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3 Seiten

Das Lied *2*

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
© Holmes
Punkt 12.52 Uhr öffne ich mein Schließfach. 2 Bücher raus, 3 rein, MD-Player in die Jackentasche. Endlich. Meine Extra-Tasche mit den Übernachtungsklamotten umgehängt geh ich hinter meiner Freundin her, zur überfüllten Bushaltestelle. Durch Ellenbogeneinsatz gelangen wir nach vorne und erwischen gerade noch den richtigen Bus. So, jetzt fängt mein Wochenende an. Das Gedrängel im Bus bekomme ich kaum mit, bin viel zu sehr in das Lied vertieft, dass er in mein Ohr singt.
Diese Liebe, ob ich so etwas auch empfinden werde? Kann ich das überhaupt? Es muss wunderschön sein, aber auch sehr schmerzhaft. Probieren kann man es ja mal.
20 Minuten später, das Lied 4 mal gehört steigen wir aus. Der Freundlichkeit halber nehm ich die Stöpsel aus den Ohren und betrete wieder die normale Welt. Die Sonne scheint seit Tagen mal wieder. Ich beobachte einen Vogel, der aufgeplustert auf einer Antenne sitzt. Der hat es gut, muss sich keine Sorgen machen, lebt in den Tag hinein. Menschen haben es da viel schlimmer. Schulstress, Abi, danach studieren, Arbeitslosigkeit wenn möglich umgehen und dann einfach leben. Nur so vor sich hin. Aber bloß nicht über die Sorgen sprechen. In meinem Alter gibt es solche Sorgen nicht. Sie müssen verdrängt werden.
Der Rest der Clique verabschiedet sich und ich unterhalte mich mit meiner Freundin über das kommende Wochenende. Sturmfreie Bude, 2 Tage Zeit, jede Menge Filme, Themen zum Reden, Spaß.
Er hatte auch Spaß mit ihr, hat sein Leben, seine Freude geteilt. Ihr Leid halbiert. Bis zum Ende. "Ich trag dich bei mir bis der Vorhang fällt." Wie ist es, so geliebt zu werden? Beschützt zu werden? Immer jemanden zu haben? Stört es einen nach einer gewissen Zeit oder ist es einfach schön?
Bei ihr zuhause angekommen erstmal Hallo sagen. Dem Bruder erklären, dass die Playstation 2 heute Abend besetzt ist. Ihn mit dem Spiel, dass er sich von mir ausgeliehen hat erpressen. Essen. In Gedanken versunken bekomme ich kaum mit, was meine Freundin sagt. Es geht vermutlich um das Essen heute Abend. Mal wieder Fertig-Pizza. Jamm.
Ich weiß noch, wie ich mich als Kind immer gefragt hat, ob jeder Mensch, jedes Tier ein richtiges, denkendes Wesen ist. Ob jeder sein Leben anders erlebt. Jeder ein eigenes Schicksal hat. Mich hat der Gedanke damals sehr fasziniert. Tut er eigentlich immer noch. Seltsam, warum denke ich gerade jetzt daran?
Ob er sich auch gewundert hat? Ich weiß so wenig von ihm, dabei bewundere ich ihn so sehr. Ich wäre gerne wie er. So stark, klug, kreativ. Da bin ich das glatte Gegenteil. Wie hat er wohl die Welt gesehen? Wie war er so "drauf"? Eher lustig, zurückhaltend, laut, still?
Meine beste Freundin taucht auf und fährt mit ihrem silbernen Roller gleich einkaufen. Praktisches Gerät. Danach machen wir uns ans Vorbereiten. Wohnzimmer freiräumen, Matratzen schleppen, Bettzeug zusammensuchen. Währendessen diskutieren wir. Über Sterbehilfe. Unser politisches System. Über den Wahlausgang. Über die Rente. Wenn das unsere Eltern hören könnten, von wegen pubertierend. Aber so ist es ja immer, nie bekommen sie was mit. Hoffentlich werde ich nie so. Ich will sowieso nicht erwachsen werde, nur so vor mich hinleben. Ist das nicht langweilig auf die Dauer?
Ich verschwinde kurz unter die Dusche. Der Vorteil einer guten Freundin. Die anderen höre ich am PC im Zimmer nebenan tippen. Während ich mich mit 3 verschiedenen Mitteln einschäume, Haarshampoo, Duschgel, Gesichtspeeling, summe ich mal wieder.
Ich habe seine Lieder auch schon früher, als kleines Kind, gehört. Da ich aus der gleichen Ecke komme kam ich nicht drumrum. Ich verstehe nicht, warum er bei Jugendlichen so unbeliebt ist. Nur weil er nicht englisch singt? Meist ernste Themen behandelt? Gerade das mag ich an ihm. Die Lieder sind voll Gefühl, ob Liebe oder Hass.
Gerade als ich aus der Dusche steige klingelt es. Die anderen sind da. Ich beeile mich mit dem abtrocknen und dem anziehen. Pizzen im Ofen machen wir uns an den ersten Film, Moulin Rouge. Naja, nicht gerade mein Lieblingsfilm, dennoch laufen mir jedesmal am Ende die Tränen runter. Dabei mag ich Lovestories gar nicht. Nach dem Film machen wir eine kurze Pause, reißen die Fenster und die Balkontür auf. Sauerstoff. Ich setze mich draußen auf einen kalten Gartenstuhl. Starre nach oben, den Mond an. Summe leise das Lied mit, was mein MD-Player schon wieder spielt. Denke nach.
Hat er in mancher Mondnacht an sie gedacht? Den Mond gefragt, ob sie ihn sieht? Ihn noch liebt? So einen Verlust könnte ich nicht verkraften. Ich bin zu schwach, zu labil. Ob es wohl Engel gibt? Wenn ja, wäre sie einer. Seine Liebe würde sie dazu machen.
Die anderen warten schon auf mich, nun steht Gun Smith Cats an. Wir gucken aber nur den ersten Teil, da ich wenig Lust habe alles zu schauen und meine Freundinnen ebenso. Endlich kommen wir zu Neon Genesis Evangelion. Ich liebe diese Serie. Die Story ist genial durchdacht. Sie erinnert mich sehr an das Lied. Auch in der Serie geht es um Schmerz, Angst, Verlust. Aber auch um Hoffnung, Selbstfindung, Liebe. Einfach schön abgestimmt. Nach 3 Stunden werden wir allerdings müde, eine von uns schläft schon, und so hören wir auf und legen uns hin.
Bevor ich einschlafe stecke ich mir nochmal die Kopfhörer in die Ohren und höre es ein letztes Mal für heute. Ein letztes Mal ihr Lied. Ich versuche mich zu entspannen, mich von meinem Körper zu lösen. Mir den Kopf freizuschaufeln. Nicht zu denken. Es gelingt mir nicht, die Sorgen halten mich fest. Ich merke, wie die Müdigkeit sich langsam ausbreitet. Schalte das Gerät ab. Lege die Kopfhörer bei Seite. Wünsche ihm eine Gute Nacht. Schlafe ein.


***bereits unter RallyVincent veröffentlicht***
 
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