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6 Seiten

Die Handtasche

Schauriges · Kurzgeschichten
Wolfgang warf die aufgerauchte Kippe in den Spalt zwischen Gleis und Bahnsteigkante und machte auf dem Absatz kehrt, um wieder in seine Lok einzusteigen, mit der er gleich den Regionalexpress zurück nach Kassel fahren musste.

Draußen war es mittlerweile hell geworden, die zarten Lichtstrahlen der Morgendämmerung fielen durch das gläserne Dach des Frankfurter Hauptbahnhofs. Weiter hinten stiegen noch immer Reisende in seinen Doppelstockzug ein. Auf dem Bahnsteig reges Gedränge, Unterhaltungen, Rufe, das Rollgeräusch von hinterhergezogenen Koffern brandete zu ihm herüber.

In drei Minuten würde er abfahren. Von irgendwoher roch es nach Kaffee und frisch gebackenen Brezeln.

Er griff zu den Holmen der Einstiegsleiter und setzte einen Fuß auf das unterste Trittbrett, wollte sich gerade hochziehen. Die morgendliche Kühle ließ ihn immer wieder erschauern, immer wieder ging ein eisiger Wind durch die Einfahrt unter dem gigantischen Stahlgerüstdach.

Die letzte Fahrt für heute.
Noch einmal die rund 160 Kilometer nach Kassel, den Zug an den Kollegen übergeben und dann nach Hause, Essen kochen, Geschirr spülen, Staubsaugen und etwas aufräumen bis seine Tochter Melanie aus der Schule heimkommen würde.Dann konnte er die Füße hochlegen.

Seit seine Frau vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam lebte er allein mit seiner Tochter. Oft wußte er nicht, wie er das alles schaffen soll. Sie war mit 16 zwar aus dem Gröbsten heraus, aber dennoch mußte man auf sie aufpassen. Sie war alles was er noch hatte.

Da fühlte er plötzlich, wie jemand seine Schulter berührte.

"Entschuldigen sie!" hörte er auch schon eine zaghaft klingende junge Frauenstimme.
Erschrocken drehte er sich herum.

Das Mädchen war etwa in dem Alter wie seine eigene Tochter. Und sah ihr ziemlich ähnlich. Dasselbe schwarz gefärbte Haar, auch bei ihr wuchs sich die Farbe langsam aus. Auch ihre Augen waren ebenso grün wie die seiner Tochter. Und die seiner Frau. Die selben grünen Augen mit dem leichten grau darin, das sie so funkeln liessen. Ein Stich fuhr ihm durch das Herz.

Für die morgendliche Kühle war sie mit einem Bauchfreien Top und einer dünnen Stoffhose etwas mehr als unzureichend gekleidet.

Auf ihren Unterarmen sah er Gänsehaut, und ihre Zähne klapperten leise aufeinander.

Er vermutete, dass sie erst jetzt aus irgendeiner Disco gekommen war.

Doch dann sah er auch die verlaufene Schminke, die dünnen schwarzen Rinnsale ihrer verlaufenen Wimperntusche. Als ob sie geweint hatte.

Er fühlte das sie in Schwierigkeiten zu sein schien. Ihre Augen blickten wässrig und traurig, so als ob sie ihre Tränen gerade so unterdrücken konnte.

"Was kann ich denn für dich tun?" fragte Wolfgang freundlich und besorgt zugleich.

"Mein Freund hat sich in der Disco eine Andere geangelt und mich einfach stehen gelassen! Wir waren mit seinem Auto hier. Ich habe kein Geld und weiß nicht wie ich heim kommen soll! Ich muss nach Bad Vilbel" sprach sie mit zitternder Stimme, und jetzt rann ihr eine Träne über die Wange. Es schien ihr peinlich zu sein, und sie zitterte vor Kälte und Aufregung am ganzen Körper. Ein hilfloses Bündel Mensch. Völlig verzweifelt.

Die Gedanken in Wolfgangs Hirn fingen an zu rotieren. Sollte er sie zur Bahnhofsmission schicken?

Er blickte sich, noch immer auf der untersten Stufe der Einstiegsleiter stehend und nachdenkend auf dem langen Bahnsteig um.

Doch er konnte Reinhold, den Schaffner, nirgends entdecken.

Mit ihm hätte er darüber reden können, das Mädel umsonst mitfahren zu lassen. Auch sein Kollege hatte eine Tochter in dem Alter. Reinhold war zwar manchmal etwas zu korrekt, aber hier würde er bestimmt eine kleine Ausnahme machen. Und wenn er sie auch nur auf Nachlöseantrag mitnahm. Wolfgang suchte den Bahnsteig ab, noch immer Gedränge und Hektik, noch immer kamen Leute mit Koffern angelaufen. Wo war Reinhold?

Und in jetzt weniger als einer Minute müsste er losfahren. Die Zeit drängte.

Er knirschte leise mit den Zähnen, noch immer konnte er ihn nirgends entdecken. Dann würde er schnell hinlaufen. Reinhold, wo bist du, verdammt!

Oder aber er nahm sie bei sich vorn mit. Obwohl das streng verboten war. Oh Mann. Noch immer keine Spur von Reinhold. Er atmete tief durch. Hoffentlich sah das jetzt keiner. Es blieb keine Zeit mehr. Der Sekundenzeiger seiner Armbanduhr rückte gnadenlos voran.

"Na dann steig bei mir ein! Fass hier an und zieh dich rauf! Aber mach schnell, das dich keiner sieht!"

Sie blickte ihn mit großen Augen an.

Er deutete auf die Holme links und rechts der Stiegen. Dann zog er sich hoch, während sie ihm folgte.

Ein Gong, gefolgt von der automatischen Bandansage schnarrte aus den Lautsprechern am Bahnsteig: "An Gleis Elf, bitte einsteigen. Türen schließen selbsttätig! Vorsicht bei der Abfahrt!" Reinhold hatte inzwischen schon das Abfahrtsignal angefordert.

Während sie in den Führerstand seiner Lok einstieg sah er noch einmal aus dem Seitenfenster. Hoffentlich beobachtete das jetzt keiner, dachte Wolfgang zähneknirschend.

Jetzt sah er plötzlich Reinhold ganz hinten stehen,neben der wie er schon die grüne Kelle zeigte und die Trillerpfeife an den Mund setzte. Abfahrbefehl. Das Ausfahrtsignal sprang auf grün um.

Schon gellte der Piff.
Wolfgang wies ihr stumm den Begleitsitz zu, während er sich in den Lokführersessel schwang und eilig den Fahrschalter hochdrehte.

Langsam, ruckelnd und surrend rollte die Lok an, kleine bläuliche Blitze funkten zwischen Fahrdraht und Stromabnehmer. Das laute Knallen der Überschläge an den Lastschaltern des Schaltwerks pochte aus dem Lokkasten, der Regionalexpress setzte sich in Bewegung.

Die Lok der Baureihe 141 mit dem Doppelstock - Regionalzug am Haken kam unter der riesigen Stahldachkonstruktion des Frankfurter Hauptbahnhofs ins Freie.

Die Morgensonne spiegelte sich in den Glasfassaden der Bankhochhäuser, Vogelschwärme segelten über das weit verzweigte Netzwerk der Gleise und Weichen.
Zarte Nebelfetzen standen um die Spitze des Messeturms, und ein Airbus hing hoch über den Dächern im Landeanflug auf den Flughafen.
Eine S - Bahn überholte den Doppelstockzug, ein bremsender ICE kam ihm entgegen.

"Sorry, dass ich ihnen solche Umstände mache!" kam plötzlich die leise Stimme des Mädchens von hinten. Sie zog geräuschvoll ihre Nase hoch.

"Das ist schon Ok! Ich hab auch schon die Heizung angemacht! Gleich wirds warm!"

Dabei dachte er immer wieder an seine eigene Tochter, die wohl noch zuhause schlafend im Bett lag.
Ob sich die Eltern dieses Mädchens Sorgen machten? Na wie auch immer, jetzt war sie in Guten Händen.

Sie kramte in ihrer kleinen Handtasche. Es war eine kleine Stofftasche mit einem Kuhfell - Imitat auf der Vorderseite.

"Brauchst du ein Taschentuch?" Wolfgang wartete nicht ab, sondern reichte ihr eines.

"Danke!" hörte er noch, bevor sie sich schnäuzte.
"Er hat mich einfach in der Disco sitzen gelassen! Einfach so! Ist mit einer anderen im Arm rausgegangen!" begann sie plötzlich zu erzählen, und in ihrer Stimme schwang jetzt auch etwas Wut mit.
Sie wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln.

Wolfgang spürte, wie ihm die Galle hoch stieg. Solch eine Gemeinheit. Dem Kerl gehörte ordentlich was auf die Löffel.

"Das war nicht sehr nett!" meinte er kurz.

"Ja. Ich dachte er liebt mich!"

Wolfgang gab sich Mühe, seine Wut zu unterdrücken. Sollte mal einer auf die Idee kommen, das seiner Tochter anzutun.... Seiner kleinen Melanie. Seinem Ein und Alles

Nicht nur so zu enttäuschen, sondern sie auch einfach in einer fremden Stadt sich selbst zu überlassen. Weiß der Himmel, was für Schweinehunde es auf der Welt gibt! Er war so froh, dass sie zu ihm gekommen war, anstatt vielleicht zu irgendeinem Schweinehund ins Auto zu steigen...

"Was ist denn mit deinen Eltern? Hast du versucht, sie anzurufen?"

"Die würden mich umbringen, wenn sie das rauskriegen! Außerdem habe ich keine Kohle mehr! Wieder schluchzte sie leise auf."

"Na ja, umbringen nicht gerade... Hast du es noch weit vom Bahnhof in Bad Vilbel?"
"Nein, wir wohnen in der Nähe vom Bahnhof!"
Wieder schluchzte sie.

"Sie werden dich bestimmt nicht umbringen. Sie werden nur froh sein, das du wieder zuhause bist! Wie heißt du eigentlich?"

"Ich heiß Sara. Sind sie sich da sicher, dass sie mir nicht böse sein werden?" Ihre Stimme beruhigte sich.
"Nun ja, ich hab auch eine Tochter in deinem Alter, und ich würde die nicht umbringen, wenn sie morgens erst heimkommt! Aber dem Kerl würde ich die Hammelbeine lang ziehen!""
Sie lachte etwas.

"Was sind das blos alles für Knöpfe und Anzeigen?" fragte sie plötzlich interessiert. Gut, das sie nun an etwas anderes dachte, fand Wolfgang und begann bereitwillig zu erläutern.

Er fühlte sich nun auch wohler.

Der Bahnhof von Bad Vilbel war auch nicht mehr weit, und ein Elternpaar würde aufhören, sich Sorgen zu machen.

"Ich hoffe, du vergisst den Kerl mal ganz schnell! Andere Mütter haben auch hübsche Söhne!"

Sie schwieg.

"Komm schon, Sara, Kopf hoch! Das wird wieder! Du bist ein hübsches Mädchen und wirst schnell einen anderen finden, der dich wirklich liebt!"

"Sind sie sicher?"

"Absolut!"

Sie erreichten wenig später den Bahnhof von Bad Vilbel, wo der Zug einen kurzen Aufenthalt hatte. Wolfgang brachte den Regionalexpress gekonnt vor der Haltetafel zum Stehen.

Zum Abschied drückte er Sara die Hand.

"Jetzt sieh zu, dass du schnell heim kommst! Und vergiss den Kerl, du hast echt was besseres verdient!"

"Danke schön für alles! Bye!"

Und schon war sie aus dem Führerstand geklettert, nachdem Wolfgang ihr die Tür geöffnet hatte. Hoffend, das es niemand sah.

Er blickte ihr erleichtert hinterher, wie sie eilig über den Bahnsteig lief, auf die Treppe zur Unterführung zu. Ja, es würde alles Gut werden. Wolfgang fühlte sich erleichtert.

Und dann sah er plötzlich, dass sie ihre Handtasche nicht bei sich hatte.

Als er sich schnell umdrehte sah er sie noch immer neben dem Sitz auf dem Boden stehen.
Schnell stürzte er ans Seitenfenster, doch sie war bereits in der Unterführung verschwunden. Der Pfiff des Schaffners gellte über den Bahnsteig. Fluchend brachte Wolfgang den Zug wieder zum Fahren. Was jetzt?



Wolfgang ging wie an jedem Tag wenn er frei hatte mit dem Hund spazieren.

Ihm ging die Sache mit dem Mädchen nicht aus dem Kopf. Wenn das seine Tochter gewesen wäre? Hätte sie einer seiner Kollegen vorn mitgenommen? Oder ein Schaffner sie umsonst fahren lassen?

Die Handtasche einfach in ein Paket zu stecken und an die Adresse in Saras Personalausweis zu schicken war eine gute Idee gewesen.

Erst hatte er überlegt, die Tasche gleich nach Ankunft in Kassel Hauptbahnhof der Fundstelle zu übergeben, es aber dann doch nicht getan. Er wollte erfahren wie es ihr ging, und schließlich hatte Melanie ihr noch ein par Zeilen geschrieben, quasi von Frau zu Frau, und das Paket zur Post gebracht.

Wolfgang kehrte mit dem Golden Retriever zurück. Er öffnete den Briefkasten im Hausflur, als er sah das der Briefträger schon da gwesen war.

Zwischen Rechnungen und einer Postkarte von Melanies Freundin Saskia auch ein Brief mit Absender in Bad Vilbel.

"Na also!" Wolfgang war froh, endlich Gewissheit zu haben, dass die Tasche angekommen war. Und zu erfahren, wie es dem Mädel jetzt ging.

Der Brief war an Melanie adressiert, also gab er ihn ihr auch zuerst zum Lesen.

Sie ging mit dem Brief in der Hand auch sogleich in ihr Zimmer, während Wolfgang die Kartoffeln für das Mittagessen zu schälen begann.
Und dann hörte er plötzlich ihren spitzen Schrei aus dem Zimmer.

Mit einem Satz war Wolfgang aufgesprungen.
Als er in ihr Zimmer stürmte sah er, wie sie ihm mit verweintem, ausdruckslosem Gesicht den Brief entgegen hielt.

Wolfgang las den Brief insgesamt drei Mal durch, bis er ebenso fassungslos neben Melanie auf das Bett sank.

Es konnte gar nicht sein, schrieb eine Frau Lambrecht.
Denn ihre Tochter Sara hatte sich aus Liebeskummer vor genau einem Jahr das Leben genommen. Liebeskummer darüber, weil ihre erste große Liebe sie in der Disco hatte sitzen gelassen. Sie hatte sich im Bahnhof von Bad Vilbel vor einen durchfahrenden Güterzug geworfen.

Wolfgang hatte früher nie an Geister geglaubt.
Doch heute noch laufen ihm eisige Schauer über den Rücken,

Wenn er früh morgens am Frankfurter Hauptbahnhof zur Abfahrt bereit steht.
 
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Kommentare  

Das gehört einfach dazu, dass die Handtasche "real" wird oder ist. Das bestärkt den Kerl ja noch darin, an Geister zu glauben.
Und die vielen Fachausdrücke machen die Sache im Führerstand der Lok glaubwürdiger. Nichts ist grauenhafter, als zu lesen: "Der Lokführer stellte den Fuß aufs Pedal und gab gefühlvoll Gas."
Mir gefällts. Der eher traurige Schluss macht die Geschichte sogar besser.
Von mir ein "Gut" dafür.


Stefan Steinmetz (13.12.2005)

Die Idee an sich ist nicht schlecht, aber mir gefällt das Ende nicht. Warum erschien sie dem Lokführer? Wie kann die Handtasche real sein, wenn sie tot ist? Solche Sachen eben...deshalb würde ich dir dreieinhalb Punkte geben. Da das nicht geht, werden es eben vier.

Metevelis (08.09.2003)

mir fällt auf: Du bist bestimmt vom Fach, zuviele Wörter mit denen Nicht-Lokführer nix anfangen können ( Was ist ein Sifa ? )
Dann noch wenig Struktur drin, Absätze und so was.
Aber der Dialog hat mir gefallen,klang recht lebensnah...
Viele Grüße und weiter so !

Wilhelm


Wilhelm (18.05.2003)

Schöne Geschichte. Dein Schreibstil gefällt mir...mach weiter so

Amazone (11.05.2003)

Oft gebrauchtes Thema, gibts in 1000 Varianten.
Dennoch immer wieder lesenswert.
Seltsam, aber so steht es geschrieben.
3 Punkte


NewWolz (26.04.2003)

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