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5 Seiten

Die Mauer

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
In einem fernen Land lebte einst ein Bauer.
Tag für Tag bestellte er seine Felder, von deren Ernte er seine Familie ernährte. Es ging ihm gut, er hatte alles, was er brauchte und sein Besitz war so groß, dass er einen ganzen Tag lang reiten musste, um die Grenze zu erreichen. Alleine schaffte er es nicht, alle Felder zu bestellen und so halfen ihm seine drei Söhne bei der Feldarbeit, während seine Tochter und seine Frau das Haus in Ordnung hielten.

So ging das schon viele Jahre, und der Bauer war glücklich gewesen und hatte sich nie beklagt. Natürlich gab es auch Unwetter oder Dürrezeiten, die die Ernte eines gesamten Jahres vernichten konnten, doch der Boden war so ertragreich, dass er sich immer einen Vorrat anlegen konnte und nie hungern musste. Und obwohl es ihm so gut ging, seine Frau ihn liebte und seine Kinder höchst anständig waren, gab es etwas, was den Bauern oft nachdenklich machte. Immer öfter ritt er hinaus zur Grenze seines Besitzes, der dort von einer sehr großen, hohen Mauer umgeben war. Diese Mauer hatte der König einst um sein Reich und alle Felder seiner Bauern ziehen lassen, um sie gegen alles, was außerhalb der Mauer war, zu schützen. Doch die Mauer war alt, war schon errichtet worden als der Vater des Bauern noch ein Kind gewesen war oder noch früher, und der König hatte sich seitdem nicht mehr auf den Feldern des Bauern blicken lassen.

Oft fragte sich der Bauer, was wohl hinter dieser Mauer war, aber sie war zu hoch, selbst wenn man mit einer Leiter daraufklettern wollte. Auch wusste der Bauer nicht, gegen was sie ihn eigentlich schützen sollte, schließlich war sie vor vielen, vielen Jahren errichtet worden, wer sollte denn heute noch wissen, ob man die Mauer überhaupt noch brauchte. Im Herbst nach der Ernte ritt der Bauer oft hierher und hoffte, er würde Antworten auf seine Fragen erhalten, aber die konnte ihm natürlich niemand geben. Er hatte sich gefragt, was wohl passieren würde, wenn man die Mauer einreißen könnte, doch das ging leider nicht, denn etwas, das der König errichtet hatte, durfte ein Bauer nicht zerstören. Doch die Frage, was sich hinter der Mauer verbarg ließ ihm keine Ruhe, und so erzählte er eines Tages auch seiner Frau von seinen Fragen. Auch sie wusste nicht, was hinter der Mauer war, sagte ihm aber, er solle seine Gedanken schnell wieder vergessen, denn sie hätten schließlich alles, was sie zum leben brauchten, und wenn der König die Mauer gebaut hatte, würde es auch einen Grund dafür geben. Daraufhin schwieg der Bauer und erwähnte seine Gedanken seiner Frau gegenüber nicht mehr.

Einige Wochen später, der Winter war längst hereingebrochen und Schnee, der wie vom Himmel gefallene Wolken aussah, bedeckte die Felder, ritt der Bauer mit seinen drei Söhnen aus, um Feuerholz zu schlagen. Dabei kamen sie auch zu der Mauer, und als der Vater sie gedankenverloren ansah, stellte sich plötzlich der jüngste seiner Söhne zu ihm und sprach: „Vater, wir haben vor einigen Tagen dein Gespräch mit der Mutter mit angehört.“
Zuerst wurde der Bauer wütend, weil seine Söhne die Eltern belauscht hatten, doch dann hörte er, was seine Söhne zu sagen hatten.
„Auch wir würden gerne wissen, was hinter der Mauer ist“, sprach der älteste, „Wem würde es schon auffallen, wenn wir ein Loch in die Mauer schlagen und nachsehen, was sich dahinter verbirgt?“
Der Bauer dachte lange darüber nach, doch schließlich gaben die Söhne zu bedenken, dass der König oder seine Ritter sich so lange sie lebten sich hier noch nicht hatten blicken lassen und das man das Loch auch wieder schließen könnte, wenn sich dahinter nur Ödland verbarg. So willigte der Bauer ein, ließ sich aber das Versprechen geben, der Mutter nichts von ihrem Vorhaben zu sagen.

Nur wenige Tage später war das Feuerholz verbraucht und der Bauer gab vor, mit seinen Söhnen neues zu schlagen. Sie packten sich also Hacken und Spaten ein und ritten damit zur Grenze, an der die Steinmauer sich noch immer in den Himmel erhob. Zuerst wies der Vater die Söhne an, etwas Holz zu hacken, damit die Mutter nicht misstrauisch wurde, dann besahen sie sich die schweren Steine der Mauer und suchten eine Stelle, die aussah als könne man hier einen Durchbruch wagen. Den ganzen Tag waren der Bauer und seine Söhne damit beschäftigt, Stein für Stein aus der alten Mauer herauszubrechen, doch als die Sonne schon unter und der Mond aufging, gab die alte Grenze endlich nach und fiel in sich zusammen. Leider war es schon zu dunkel, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite befand, aber der erste Schritt war getan. Sie ritten also zurück, erzählten der Mutter, Holz sei dieses Jahr schwer zu finden und deshalb würden sie sich am nächsten Morgen erneut auf die Suche machen.

Am Morgen darauf weckten die Söhne den Vater schon sehr früh, denn sie konnten es kaum erwarten, zum ersten Mal in ihrem Leben die Grenze zu überschreiten. Der Bauer selbst hatte schlecht geschlafen, sein Gewissen hatte ihn in der Nacht geplagt, weil er seine Frau belogen hatte, doch jetzt war die Neugierde stärker als alle Zweifel und so brachen sie zügig auf. Die Sonne stand hoch am Himmel als sie zu der Stelle kamen, an der sie die Mauer durchbrochen hatten. Hastig schritt der Bauer durch das Loch, seine Söhne dicht hinter ihm, zuerst guckten sie sich noch vorsichtig um, doch es dauerte nicht lange, bis sie erkannt hatten, dass hier keine Gefahr lauerte. Vor ihnen lag keine Schneelandschaft wie im inneren der Mauer, sondern eine große Wiese, die von einem Ende des Horizont zum andern reichte und auf der alle Arten von Pflanzen blühten, die man sich denken konnte. Mitten auf der Wiese war ein kleines Wäldchen mit Bäumen, die wunderbares Feuerholz geben würden und darum herum plätscherte ein kleiner Bach mit Wasser so klar und rein wie der Himmel. Während sich die Söhne sofort die Schuhe auszogen, um im Wasser zu baden, besah sich der Bauer die Pflanzen, die überall wuchsen. Voller Bewunderung stand er vor einem riesigen Apfelbaum, dessen Äpfel größer waren als alle, die er bisher gesehen hatte. Wenn er damit in die Stadt fuhr, würde er sie verkaufen können, er wäre der einzige, der mitten im Winter Äpfel erntete, so dass er damit auf dem Markt so viel Geld verdienen könnte und nie wieder ernten müsste. Und dann würde er sich ein größeres Haus bauen können, eines aus Marmor, das schöner war als die Holzhäuser der anderen Bauern. Während der Bauer vor sich hin träumte und seine Söhne diese herrliche unerforschte Welt genossen, wurde es dunkel und somit Zeit, zurückzureiten. Auf dem Heimweg überlegte der Bauer, wie er seiner Frau die Neuigkeit am besten überbringen sollte, doch dann beschloss er, damit noch ein paar Tage zu warten und ihr erst einmal einige der Äpfel mitzubringen, die sie einfach lieben würde.

In den nächsten Tagen und Wochen, ritt der Bauer oft mit seinen Söhnen und manchmal auch allein auf die Wiese hinter der Mauer, und immer brachte er seiner Frau die herrlichsten Früchte mit, so dass diese ihn allmählich fragte, woher er mitten im Winter Äpfel bekam, doch er traute sich noch immer nicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Er war sich sicher, das Paradies entdeckt zu haben und vermutete, der König hatte die Mauer einst nur gebaut, um als einziger im Winter frische Äpfel zu haben, doch solche Gedanken würde seine Frau niemals zulassen. So sagte er immer noch nichts, ließ sich des nachts von seinem Gewissen plagen und sagte sich, es würde der Tag noch kommen, an dem er ihr von seiner Entdeckung berichten konnte.

Eines Tages, der Schnee auf seinen Feldern war hoch und im Haus war es bitterkalt, ritt der Bauer wieder hinaus und wollte Feuerholz holen, denn das Holz der Bäume draußen brannte viel besser als das der schneebedeckten auf seinen Feldern. Und als er gerade seine Axt in den Stamm einer mächtigen Eiche schlug, vernahm er plötzlich ein Geräusch, das mitten aus dem Wald zu kommen schien. Er hielt in seiner Arbeit inne und lauschte. Das Geräusch kam näher, klang wie ein unglaubliches Schnaufen, Trampeln und Brüllen und konnte einem richtig Angst machen. Der Bauer versteckte sich hinter der Eiche und spähte in den Wald, in dem noch immer nichts zu erkennen war. Das ohrenbetäubende Geräusch kam näher, wurde immer lauter, und der Bauer war sich inzwischen sicher, dass es ein riesiges, gefährliches Tier sein musste. Er verkroch sich weiter hinter den Stamm und wartete.
Nach einer Weile, das Getöse war so laut, dass er sich die Ohren zuhalten musste, stürzten einige Tiere aus dem Unterholz hervor, die wie kleine Büffel aussahen. Doch es waren keine Büffel, denn sie hatten die Zähne eines Tigers, bewegten sich schnell wie ein Pferd, hatten einen massigen mit schwarzen zottigen Fell bedeckten Körper, Füße mit scharfen Krallen daran und wilde, blutunterlaufene Augen.
Schnell rasten sie durch den Wald, tramplten alles platt, was sich ihnen in den weg stellte und bleckten immer wieder das furchteinflößende Gebiss. Die Herde dieser Untiere stürmte aus dem Wald heraus auf die Wiese, und der Bauern blieb traute sich nicht einmal zu atmen. Draußen auf der Wiese fielen zwei der Monster sofort über das Pferd des Bauern her und zerfleischten es innerhalb weniger Minuten, so dass nur noch einige blutverschmierte Knochen davon übrig blieben.
Der Bauer verstand jetzt, wieso der König einst die dicke, unüberwindbare Steinmauer hatte bauen lassen, doch da war es auch schon zu spät. Die Tiere oder was immer sie waren hatten den Durchbruch entdeckt und stüzten wild ins Innere des Königreiches. Dem Bauern blieb fast das Herz stehen, doch er konnte nichts gegen diese Bestien tun, außer zu hoffen, dass sie sein Haus, seine Frau, seine Tochter und seine Söhne nicht entdeckten, sondern weiter ins Land eindrangen und irgendwann von den Armeen des Königs zur strecke gebracht wurden.

Erst viel später traute der Bauer sich aus seinem Versteck und machte sich auf den Heimweg. Überall war der Schnee von den Klauen der Bestien niedergetrampelt worden, und von den Herden auf den Feldern hatten sie nichts außer Blut und Knochen übriggelassen.
In Panik rannte der Bauer zu seinem Hof, rief dabei immer wieder die Namen seiner Frau und seiner Kinder und wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Doch es half nichts, er erhielt keine Antwort auf sein Rufen, und als er sein Haus schließlich erreichte, überkam ihn eine schreckliche Vorahnung.
Als erstes fand er seine Söhne, sie mussten hinter dem Haus Holz gehackt haben, doch jetzt waren nur noch ihre abgenagten Skelette übrig, eine riesige Blutlache und ein Schmerz, der sich mitten ins Herz des Bauern bohrte. Tränenüberströmt und in der Gewissheit, dass er die Jungen durch sein Handeln auf dem Gewissen hatte, hetzte er ins Haus und rief nach seiner Frau und seiner Tochter, doch noch bevor er ein zweites Mal rufen konnte, entdeckte er beide in der total verwüsteten Küche, beide waren tot und ein ebenso schrecklicher Anblick wie seine Söhne. Diese Monster hatten nichts verschont, würden nun weiter durchs Land ziehen und alles töten, was sich ihnen in den Weg stellte. Und er allein war Schuld, nur weil er unbedingt die schützende Grenze einreißen musste.


Christian Dolle
 
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Kommentare  

Hallo Christian,
eine sehr spannend erzählte Geschichte und
auch deinen Schreibstil finde ich klasse. Und
deine Geschichte beweist zudem nachhaltig,
dass einige Mauern, die es heute noch gibt auf
dieser Welt, durchaus berechtigt sind. Deine
Worte beweisen aber auch höchst eindrucksvoll,
dass ein überzogenes Maß an Neugier ebenfalls
mächtig nach hinten losgehen kann. Doch die
Frage, in welchem Falle eine Mauer berechtigt
wäre, sowie in welchem Fall nicht, lässt sich
nicht immer sofort und eindeutig beantworten.
Im Verlaufe deiner großartigen Geschichte,
kommt dies eindeutig ans Tageslicht, was der
Neugierige natürlich anfangs nicht wissen kann.
LG. Michael


Michael Brushwood (04.02.2015)

Tres Bien!

John Dorian (03.11.2006)

Hallo,

eine sehr gelungene Geschichte mit Moral. Natürlich könnte es der Anfang einer langen Geschichte sein, aber auch das Ende.

Die Moral von der Geschicht,
lass die Mauer lieber dicht.
Der König hat es dir gesagt,
dann hast du es doch gewagt...

Der Text war sehr spannend und hat sich fließend gelesen. Man wurde selbst neugrierig was sich hinter der Mauer verbirgt.

Gruß Sabine

P.S. Hasseln ist cool. War auf der Homepage.


Sabine Müller (26.09.2006)

Mir geht es ähnlich wie Gwenny: diese Story scheint der Anfang einer langen Geschichte zu sein...
Lässt mich etwas konfus zurück. Dabei waren deine Viecher sooo cool und interessant. Kommt da noch mehr oder war es das?

Na, 4 Punkte ist es mir auf alle Fälle wert.


Stefan Steinmetz (31.03.2003)

Erinnert ein wenig an die Geschichte mit blaubart, der seiner Frau verboten hatte, eine bestimmte Tür im Haus zu öffnen. Natürlich tat sie es doch, von der Neugierde zerfressen und von keinem anderen Gedanken mehr beseelt wie eben jene Tür. Sie öffnete sie, und es war ihr Verderben, denn hinter der Tür lauerte das düstere Geheimnis ihres Gatten, nämlich die auf Pflöcken aufgespießten abgetrennten Köpfe ihrer Vorgängerinnen, die sich ebenfalls allesamt über das Verbot hinweg gesetzt hatten. Diese geschichte ist hier ist ähnlich gut. Die Schuldfrage bleibt offen, gewiss kann er sich Vorwürfe machen weil ER die MAuer aufgebrochen hatte, aber genauso kann es auch der König sein, der vergessen hatte Hinweise oder Warnungen an der Mauer zu plazieren.

Ich sehe die Mauer schon als eine Art Metapher, denn oft sind es störende Dinge, die unserem Schutz dienen, Zollkontrollen an Flughäfen oder Grenzübergängen, Viedeoüberwachung in Innenstädten oder auch die Bundeswehr mit ihren Tiefflügen, dröhnenden Panzerkolonnen, lauten Gefechtsübungen. Sie stören irgendwie, und doch dienen sie zu unserer Sicherheit wie eben jene Mauer, die das Königreich vor bösen Monstern bewahrt.

Ich vergebe hierfür 5 Punkte.


Benjamin Reuter (22.01.2003)

Ich werde den Eindruck nicht los, dass ich hier den ANFANG einer Geschichte gelesen habe. Denn da, wo's spannend wird, hört sie einfach auf.
Oder ist die Mauer eine Metapher für was anderes? Wenn ja, für was?
"Bleibe im Lande und nähre dich redlich", gib dich zufrieden mit dem, was du hast, das Gras ist nur scheinbar grüner auf der anderen Seite?
Oder: "Schlafende Hunde soll man nicht wecken", schützende Grenzen nicht niederreißen, weder physische, noch psychische, weil sich Ungeheuer dahinter verbergen könnten? Und die dann außer Kontrolle geraten? Und jeder dann fragen wird: "Wer ist an dem Schlamassel Schuld?"

Wenn ich je dahinter komme, werde ich mich nochmal melden...

Alsweilen 5 Pte.


Gwenhwyfar (21.01.2003)

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