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5 Seiten

Du und ich

Kurzgeschichten · Erinnerungen
© Mia Mai
I. Einmal vielleicht

Du und ich, wir kannten uns nicht. Niemals haben wir auch nur ein Wort miteinander gewechselt. Nicht einmal die vagen Zeichen einer flüchtigen Bekanntschaft blitzen da zwischen uns auf, unachtsam gemurmelte Grüße am Morgen etwa, oder der oberflächliche Austausch des neuesten Klassengerüchts. Sie sagten, das sei so deine Art. Sie sagten, daß du arrogant seist, und daß niemand an dich herankäme. Vielleicht hatten sie recht, denn weißt du was? Den Grund für deine Mauern, den habe ich nie herausgefunden. So viele Vormittage habe ich damit verbracht nach Hinweisen zu suchen, nach Gesten, dem Klang deiner Stimme, all diesen versteckten Kleinigkeiten, die mir, mir allein deine Motivation preisgeben würden. Wie sehr habe ich doch gewünscht, dein Atem möge mir deine Gedanken zuflüstern...ich wollte sie auffangen, in mich aufsaugen und in mir verschließen wie eine kostbare Erinnerung.
Dein Geheimnis, ich hätte es zu dem meinen gemacht.
Ich saß in der Reihe hinter dir, das ganze Jahr über schon, und in den Physikstunden, in dem engen kleinen Saal mit Bänken wie Hühnerstangen, da war ich dir so nahe wie nie niemals sonst. Nur ein flüchtiger Griff über mein Pult, sagen wir, um einen Stift zu holen, mein Heft aufzuschlagen vielleicht, und meine Hand streifte über den rauhen Stoff deines Pullovers. Ganz sacht nur. Wahrscheinlich hast du es nie bemerkt. Es waren immer diese grobmaschigen Norwegerpullover, die du trugst, von dunkler Farbe, an den Ärmeln und Seiten abgewetzt und borstig. Dick waren sie, wie ein schützendes Fell, gerade recht für meine Zwecke. So viele Male habe ich mir vorgestellt, wie sie wohl riechen würden...nach diesem merkwürdigen, süßlichen Geruch nach Kleiderschrank und Deodorant und warmer Haut. Im Herbst, im letzten Jahr, da war ich einmal ganz kurz davor. Da lag er vor meinen Füßen, ein mausgrauer Norweger, ein häßliches Ding eigentlich. Sie hatten ihn durch die Luft geworfen, ihn dir weggenommen und damit ein dummes Spiel gespielt. Ich kann mich heute noch an ihr Lachen erinnern und an den scharfen Ton in deiner Stimme, wie ein Knurren, eine Drohung. Plötzlich, da war etwas ganz weich an meinem Fuß, und als ich hinunter sah, mich bückte, lag er direkt neben mir, zum Greifen nahe. Ein rascher Griff, und er wäre in meinem großen Turnbeutel verschwunden, ich hätte etwas von dir ganz nahe bei mir gehabt, und sei es nur für ein paar Minuten gewesen. Warum ich es nicht getan habe? Ich glaube, du hast mich erschreckt, weißt du. Da war etwas anders mit dir an jenem Tag. Sie wußten es nur nicht. Sie hätten das nicht mit dir machen dürfen, wenigstens nicht zu diesem Zeitpunkt. Du fingst an zu brüllen, von ganz tief drinnen schien das zu kommen, und mit einem Schlag war es ganz still in der Klasse. Niemand traute sich auch nur die Nase zu putzen. Und alle starrten dich an, wie du da über das Pult von der Nützmann sprangst, direkt auf den Georg zu. Und dann hast du schließlich auf seiner Brust gesessen und deine Fäuste trafen sein Gesicht, wieder und wieder, bis der Georg nur noch röcheln konnte und alles bleich und regungslos herumstand. Ich hab mein Herz richtig wüten hören können, wie ein große Faust, die gegen mein Innerstes trommelt. Merkwürdig war das, ganz fremd, diese Aufregung in mir. Wie Freude. Wie ein gewaltiges Lagerfeuer in meinem Bauch. Plötzlich hab ich mich ganz stark gefühlt. Stark mit dir zusammen. Ich hab einfach nur dagesessen und geglotzt und heimlich gebetet, du würdest dem Georg mit einem einzigen Schlag die Nase brechen.
Irgendwann kam dann die Nützmann rein. So richtig leiden konnte die dich ja noch nie. Ich glaube, sie hielt dich auch für merkwürdig und nicht ganz richtig im Kopf, genau wie alle anderen es taten. Wahrscheinlich ist sie nie drüber weg gekommen, daß du ihr damals in Geschichte die „Faschistenzicke“ an den Kopf geworfen hast. Und da stand sie nun, ganz bleich im Gesicht, und ihre Stimme war mehr denn je ein schrilles Mäusequietschen, ihre Arme ruderten wild in der Luft.

„Aufhören! Sofort aufhören“, kreischt sie dir entgegen. Stürzt sich auf das wirre Knäuel verknoteter Leiber, versucht, dich vom Georg herunterzuziehen, aber du bist zu stark. Drei von den Jungs – Frederick, glaube ich, Sebastian und Marco – kommen der Nützmann schließlich zu Hilfe, zögerlich treten sie vor und sie sehen ganz weich und schwach aus, wie sie da an deinen Armen zerren. Ich erinnere mich daran, daß ich fast schon ein wenig Angst um die drei hatte, denn du sahst so wütend aus, mit deinen dunklen Haar, das wild und ein wenig feucht vom Schweiß an deiner Stirn klebte. Und es war auch dieser Blick in deinen Augen...gar nicht beschreiben kann ich den, er war so seltsam leer, keine Spur von Aggression, aber auch keine Furcht. Da schien kein Gefühl mehr in dir zu sein, stumpf blicktest du um dich, wie ein gehetztes Tier. Wie ein...Ding, das nur mehr nach Instinkten handelt und den Verstand weit zurückgedrängt hat. Und für einen Moment, einen funkelnden Augenblick, da sahen wir uns an. Du und ich. Zwei, die sich nicht kennen. Ich konnte die Farbsprenkel in deiner Iris sehen, ein leuchtendes Graugrün. Erinnerst du dich? Hast ihn je wahrgenommen, diesen Blick, durch den für mich die Welt stillzustehen und aus ihrer Bahn zu trudeln schien?
(Oh nein, sag nichts. Ich fürchte mich vor deiner Antwort.)
Die Nützmann zerrte dich auf die Füße, packte dich an den Schultern, schüttelte dich. Du ließt es mit dir geschehen, erschrocken vielleicht, oder auch nur zu müde, um ihr ein letztes Aufbäumen entgegenzusetzen. In der Klasse war es still, ein Schweigen wie splitterndes Eis, und ich weiß noch, daß ich mich mit beiden Armen über mein Pult gekrallt hatte. Dort, wo sich die harte Kante der Tischplatte an meine Brust preßte, fühlte ich ein schmerzhaftes Ziehen.
„Daniel!“ rief die Nützmann. Ich glaubte zu wissen, daß ihr die Worte fehlen, daß sie nicht die leiseste Ahnung hat, was sie nun machen soll. „Was zur Hölle haben Sie sich dabei nur gedacht? Ich werde Sie unverzöglich ins Direktorat bringen, da können Sie sicher sein!“
Du antwortest ihr nicht. Starrst sie nur an. Hältst ihrem Blick stand und den Rücken gerade. Du bist ein Krieger. Und dann, ganz unerwartet, sagst du: „Machen Sie sich keine Mühe. Ich gehe sowieso.“ Die Spannung fällt von dir ab, als du dich umdrehst, ganz langsam nur, und dein Gang ist weich, ohne Hast. Du gehst durch die Tür und läßt sie mit einem Schwung hinter dir zufallen. Ich kann das Geräusch deiner Schritte auf dem Flur hören, erst dumpf und kraftvoll wie ein Herzschlag, schließlich verebbend. Wir bleiben zurück in Schweigen. Ratlos, verwirrt. Vielleicht sogar ängstlich. Dein Pullover, er lag noch immer neben mir auf dem abgewetzten Linoleum, schmiegte sich weich an meinen Fuß. Oh, wie sehr ich mir gewünscht habe, ihn zu mir zu nehmen und mit dem schäbigen Wollbündel auf dem Arm zu dir zu laufen! Doch ich konnte es nicht. Es war, als sei diese letzte Spur von dir aus purem Licht und Feuer gemacht, ich brachte es noch nicht einmal fertig, sie anzusehen, geschweige denn zu berühren. Die Schnepfen in der Reihe hinter mir sandten sich gegenseitig murmelnde Botschaften zu, leises, kratzendes Flüstern. Ein Kichern. Ich war wütend auf sie, hätte mich am liebsten umgedreht und ihnen direkt in die gläsernen Fratzen gespuckt. Und der Nützmann gleich dazu. Hinauslaufen hätte ich sollen, dir folgen. Vielleicht...ja, vielleicht hätten wir beide uns sogar gemocht. Uns kennengelernt. So vieles gab es, das ich dir sagen wollte und das jetzt in mir steckenbleibt wie ein viel zu großer Bissen. Ich drohe zu ersticken an dem schwammigen Durcheinander, das jener Tag in mir zurückgelassen hat.
Du und ich, wir haben uns seither nie wieder gesehen. Sie sagen, du hättest die Schule jetzt ganz geschmissen und seist raus aus Nürnberg, irgendwo im Norden. Manche sagen auch, deine Eltern hätten dich in ein Internat in der Nähe Berlins gesteckt, und wieder andere, deine Eltern seien schon lange tot und du irgendwo in der Punkerszene verschwunden. Es macht keinen Unterschied für mich, weißt du. Ich warte darauf, daß du wiederkommst. Eines Tages, da werde ich dich vielleicht im Ameisengewühl einer U-Bahn treffen, oder auf dem Parkplatz irgendeines verlotterten Supermarkts. Ich werd dich einfach ansprechen. Hätte ich schon lange tun sollen. Wir könnten ja mal ein Bier trinken gehen, nur wir beide. Ich hab da noch etwas, das ich dir gern geben möchte.

II. Vielleicht bald

Ich sitze in unserer Turnhalle, die nach Plastik und alten Schuhen riecht. Das Blatt, auf dem mir meine Englisch-Abschlußprüfung entgegen grinst, riecht auch – nach Holz und Klebstoff und ein bißchen nach Zwang. Draußen regnet es, dicke Tropfen zeichnen Schlieren an die Panzerglasscheiben. Verschwommene Fetzen von Grün, das von den Bäumen auf dem Hof herüber winkt. Ich schaue nach unten, betrachte mein Blatt, schaue wieder zum Fenster. Blinzle. Wische mir mit dem Handrücken über die Augen. Die Nützmann sitzt vorne, auf dem kleinen Pult, das sie vor die Halle mit den Turnmatten gekarrt haben.
„Alles in Ordung?“ fragt sie.
Ich nicke. Draußen steht eine Gestalt, hager, dunkle Kleidung. Der Regen verschmiert ihre Umrisse und dennoch kenne ich jeden Gesichtszug, jeden Muskel an ihr. Vor mehr als einem Jahr habe ich jedes Detail an ihr zu einem Teil von mir gemacht, selbst mit geschlossenen Augen würde ich sie erkennen. Und die Gestalt steht einfach da und wartet, als wäre sie niemals fort gewesen. Ich lächle ihr zu, und obwohl ich doch weiß, daß sie mich nicht sehen kann, hebe ich die Hand und winke. Plötzlich ist es gar nicht mehr schwer - loszulassen, meine ich. Es geschieht wie von allein: Meine Hände, die sich gegen das Pult stützen, meine Knie, die sich weich anfühlen und sich doch trotzig durchdrücken, bis ich fest auf den Beinen stehe. Ich schaue mich um, ein letztes Mal, und dann findet mein Blick wieder zurück zu dem großen Turnhallenfenster. Die Gestalt ist fort. Vielleicht ist sie niemals hier gewesen, war nichts als eine Illusion. Was für einen Unterschied macht das jetzt noch?
Nichts wird mich davon abhalten, zu gehen.
Vorbei an den anderen, die mit den Nasen an ihren Tischen kleben und angestrengt über Vokabeln brüten, vorbei an der Nützmann. Vorbei an schimmelblauen Gummimatten und Bällen in Gitterkörben und Holzreifen an breiten Schlachterhaken. Raus auf den Flur, wo sich das Scheppern der zufallenden Tür mit dem Echo meiner Schritte vermischt. Irgendwann finde ich mich mit einem Mal im Freien wieder und kann mich nicht erinnern, wie ich mich so schnell durch das Labyrinth aus Umkleidekabinen und Abstellkammern kämpfen konnte. Es muß Instinkt gewesen sein, pures Glück...oder die Erinnerung an einen Freund, der mich bei der Hand nahm und nach draußen schubste, ohne es auch nur zu ahnen.
Draußen schmeckt die Luft so anders...nach Feuchtigkeit, Kühle und Leben. Ich nehme einen Stein – einen von den milchigen Feuersteinen, die hier fast überall herumliegen - und kratze ein Wort an die Mauer der Turnhalle:
Danke.
 
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Kommentare  

du musst ein interessanter mensch sein!

thomas (31.12.2003)

Aaaah... die schön umschriebene Gedankenwelt der Protagonistin, verpackt in eindringliche Metaphern, zergehen förmlich auf der Zunge. SO kann eine Liebesgeschichte auch sein, eindringlich, unter die Haut gehend, ohne Zuckerguss und überflüssiges Pathos.
Habe ich gerne und mit Begeisterung gelesen!
5 Punkte


Gwenhwyfar (30.10.2002)

Unglaublich schön geschrieben - besonders der erste Teil... Wow ... ich bin sprachlos

Jingizu (19.08.2002)

Den zweiten Teil fand ich undurchsichtig und irgendwie störend. Das sollte eine extra Geschichte sein. Teil 1: Schön geschrieben. Man fühlt mit. So ist das mit der Liebe: Sie macht uns stumm. Warum nur?!

Stefan Steinmetz (11.03.2002)

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