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3 Seiten

Synthese

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
© Alice
Heute war jener dieser Tage. Berauschend und erfüllend. Tage mit Musik, 24 Stunden gelebt im Rhythmus von MTV. Entrückung.
8:00 am Morgen
Zähne putzen. Ganz bedächtig. Denn die Glückverheißung, ich bin den ganzen Tag und die ganze Nacht allein in der Wohnung, nur ich, Fernseher und Telefon, also meine beiden Lebenskrücken, läßt die Zahnbürste besonnen im Mund kreisen, so, wie es Dr. Dent empfiehlt. Enddarmreinigung. Duschen. Ich berichtige: rituelle Waschung.
Fernseher einschalten. Zappen, MTV. HotMusic. Lautstärke auf nachbarkompatibel. Küche. Elektrischer Wasserkocher. Verkalkt, aber nein, solche Prafanitäten können mich heute nicht aus meiner meditativen Trance breingen, denn ich darf meine Kraft nicht unnutz verschwenden, es wird ein anstrengender Tag.
9:00 am Morgen
Wasserkocher, siedendes Wasser gurgelt. Ausschalten. Den 0,5l Plastikbecher in Industrieblau (Blau sei die Farbe der Demut und der Unterwerfung, hat mal eine Bekannte gesagt) mit 3 gehäuften Teelöffeln Instantkaffee und Zucker beschweren, H2O rein, kalte Milch drauf, umrühren, die nächsten 2 Minuten wie Trip. Eingehüllt in Farbenklänge und die Dampfwolke über dem Becher.
Computer hochfahren. Und aufspringen auf die ISDN-Gleise, der Internetzug fährt gleich ab. Limp Bizkit "It's my way". Das muss natürlich um 4 Lautsärkeeinheiten maximiert werden. So. Erstmal Mails checken. GMX. Sie haben 9 ungelesene und davon 4 neue Nachrichten. So ist es brav.
Ein Infobrief von GMX-themselves, TRASH. Eine Rundmail von einem Freund, Einladung zum StuStaCulum in der Studentenstadt. Eine Mail mit Betreff: Kuckuck. Selber kuckuck. Der Mann, der mir sagt, er liebte mich, hat ein Foto von sich geschickt, er mit den Fliegerkollegen, breitbeinig mir Bierflasche stehend. Hm.
Eine Mail von Freundin, sie fährt für 2 Monate nach Grönland (workcamp) und verabschiedt sich. Die restlichen ungelesenen 5 wandern in TRASH. Moment mal, so war das nicht verabredet, Jessica Simpson in der Lautstärke, "Irresistable". Springe vom Stuhl, Fernbedienung, Ton aus. Gerade noch rechtzeitig.
10:00 News.
Marcus Kafka, mit tatsächlich kafkaeoiden Humor, erzählt mir, was ich als brainwashed MTV-victim wissen muß.
10:10 Bytesize.
Format: Menschen fressen sich im Vorspann voll, dann kommt eine Minute lang eine Videoaufzeichnung von einer "Band" oder einem "Star" aus gespielt privater Atmosphäre mit gespielt persönlichen Geständnissen, welche vorher natürlich vom Management der Musiker im Rahmen der Imageschaffung festgelegt wurden. Nur bei Fiona Apple bin ich so naiv und glaube alles, was sie sagt. Im Zwischenspann gute Videos, eher Electronic, frage mich, welche Zielgruppe schaut zwischen 10 und 11 MTV, weil die Auswahl der Videos durch Quoten beeinflußt wird, muss also vorher gründlich nachgeforscht werden. Ich wurde aber nicht gefragt. Wie gemein, *kick*
11:00 Making the Band.
Ja, das ist reales Leben. Realer als das Leben selbt. Nur die Werbespots alle 15 Minuten übertreffen die Realität von Making the Band, sonst nichts mehr.
11:30 Easy.
Ton ausmachen. Telefonieren.
12:00 European Top 20. Und Fräulein Rosentreter.
Liege entspannt auf dem Teppich, lausche der entzückenden Moderatorin, Wheatus, Garry Halliwell, U2 mit Elevator, Linkin Park (Lautsärke auf max.), Depeshe Mode mit Feel Loved, Aalyah, und, das muss auch sein, Lady Marmelade. Niemand weiß von den verborgenen Leiden, von Scham und Qual, die ich bei Mariahs "Loverboy", dem besagten "Voulez vous chouchez avec moi", deutschen Luxusproduktionen wie Sarah ft ... "Back to Badboys" durchlebe. Jede Faser zuckt in mir (ist aber kein Orgasmus). So viel Sinn für schlechte Inszenierung kann im Menschen doch nicht sein.
14:00 Select.
Merke langsam, Konzentration verläßt mich. Kaffe nachtanken, 2 Becher, denn der Urologe meines Vertrauens sagt, man solle mindestens 2l am Tag trinken. Und wovon 2l, hat er nicht gesagt. Suche die Zigaretten. Balkontür auf, rauchen, in den Garten unserer Nachbarn im Erdgeschoß aschen, 1 Zigarette lang, 2, 3, 4. Erst mal reicht es. Handy klingelt. SMS. Obszönitäten von einem Mann, pikant, pikant. Aber er ist dynamisch, erfolgreich, jung (relativ). Da entwickelt sich viel Verständnis mit der Zeit, nicht wahr.
16:00 Mad4Hits.
Patrick. Warum sind einige Menschen schlagfertig, witzig, anziehend und wunderbar zugleich, wie dieser Moderator?
Mit kalten Ketchupnudeln von gestern starre ich den Bildschirm an.
18:00 Bytesize.
Anwandlung von Kurzzeitdepressionen.
Ausgerechnet jetzt ruft meine Mutter an. Blabla. Ausnahmsweise bin ich unfreundlich zu ihr, weil sonst immer sehr höflich mit meiner Mutter, am Telefon und auch so. Denn Höflichkeit füllt das dumme Schweigen aus, suggeriert mal eben in der Mikrowelle aufgetaute Wärme, zwingt zur Sachlichkeit (Gott sei Dank) und ist ein Zeichen der guten Erziehung, also hat meine Mutter nichts falsch gemacht. „Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältnis von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine Leidensgeschichte aus.“ Friedrich Nietzsche aus „Menschliches, Allzu menschliches“ Auflegen.
Lehne mich an die Wand, merke, dass Kopfschmerzen das Gehirn zerbersten, mir ist zum Heulen.
19:00 Webcharts.
Im Netz existieren nur gute Menschen, die Nirwana in die Charts mit zuverlässiger Regelmäßigkeit wählen.
Nach drei Ibuprofentabletten weine ich nicht mehr. Nach Novalgin nur noch leises Wimmern. Noch Dibromil, schlucken. Warten auf Erlösung.
20:00 US TOP 20.
Koma.
21:00 2gether. Comedy.
Koma.
21:30 Musik.
Auch in mir.
21:45 Newsmagazin.
Unglaublicher Druck im Ohr, sehr unangenehm, Gefühl, das Gehirn quölle gleich aus den Ohren. Zumindest keine Schmerzen mehr. Tunnel.
22:00 Making the Band.
Heute morgen war es ja noch lusig. Telefon.
Jetzt gilt der Nachttarif, kann für 3,60 DM pro h republikweit telefonieren. Weit in die Nacht hinein teile ich am Telefon mein Leben mit anderen Menschen. Ich nenne sie gute Freunde, sexuelle Bekanntschaften und neutrale Bekannte. Jetzt gehen wirklich gute Videos. Bin glücklich, schlafe irgendwann ein, meine beiden Krücken habe ich zur Seite gelegt, denn beim Träumen komme ich ohne sie zurecht. Im Traum erscheint mir ein Gedicht.

Schweigende Nacht. Schweigendes Haus
Ich aber bin der stillsten Sterne,
ich treibe auch mein eigenes Licht
noch in die eigene Nacht hinaus.

Ich bin gehirnlich heimgekehrt
aus Höhlen, Himmeln, Dreck und Vieh
Auch was sich noch der Frau gewährt,
ist dunkle süße Onanie.

Ich wälze Welt. Ich röchle Raub.
Und nächtens nackte ich im Glück:
es ringt kein Tod, es stinkt kein Staub
mich, Ich-Begriff, zur Welt zurück.




 
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Kommentare  

Gedicht Gedicht, geklaut oder nicht, was Leonardo anficht' ist der blanke Neid um die schöne Geschicht'.

Dr. Ell (27.09.2009)

Das Gedicht ist geklaut.

Gottfried Benn (1886-1956) - "Synthese".

Du solltest Dir nicht anmaßen, Werke eines wirklich bedeutenden und großen Autors als Deine zu postulieren. Jedenfalls erkenne ich keine Zitation.

Leonardo


Leonardo (04.05.2004)

Ergreifend, traurig und realitätsnah. Jedenfalls aus der Sicht eines sporadischen Musikkanalsehers.
Wiedermal gute Mischung aus Leben und Gedanken, zwei unterschiedliche Welten.

4 Punkte.


Redfrettchen (08.11.2003)

heftig, sarkastisch, ehrlich -gefällt mir supergut und erinnert mich ein wenig an NickHornby-Charaktere!

Pascal (24.03.2002)

Das Gedicht ist absolut beeindruckend... genauso wie der Rest des Textes. *****

Graf Zahl (26.01.2002)

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