindet in der seinen, sie sieht sie an, schmal knochig, und von dicken Venen überzogen die sich unter der weißen Haut wölben.
Wawa ist erstaunt, er hatte uralte Hände, wie ihre Großmutter, nur ohne Runzeln, nur seine Haut ist nicht so durchscheinend, aber es sind nicht die Hände eines Mannes. Sie hebt den Blick, sie ist sicher daß er sie nicht ansieht, er ist genaso verzagte wie sie.
Während er mit der Großmutter die Einzelheiten seines Einzugs bespricht, zieht sie sich halb hinter den schwarzen Rock zurück und beobachtet den Mann. Er ist groß, schlank, fast hager, die leicht gelockten dunklen Haare sind nicht ganz kurz geschnitten aber mit einem ordentlichen Scheitel zur Seite gekämmt. Man konnte die Spuren der Zinken noch sehen, sicher hatte er sich vor der Wohnungstür noch schnell gekämmt. Er trägt einen ordentlich gebügelten braunen Anzug mit einem feinen Karomuster, ein weißes Hemd, eine eng gebundene dunkelblaue Krawatte und hat eine kleine schwarze Aktentasche bei sich. Sie starrt in sein Gesicht, sie hat noch keine Vorstellung davon was ein gut aussehender Mann ist, sie sieht ihn einfach an und das Bild dringt in sie ein, wertfrei, voller Neugier läßt sie sich auf seine Erscheinung ein, sein starker Bartwuchs schimmert durch die blassen Wangen, die Augenbrauen sind breit und sehr schwarz, die Nase fleischig und der Mund breit und weich, aber das wichtigste ist der Audruck seiner großen, tiefbraunen Augen, er weicht ihrem Blick aus, sie kann ihn in Ruhe betrachten.

Diese Augen sind ohne jede Härte und Forderung, wie eine Hängematte, man kann sich hineinfallen lassen, in ihnen schaukeln, sie fangen einen auf ohne zu beengen, hätte Wawa nicht solche Panik vor tiefem Wasser hätte sie auch denken können - wie das Meer - und jetzt sind sie wie ein Meer bei Ebbe, haben sich zurückgezogen, lassen sie im feuchten Sand nach Muscheln suchen und in Quallen stochern.
Wawas Welt ist was Fremde angeht klar eingeteilt, es gibt darin Frauen die sind entweder wie ihre Mutter unberechenbar, befremdlich, manchmal auch zärtlich und verspielt, aber ohne Autorität. Anständige Frauen wie die Pastorentochter, schwach und schreckhaft. Dann Männer, Störenfriede wenn sie in das Leben ihrer Mutter und damit in das ihre eindrangen. Ansonsten waren Männer lauter und bedrohlicher aber auch interessanter und eigenartiger als Frauen, warum eigenartig wußte sie auch nicht. Sie wußte nur daß es Dinge zwischen Männern und Frauen gab die sie brennend interessierten, über die ihre Mutter sie auch bereitwillig aufklärte, die sie aber einfach nicht verstand. Ihre Mutter freute sich immer wenn sie sie über Männer ausfragte. Sie zeigte ihr anatomische Bücher und tippte mit dem Finger auf eine Stelle oben zwischen den Beinen dieser menschlichen Schnittmuster, denen man bis ins Herz sehen konnte. Wawa sah auf die Stelle von der sich der Finger zurückgezogen hatte, sah immer wieder auf die Stelle und verstand trotzdem nicht was dort sein sollte. Zumindest hatte sich dadurch der Bereich ihrer Neugier auf das Gebiet zwischen Gürtel und Beinansatz konzentriert. Da es sowieso der Teil der Erwachsenen war der sich für sie in Gesichtshöhe befand konnte sie ihn ausgiebig studieren ohne das es auffiel. Aber was es auch immer war, sie kam nicht hinter das Geheimnis.
Einmal fragte Wawa ihre Mutter wie sie zwischen den Beinen aussähe, möglicherweise war das die Lösung, ihre Mutter sah da vielleicht anders aus als sie selber. Ohne Umschweife zog sich die Mutter den Schlüpfer aus, löste die Strapse und legte sich mit weit gespreizten Beinen auf das Bett. Sie lag jetzt ganz entsapnnt die Neylonstrümpfe bis fast auf die Knöchel gerutscht auf dem Bett. Ihre Unterschenkel baumelten von der Bettkante, einer ihrer Pumps baumelte noch am Fuß, den anderen hatte sie schon weggekickt, sie zog noch an ihrem Rock herum der als Wulst um ihre Hüfte lag, damit er sie nicht drückte, langte auf ihren Nachttisch und gab Wawa eine kleine blauweiße Taschenlampe in die Hand und sagte ihr, sie solle sich alles in Ruhe ansehen. Wawa fühlte sich falsch verstanden, die Antwort kam ihr zu schnell und direkt, sie war aber höflich und leuchtete mit der Lampe in das dunkle Dickicht der Haare, mit den Fingern zog sie vorsichtig die Schamlippen auseinander. Was sie sah gefiel ihr nicht, es roch nach Seife und Fisch, die Haut war weich, dunkel und etwas feucht. Ihre Mutter hatte Haare, wo bei ihr noch alles nackt und weiß war, sie roch auch anders und diese braune, lappige Haut gefielen Wawa nicht. Sie knipste das Licht aus, alle diese Dinge hatten zwar mit dem Geheimnis zu tun, was sie so unruhig machte, aber jede dieser Antworten ließen sie noch ratloser werden.

Über ihre Bedrohlichkeit hinaus waren Männer in ihrer Umgebung allerdings ohne nennenswerten Einfluß. Und über den Frauen und Männern stand als unangefochtene Herrscherin ihre Großmutter. Sie war die Regentin dieser Welt und Wawa wäre es nie in den Sinn gekommen, daß ein Mann ein solche Rolle haben könnte. Sie mag vor vielem Angst haben, aber das bedeutet nicht daß sie Respekt hätte. In manchen ihrer Träume ist sie die Herrscherin, wie ihre Großmutter, es kommt ihr nicht in den Sinn etwas anderes zu werden als Exzellenz.
Wawa war jetzt sechs Jahre und hatte sich gerade in einen Jungen namens Axel aus ihrer Klasse verliebt. Sie will mit Axel irgendwelche Dinge tun, sie weiß nur nicht was eigentlich, es ist erregend aber das einzige was ihr einfällt ist sich vorzustellen ihn an Bauch zu streicheln, oder ihn zu fesseln und zu kitzeln. Darum spielt sie so gerne Räuber und Gendarm, aber sie ahnt daß es noch andere Möglichkeiten gibt, nur was... In der Schule ist sie still und verschlossen. Hier kommt ihr ihre Fähigkeit sich unsichtbar zu machen sehr zu nutze, sie wird nur selten aufgerufen. Die Unsichtbarkeit in der Schule ist eine ganz andere als die hinter dem Vorhang. Wenn sie auf ihrer Schulbank in der ersten Reihe sitzt hat sie immer ihr Gesicht zum Lehrer gewandt vermeidet aber jeden direkten Blickkontakt, Sie macht ein aufmerksames Gesicht und scheint jedem Wort zu lauschen während ihre Gedanken zwischen den aufgereihten Buntstiften und dem Spitzer langsam durch die Tischplatte und den gewachsten Linoleumboden wegtauchen. Wofür Buddhistische Mönche Jahre brauchen können die meisten Schulkinder, es ist die Fähigkeit in den eigenen Tiefen zu versinken und sich, ohne nachzudenken, auf der zarten und seidigen Oberfläche der Gedanken treiben und schaukeln zu lassen. Das geht leider später verloren, man wird auf effiziente Aufmerksamkeit getrimmt.

Der Klassenlehrer ist ein Krüppel, hat einen lahmen Arm und einen Klumpfuß. Seine Kleider riechen wie verstaubter Joghurt und in seinen Mundwinkeln und auf seiner Unterlippe bildet sich beim Sprechen immer ein zäher weißer Speichel. Nur wenn er sich ereifert fliegen kleine Klümpchen davon auf die Schultische der ersten Reihe.
Die Großmutter ist jetzt fertig mit Hasko, er soll am nächsten Tag die erste Miete bringen, dann könnte er Ende des Monats das Zimmer beziehen. Wie alle Zimmer der Wohnung ist auch dieser Raum möbliert, ein großer rechteckiger Holztisch mit einer Schublade steht im Erker, davor ein Stuhl, an der Wand ein halbrunder Eckschrank mit einer Glasvitrine, ein Bett und zwei Sessel und ein Tischchen. Von der Decke hängt ein Lampe in Form eines überdimensionalen Käselaibs, ein Drahtgestell mit Bast umwickelt, der das Zimmer in ein trübgelbes, gleichmäßiges Licht taucht, außerdem noch eine Stehlampe die mit ihrem roten, gerafften Stoffschirm den staubig-goldenen Troddeln und dem aufwendig verzierten goldenen Fuß aus der Requisitenkammer eines Theaters stammen könnte. Wawas Großmutter ist gnädig gestimmt und bietet ihm noch eine Kommode an, sie steht jetzt sowieso nur im Weg.
Es muß noch unterschreiben sich an die strikte Hausordnung zu halten, Küchenbenützung bis acht, keine nächtlichen Damenbesuche und keine laute Musik ab zehn.
Hasko ist mit allem einverstanden. Er weiß er kann sehr froh sein diese Unterkunft bekommen zu haben, schließlich ist er kein Student, eigentlich die Grundvoraussetzung , ein Arbeiter käme für die Großmutter nicht in Frage. Sie ist zwar überzeugte Kommunistin, sie ist bereit gedanklich und in flammenden Reden für die Freiheit der Volkes in Rußland und China einzustehen und kann auf das belesenste ihre marxistischen Theorien auseinandersetzen - ein pedantischer Kleingeist wer ihr vorwürfe in ihrer Wohnung keine Arbeiter zu dulden. Was als reiner Zynismus erscheint kann sie nur Kraft ihrer exzentrischen Persönlichkeit zu etwas verbinden, was glaubwürdig ist, zumindest solange man mit ihr zusammen ist. Wenn man über sie erzählt zerfällt sie in geradezu groteske Einzelteile, sie gehört zu den Menschen von denen man gerne sagt, "du müßtest sie selber kennen..."
Hasko, der als Werbeassistent arbeitet, läßt sie die leichte Verachtung spüren, er ist kein Intellektueller, aber da seine Verlobte, von der er bereitwillig berichtet, Kunst studiert, wertet es ihn gerade noch genug auf um die Hürde zu nehmen.

Wawa ist mit der Wahl ihrer Großmutter einverstanden. Sie hat sich inzwischen in einen verschlissenen alten Ledersessel in der Diele zurückgezogen, er steht in einer durch zwei Säulen abgetrennten kleinen Nische der Diele. Dieser Sessel diente nachts Fräulein Zink, dem Hausfaktotum, mit einem Stuhl zusammengeschoben, als Bett. Damit dieser Anblick keinen störte, wurde abends ein Stück alten Samtvorhangs an Haken zwischen die Säulen gespannt. Jetzt tagsüber stand der Sessel etwas verloren, mit dem Rücken zur Diele in dem Refugium und diente Wawa als eins ihrer bevorzugten Verstecke. Kniend konnte sie gerade über die Sessellehne spähen, unbemerkt in dem dämmrigen Raum, überblickte sie von hier aus die ganze Diele. Aber diesmal waren ihr fremde Augen gefolgt, und als sie sich sicher und unbemerkt wähnend über die Lehne lugte, trafen sich ihre Augen mit denen Haskos. Normalerweise wäre sie sofort in die Tiefe des Sessels zurückgetaucht, aber seine Augen hielten sie fest. Er sah sie weder freundlich noch neugierig an - wie man Kinder eben so ansieht - seine Augen waren traurig, sehnsüchtig und scheu. Sie konnte nicht anders als den Blick erwidern. Sie hätte gerne noch einmal seine Hand gespürt, aber jetzt konnte sie nicht wieder aus ihrem Versteck, ein entdecktes Versteck ist eine Peinlichkeit, Wawa versuchte ihre Situation zu retten und begann etwas unentschlossen auf der Lehne herumzuturnen.
Hasko verabschiedete sich von der Großmutter und warf ihr beim verlassen noch einen kurzen Blick zu. Wawa fühlte daß dieser Blick ihr wie ein kurz aufflackerndes Zündholz das Geheimnis beleuchtete, das große Geheimnis für das sie immer nur falsche Antworten bekam. Dieser kleine Augenblick ließ ihr keine Zeit sich zu orientieren, aber sie fühlte wie sich ihre Schenkel stärker um die breite Armlehne schlossen auf der sie inzwischen wie ein mageres kleines Äffchen hocke.

Sie mußte sich bewegen, sie rannte so schnell sie konnte den langen Flur in den hinteren Teil der Wohnung herunter.
Hier war die Küche und hier würde sie auch Fräulein Zink treffen. Sie saß tagsüber immer in der großen Küche an einem Tisch, drehte sich mit altem Zeitungspapier und Tabak kurze dünne Zigaretten die sehr ungleichmäßig abbrannten und bei denen sie sich immer beim letzten Zug mit einem leisen Fluch die Finger verbrannte. Das Faktotum war ein altes Fräulein, die von der Großmutter wie ein Leibeigene gehalten wurde. Sie hatte sie durch allerlei kriegerische Unbilden über viele Umwege von Pommern nach Bayern verschlagen. Ihren wahrscheinlich einmal umfangreichen Verstand konnte sie auf dieser Flucht nur teilweise mitnehmen, es war unglücklicherweise der religiöse Teil den sie nicht in Güterwagongs und Durchgangslagern verloren hatte. Unglücklicherweise, weil sie, die fanatische Lutheranerin, mitten in Bayern aus dem Sog der Bewegung erwachte. Meist war sie in eine babyblaue zu enge Strickjacke und einen langen schwarzen Rock gekleidet. Sie trug ihr dünnes gelbliches Haar zu einem winzigen Knoten gedreht und bestand vermutlich deshalb auf die Anrede Fräulein, um keinen in Zweifel über ihre intakte Jungfräulichkeit zu lassen. Bei ihr konnte man, wie es häufiger vorkommt, mit dem Schwinden aller weiblichen Reize, die umgekehrt proportionale Zunahme der Furcht vor finsteren Gesellen beobachten, die es auf ihre Unschuld abgesehen haben könnten.
Irgendwann hatte ihre wirre, Halt suchender Seele sie wie ein erschöpftes, einsames Kind an die Rockschöße der alten Dame getrieben, hier fand ihr verrückter Geist Schutz vor Behörden, Ämtern und beleidigten Katholiken, dafür gab sie der Großmutter die Reste ihrer schwinden körperlichen und geistigen Kräfte, machte Einkäufe fegte die Küche und war auch zuständig für das schrubben des Parketts; durch die langen Jahre dieser Pflege waren allerdings die aristokratisch schimmernden Dielen zu einem grauen Holzboden mit breiten Ritzen zwischen den Brettern mutiert. Wawas Mutter hatte ihr einmal erzählt daß, wenn man eine Flasche Tinte in diese staubigen Fugen schütten würde, es bei den Bewohnern in der darunterliegenden Wohnung wunderschöne blaue Wolken an der Decke gäbe. Wawas Versuche blieben allerdings erfolglos und unbemerkt, bis auf das Fehlen der Tinte, entweder wollte die Gesangslehrerin die die Wohnung darunter bewohnte den Anblick der blauen Wolken mit keinem teilen, oder die Tinte war inzwischen in kleineren Flaschen abgepackt als in der Kindheit ihrer Mutter, was gut möglich war, da auch ihre Großmutter gerne in merkwürdigen Maßeinheiten, wie Stock, Fuder oder Klafter sprach.

Ansonsten war Fräulein Zink wie eine Leibeigene, einfach zur Verfügung, auch wenn der Raduis ihrer Einsatzmöglichkeiten klein war behielt sie nur sehr wenig für sich zurück. Eines der wenigen Dinge war, daß sie wenn es ihr die innere Unruhe erlaubte, Postkarten auf Pressspanplatten kopierte, dazu zeichnete sie ein genaues Gitternetz und übertrug jede Einzelheit mit Pinsel und Plakafarbe auf die sorgsam mit Deckweiß grundierte Fläche. Wawa sah ihr dann immer bewundernd zu, ihre Mutter malte auch, aber es waren immer wirre, verzerrte Bilder, düster und beängstigend - beängstigend vor allem weil sie Wawa dazu schwer verständliche Geschichten von eingekerkerten Menschen, Mord und Verrat erzählte. Es gab beispielsweise eine Bleistiftzeichnung ihrer Mutter, ein Baum im Mondlicht, darunter saßen drei nackte Frauen, eine etwas abseits. Zwei der Frauen saßen zusammen unter diesem Baum an einer lohdernden Feuerstelle, auf einem Dreifuß über dem Feuer stand ein großer Topf. Die Mutter erzählte Wawa daß die beiden Frauen die dritte, die sich etwas zurückgezogen hatte vergiften wollten, das Gift war schon in dem Topf, gleich würden sie die Unwissende rufen und ihre von dem vergifteten Essen geben. Es war also kein Wunder, daß Wawa die Hafenansichten von Fräulein Zink sehr viel schöner und vertrauenserweckender fand - Wawa wollte zumindestens den Bildern glauben können, das Leben war verwirrend und gefährlich genug - und hier war ein Boot ein Boot, die Fischer, freundliche weißbärtige alte Männer mit Pfeife, spannten Netze auf, und die Sonne senkte sich goldrot über den schimmernden Wellen. Hier konnte sie träumend an der Bucht spazieren gehen ohne eine verborgene Gefahr vermuten zu müssen.
Fräulein Zink hatte die Angewohnheit sich in einem dichten Schwall von leise gemurmelten Verwünschungen zu bewegen die sie wie ein zarter düsterer Umhang umwehten und die sie beim Verlassen eines Raumes wie eine Wortschleppe nach sich zog.

Draußen konnte es allerdings passieren, daß sie durch einen provokant katholischen Blick gezwungen war ihren Flüchen eine direkte, scharfe Stoßrichtung zu geben. Dann allerdings hallte die ruhige von alten Bäumen gesäumte Straße wider von ihren laute Schmähungen. Das Fräulein stand in solchen Fällen mitten auf dem breiten Bürgersteig, in der einen Hand das Einkaufsnetz mit den frischen Poreestangen, den Möhren, dem Waschpulver und dem bürgerlichen Anstand, die andere Hand drohend gegen den bayrischblauen Himmel geballt, der dunklegraue Regenmantel war schon halb von der Schulter geglitten und die weiße Baumwollbluse auf der zornigen Seite aus dem Rock gerutscht - Wawa mußte nach draußen laufen und die Schreiende ins Haus ziehen.
Die Herrin des Hauses war genaugenommen nicht die Großmutter von Wawa sondern ihre Urgroßmutter, aber das zog immer die Frage nach der Großmutter nach sich. Diese Großmutter war, in den Augen der alten Dame, gänzlich unbedeutend gewesen, eine Tartarin, hübsch, gewöhnlich, nur eben zufällig von ihren Sohn geschwängert. Sie empfand es als ihre Pflicht Wawas Mutter aus dieser unangemessenen Umgebung zu befreien und nahm, als der fortschreitende Krieg es ihr klüger erscheinen ließ, ihre Enkelin ohne zu fragen mit sich in Richtung Westen. Wawa zog es vor ihre Urgoßmutter nicht so zu nennen , fremde Menschen verstanden unbedeutende Großmütter die man irgendwo zurückgelassen hatte so schlecht und stellten Erwachsenenfragen wie.."aber was macht sie jetzt...willst du ihr nicht mal schreiben...oh....bist du nicht traurig darüber.."
Wawa hatte mit dem kleinen übriggebliebenen Rest ihrer Familie mehr als genug, wenn ihr die alte Dame und ihre, immer in Auflösung begriffene Mutter nicht reichte, hatte sie immer noch einen wahnverstörten Vater an der Nordsee dem sie Bilder malen und Briefe schreiben konnte. Dieser alte Mann, mit dem sie glücklicherweise wenig zu tun hatte, war die männliche und aggressivere Variante von Fräulein Zink. Männlich weil er die Umstände nicht nur wie sie verwünschte, verfluchte und beklagte, sondern weil er, wie es ein Mann tun sollte, versuchen wollte unter Einsatz seiner ganzen Kraft das Böse zu vertreiben. In einer anderen Zeit und Kultur hätte er möglicherweise großes Ansehen damit gewonnen.
Er lebte mit seinem wilden, inbrünstigen, katholischen Glauben mitten in einem protestantischen Landstrich. Seine Bemühen die Welt zu retten beschränkte sich nicht nur auf Drohungen, er war ein Mann der Tat. Wenn er zwischen vermeintlich harmlosen Sonntagsspaziergängern den Satan erblickte rannte er furchtlos, ohne Vorwarnung, grollend bist schrille Töne mit dazwischen verirrten Worte ausstoßend, auf Beelzebub zu, der von sich allen anderen unbemerkt zwischen das unwissende Volk geschlichen hatte. Wawa konnte nicht recht beurteilen ob er nun recht hatte, aus den Geschichten und Märchen die sie kannte war es durchaus nicht ausgeschlossen. Aber die anderen Menschen zeigten sich meist sehr undankbar für seinen aufopferungsvollen Einsatz und riefen nach Polizei und Arzt. Polizei für den Vater, Arzt für den Teufel.
Wenn dann irgendwelche Frauen Wawa mitleidig über den Kopf strichen wünschte sie sich von ganzem Herzen, daß dem blutenden Opfer die Hörner aus den Platzwunden am Kopf wachsen mögen. Warum ihr Vater den Teufel allerdings Brezelbub nannten verstand sie nicht ganz. Auch bei genauen Betrachtungen von Teufelsbildern konnte sie keine Brezeln erkennen, aber vielleicht waren ja die unsichtbaren Brezeln das Geheimnis

Also, wie auch immer betrachtet, Wawa hatte genug Familie.
Wawa ist sehr aufgeregt, endlich zieht Hasko ein. Ein Freund hilft ihm die drei Bücherkisten nach oben zu bringen, und seine Verlobte, Wawa sieht sie jetzt zum ersten mal, hilft ihm seine paar Teller und Tassen einzuräumen. Monika, so heißt sie, ist eine hellblonde zarte junge Frau, schüchtern und um alles besorgt. Wawa bemerkt sofort, daß Monikas blondes Haar sehr dünn ist, wie Flaum, die weiße Kopfhaut schimmert durch. Da Wawa auch bei Frauen noch kein festgefügtes Schönheitsbild hat, muß sie die Menschen genau beobachten, noch sind die Fächer nicht gezimmert in die man später alles so schnell einordnen kann.
Monika hat blaue, große Augen und eine sanfte Stimme. Sie hat ein sehr nacktes Gesicht, wie die kleinen Mäuse in dem Nest, was Wawas Mutter ihr einmal gezeigt hat, und bei einem kleinen Streit mit Hasko, sie will die Teller in ein Fach ordnen, er widerspricht, wird das weiße ihrer Augen ganz rosa und die Augenlider röten sich. Wawas erste Eifersucht steigt auf als Hasko ihr nach diesem kleinen Streit den Arm um den Hals legt und sie auf den Nacken küßt. Wawa will sich trotzig abwenden aber da fühlt sie den Blick von Hasko, während er Monika zärtlich in den Nacken beißt sieht er sie so an daß sie langsam versteht - er küßt in Wahrheit sie. Sie bleibt stehen und sieht weiter zu. Sie muß die Beine zusammenpressen, ihr fehlt die Decke die sie sich immer nachts zwischen die Schenkel schiebt. Monika macht sich mit einem verschämten Lächeln los, dreht sich um und bemerkt Wawas Blick. Sie versteht ihn völlig falsch, geht schnell zu dem kleinen Mädchen, streicht ihr lachend über den Kopf
"Er hat es nicht so gemeint, weiß du Männer wissen einfach manchmal nicht wo man die Sachen am besten hinstellt "
Wawa sieht weiter Hasko in die Augen. Ab diesem Augenblick ist er ihr ausgeliefert. Sie wissen es beide. Wawa hat endlich den Eingang zu der Höhle in ihrem Inneren gefunden, der Eingang ist dieser hagere, sehnsüchtige junge Mann von dessen feuchten kühlen Händen sie schon geträumt hatte, als sie ihre Decke fest zwischen ihre Beine geklemmt, versuchte einzuschlafen. Sie hatte sich vorgestellt ihm zu befehlen sich nicht zu bewegen um dann in Ruhe jeden der Finger zu befühlen, die Venen auf den Handrücken leicht einzudrücken und die Handflächen zu beriechen.
Sie roch immer gerne an allem. Sie selbst sah zwar immer gepflegt aus, aber die Großmutter vergaß meist sie zum Waschen zu ermahnen. So trug sie zwar ordentlich gebügelte Blusen und Röcke, aber schmutzstarre Unterhöschen, deren langsame Verfärbungen sie immer genau untersuchte und beroch. Erst war es ein feiner gelber Schimmer, der sich im Schritt ausbreitete, dann wurde er intensiver ging in ocker über und hatte sein Endstadium erreicht wenn er in der Mitte schwarz gesprenkelt, zu den Seiten hin von tiefem braun in dunkles gelb auslief. Die Höschen waren so starr daß erst die Körperwärme sie wieder geschmeidig machte. Ebenso waren ihre Hemdchen immer grau, an den Trägern schwärzlich, ihre Socken waren kleine harte Skulpturen. Sie protestierte immer wenn die Gromutter - ihre Mutter bemerkte solche Dinge glücklicherweise nicht - ihr diese verschwitzten, gezeichneten, eingelebten Kleidungsstücke, durch unpersönliche weiße Wäsche ersetzte. Seit einiger Zeit bemerkte sie daß ihre Höschen noch durch etwas anderes feucht wurden und rochen. Da sie auch keiner aufforderte sich die Zähne zu putzen, hatte sie sich angewöhnt mit der Tischdecke oder dem Zipfel ihrer Bluse über ihre Zähne zu reiben, bis sie sich, zumindest vorne, wieder glatt anfühlten. Zwar schämte sie sich wenn Fräulein Dauer ihr sagte sie müsse sich die Zähne öfters putzen, die Scham war allerdings nicht so groß, daß sie ihre Gewohnheiten änderte. Der Genuß auf einem Stück möglichst dunklen Stoff zu sehen was sie von den Zähnen abgerieben hatte war einfach zu groß.

Monika versucht freundlich Kontakt zu Wawa aufzunehmen, sie zeigt ihr Bücher beim Ausräumen der Kartons, Wawa ahnt daß es klüger ist sich mit ihr gut zu stellen, sie war sowieso keine Konkurrenz. Jedes mal wenn Wawa Hasko ansieht treffen sich ihre Blicke, entweder sieht er sie die ganze Zeit an, oder er fühlt ihren Blick und erwidert ihn. Jetzt trägt Hasko Jeans und ein kariertes Hemd und sieht viel jünger und fröhlicher aus als in dem braunen Anzug. Gerade als Monika weggehen will um etwas zu Essen zu holen und Wawa sich vor verlegener, zappelnder Lust immer wieder auf das Klappbett fallen läßt und auf und ab hüpft, daß das alte Gestell knarzt und die gequälten Sprungfedern jammern, da kommt ausgerechnet die Großmutter , bittet für ihre aufdringliche Enkelin um Entschuldigung und zieht Wawa trotz ihrer Proteste aus dem Zimmer.
Als sie sich an ihrer Hand an der Tür umdreht sieht sie wie Hasko in hilfloser ergebener Entschuldigung die Schultern hochzieht und dabei die Handflächen wehrlos nach außen dreht. Sie, das Kind mit dem dunkelbraunen langen Zopf dem bunten gestrickten Pullover und der schwarzen Samthose verstand diesen erwachsenen Mann ohne ein Wort, eine Erklärung, und das erschien ihr so selbstverständlich wie die Verwandlung der sieben Brüder in Raben in einem ihrer Märchen oder das fliegende kleine schwarze Pferd mit den langen Ohren was seinen Besitzer von einem Königreich zum anderen trägt. Jetzt saß sie auf dem kleinen schwarzen Pferd und konnte endlich über die Grenzen ihre Königreiches sehen.
Was Wawa und Hasko verband war ebenso zwingend wie selbstverständlich, auch wenn sie es nicht beschreiben konnte, war es ein Einvernehmen wo es keinen Betrüger oder Betrogenen geben konnte.
Die nächsten Wochen lernt Wawa die Gewohnheiten von Hasko kennen, wann er das Haus verläßt, und wann er nach Hause kommt, was er sich zu essen macht. Er macht sich manchmal Suppen, dazu schüttet er den Inhalt einer kleinen Pappschachtel in einen Topf mit Wasser, beim Ausschütten trennt sich alles, kleine braune Körner lösen sich sofort im Wasser auf, oben treiben kleine Nudeln, und das Beste ist das Fettauge, eine gallertartige gelbe Kapsel, die sich beim Erhitzen der Flüssigkeit langsam auflöst, gant ähnlich wie die Lebeertrankapseln die sie immer schlucken muß. wann Monika ihn besucht und wann er in dem sogenannten Waschzimmer, einem Raum mit Waschbecken und fließend warmem Wasser, verschwindet. Das Badezimmer stand den Untermietern nur nach vorheriger Terminabsprache zur Verfügung.
Sie genießt jeden Augenblick wenn sie ihn sieht, oder eigentlich eher beobachtet. Sie hat sich ihm noch kaum genähert, aber sie fühlt daß er sie auch bemerkt. Wie alle Untermieter wird auch er von ihr gesiezt, sie hatte immer alle freundliche Angebote einen dieser Erwachsenen zu duzen abgelehnt. Sie hat damit das sichere Gefühl von Distanz, selbst wenn man sie sehr darum bittet lehnt sie das Du ab.
Da sie kein Vorstellung eines Ziels mit Hasko hat, sondern nur die Richtung weiß, spielt Zeit für sie keine Rolle.
Sie sitzt abends wenn sie weiß daß er wahrscheinlich bald kommen wird hinter der Gardine des Dielenfensters und beobachtet die Treppenhausbeleuchtung, sie kann von hier aus nicht ins Treppenhaus sehen, sie hört nur das Aufschließen und schwere Zuschlagen der Haustür, dann die Schritte auf der Treppe, nach einigen Wochen kann sie seinen Schritt von allen anderen Hausbewohnern unterscheiden, wenn er zügig aber leise die Stufen heraufsteigt, auf dem Treppenabsatz unter der Wohnungstür bleibt er einen kurzen Augenblick stehen, sucht den richtigen Schlüssel, kommt dann den letzten Absatz hoch und schließt direkt die Wohnungstür auf. Alle anderen kramen erst vor der Tür nach dem richtigen Schlüssel.
Inzwischen schiebt Wawa, wenn er die Wohnung betritt die Gardinen leicht zur Seite damit er sie bemerkt. Sie sagt nichts, ist nur furchtbar angespannt, fühlt sich wild, und hat das Gefühl, daß sie gleich Durchfall bekommt. Er bleibt dann einen Augenblick stehen, viele Wochen zu verlegen um mehr als ein völlig sinnloses "Hallo, da bist du also" zu sagen.
Beide wissen sie daß es etwas anderes bedeutet, die Frage heißt eigentlich
"Hast du auf mich gewartet" und die nie gegebene Antwort
"Ich warte seit einer Stunde auf Sie"
Manchmal kommt Wawa in diesem verlegenen Augenblick ihr Hund zu Hilfe, ein Spitzmischling auf den sie sich dann stürzt, die Arme um ihn legt und ihn so fest drückt wie sie kann.

Sie fängt an, wenn Hasko zu Hause ist, mit ihrem Hund direkt vor seiner Zimmertür zu spielen, es ist fat unabsichtlich aber unvermeidlich, daß sie oder der Hund dagegenstoßen. Als sich das erste mal die Tür öffnet kommt gerade die Großmutter in die Diele. Wawa will schnell aufspringen, aber es ist zu spät, sie zappelt unbeholfen und ergibt sich dann der Situation. Einen Augenblick scheint die Zeit wie ein Huhn dem man den Kopf abgeschlagen hatte, sie rast sinnlos, verstört und stirbt plötzlich. Die Großmutter bleibt stehen sieht auf Wawa die vor Haskos Tür auf dem Rücken liegt, den Hund über sich, Hasko steht mit der Klinke in der Hand und blickt in das nackte Gesicht von Wawa, der Hund kann sich als einziger aus diesem Augenblick befreien, er schüttelt sich und läuft zur Großmutter.
Die sieht Hasko auf ihre Enkelin blicken, Wawa dreht ihr langsam den Kopf zu.
"Was machst du da auf dem Boden, und warum spielst du direkt vor der Tür? Die Wohnung ist doch groß genug, du sollst nicht direkt vor den Türen spielen, unsere Mieter wollen nicht immer gestört werden, das ist kein Spielplatz. Steh auf und komm jetzt bitte mit, sofort"
und zu Hasko gewandt ohne wirklichen Ausdruck des Bedauerns
"Es tut mir leid, wenn das Kind sie gestört hat"
Wawa springt auf und geht widerwillig zur Großmutter, die legt ihr beide Hände auf die schmalen, etwas abfallenden Schultern, dreht sie um und schiebt sie vor sich her, in den hinteren Teil der Wohnung.
"Du sollst nicht so aufdringlich sein, hast du überhaupt keinen Stolz, ich verstehe dich nicht, wie kannst du dich nur so auf dem Boden wälzen, ich habe ja als Kind auch gespielt, und ich war sicher genauso wild, aber ich wußte immer wo die Grenze ist. Du bist jetzt fast sieben und benimmst dich so wie ein kleines Kind, das hast du von deiner Mutter..."
Hasko steht in der Tür und sieht der kleine Prozession hinterher, vorneweg Wawa, dann die alte Dame und an ihren Fersen der schwarzweiße Hund. Dann fällt die Tür zum hinteren Teil der Wohnung zu.
Wawa schämte sich fürchterlich, sicher hatte Hasko gehört, wie die Großmutter sagte sie sei aufdringlich, und daß sie keinen Stolz hätte. Sie hätte ihre Großmutter in diesem Augenblick töten können. Fast immer sprach sie so zu ihr, als wäre sie erwachsen, aber in so einem Augenblick maßregelte sie sie wie ein kleines Kind. Die Großmutter war schon sehr alt und sagte immer, daß sie bald stürbe, aber jetzt wo es so gut wäre- Wawa wünsche sich inbrünstig daß sie sofort tot umfiele- lebte sie ihr zähes Altfrauenleben als wäre sie schon jenseits aller Tode. Wawa stiegen die Tränen in die Augen, Haßtränen, aber die Großmutter sollte sie nicht sehen. Sie rannte los, am Ende der Wohnung befand sich die eng gewundene Hintertreppe, die in den Hof und zu Keller führte, sie sprang die Stufen herunter, hielt sich am hözernen Handlauf fest und mußte aufpassen, daß sich ihr Rock nicht in dem an manchen Stellen etwas verbogenen schmiedeeisernen Treppengeländer verfing. Im Souterrain war die Hausmeisterwohnung, den Hausmeiser und seine Frau fand sie noch viel schrecklicher als alle Untermieter zusammen, die beiden waren so laut und grob und verscheuchten sie genauso barsch wie alle anderen Kinder vom Hof. Außerdem sprachen sie so ein breites Bayrisch, daß Wawa sie fast nicht verstehen konnte. Jetzt als sie an deren Wohnungstür vorbei kam, standen hier einige leere Bier- und Schnapsflaschen aufgereiht. Wawa kannte die Bedeutung und Folge solch geleerter Flaschen nur zu gut von ihrer Mutter.
Sie schlich vorsichtig durch den Flur und verschwand in den unheimlichen Kelleräumen. Obwohl sie immer Schweißausbrüche vor Entsetzen bekam, wenn sie allein zwischen den stockfinsteren, nach Koks, Schimmel, feuchten Steinen und alten, modernden Möbeln riechenden Gewölben und Verschlägen war, verging an diesem Ort ihre Wut und Scham am schnellsten. Sie lehnte sich an die unverputzte Wand und horchte, sie hörte leise die mürrische Stimme des Hausmeisters aus seiner Wohnung dringen, sonst war alles ganz still. Langsam überwältigte sie die Furcht und verdrängte alles andere. Ihr Herz klopfte noch genauso schnell, aber es war ein anderes Signal, es galt ihren Beinen und nicht mehr ihrem Kopf und Bauch oder der Stelle zwischen den Schenkeln. Jetzt konnte sie auch etwas weinen, aber es war beruhigend, es tat ihr jetzt schon wieder leid, daß sie sich gewünscht hatte, daß die Großmutter stürbe, eigentlich wäre das eine Katastrophe. Sie alleine mit ihrer Mutter, dann müßte sie wirklich erwachsen werden, ganz schnell sehr erwachsen werden, dazu hatte sie im Augenblick keine Lust. Die Großmutter versuchte ihr sowieso immer einzutrichtern, daß sie bald die Verantwortung für sich selber übernehmen müßte. Zur Untermauerung ihrer Argumente zeigte sie Wawa dann schwarzweiß Fotografien von ernst dreinblickenden Negerkindern, mit Krügen auf dem Kopf, oder Indiokinder in gestreiften Ponchos die allein für ein Schafherde verantwortlich waren. Wawa wollte im Augenblick noch keine Schafherde.

 
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Kommentare  

Eigentlich kann ich mich Selma Palue nur anschließen. Dein Schreibstil ist perfekt. Du beobachtest haarfein alle Details, äußere wie innere und man ist immer "dicht dran".
Aber der Schluss war eine böse Enttäuschung. Zwar ist es okay, einen Schluss offen zu lassen, aber wie Selma schon sagte: du hast viele Fäden zu Knoten verbunden.

Die hättest du auflösen müssen. So hinterlässt die Geschichte leider einen schalen Nachgeschmack. Oder anders ausgedrückt: wäre das die erste deiner Geschichten, die ich läse, ich würde die anderen nicht mehr anklicken.
Weil aber das andere Geschreibe von dir meistens super ist und ich Wawa ja auch aus der "Mastkur" kenne, möchte ich, dass diese hier auch stehen bleibt.
Gebe aber nur 3 Punkte dafür.


Stefan Steinmetz (15.10.2006)

Hallo Kyra,

ob ich will oder nicht, ich muss zu deiner Geschichte einen Kommentar abgeben.
Sie hat mich doch länger beschäftigt, als ich vorerst annahm.

Erst einmal ein paar technische Anmerkungen.
Mit Akrebie hast du alle in deiner Geschichte vorkommenden Personen beschrieben, sehr plastisch sehr beeindruckend, dennoch sollte man sich in einem so kurzen Text auf die Hauptpersonen und ein zwei Nebendarsteller beschränken. Warum?
Es weckt Hoffnungen auf Konflikte, die dann nicht passieren, lenken eher ab von der Hauptperson.

Abgesehen von der etwas unappetitlichen Szene mit der Mama, fand ich anhand der Situationsbeschreibungen einen Einstieg in die kleine Person Wawa.
Sicher entdecken Kinder in diesem Alter ihren Körper täglich neu und Sexualität ist ja jedem Menschen in die Wiege gelegt. Dennoch erscheint mir die Beziehung zu diesem Untermieter auf dieser Ebene äußerst unwahrscheinlich und damit fällt die ganze Geschichte für mich insich zusammen.
Hinzu kommt der sehr schwache Schluss.
Du hast viele Fäden zu einem Knoten verbunden, den du dann nicht auflöst. Das ist aber für jede gute Geschichte unabdingbar.

Die Thematik deiner Geschichte erinnert mich an "die Blechtrommel", aber da gab es die Entwicklung, die deiner Geschichte fehlt, weil sie einfach für dieses Thema zu kurz ist.
Ich würde mich freuen, noch andere Geschichten von dir lesen zu können.


Selma Palue (07.04.2001)

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