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6 Seiten

Winternacht

Fantastisches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
© tommes
Das leise und unregelmässige Pfeifen drang langsam in mein Bewusstsein ein und zog mich ganz allmählich aus dem Schlaf. 
Etwas benommen erwachte ich nun völlig und gewahrte dieses helle Winseln unmittelbar neben meinem linken Ohr, es hörte sich irgendwie drängend und fordernd an – ganz so, als ob ich ungeduldig zur Eile ermahnt werden sollte. Nun vollständig erwacht gewöhnten sich meine Augen an das kalte und doch so wunderschön geheimnisvolle Mondlicht in meinem Zimmer und dann sah ich das grinsende, mit Fangzähnen versehene Gebiss direkt vor meinem Gesicht – und auch diese übergrossen Augen, die mich unversehens anstarrten.
Okay, Lady hatte es also wieder mal geschafft – „wie macht sie das nur immer mit der Tür“, fragte ich mich noch, und da fuhr mir auch schon etwas rauhes, heisses übers Gesicht.

Sie müssen wissen, lieber Leser, „Lady“ ist eine Drahthaar-Jagdhündin mit dunkelbraunem Fell und mit ihren anderthalb Jahren überragt sie jeden durchschnittlichen Schäferhund. Gewiss, sie ist tolpatschig, verspielt und manchmal völlig abgedreht, aber sie ist intelligent – oh ja – sehr intelligent. Aber mich mitten in der Nacht zu wecken, war schon ein starkes Stück, sie wollte mir irgendetwas sagen...sie benahm sich merkwürdig.
Als ich mich aufrappelte, um mich im Halbdunkel zurechtzufinden und nach der Kleidung zu sehen, setzte sie sich kerzengerade auf den Boden und liess mich nicht mehr aus den Augen, sie verfolgte jede meiner Bewegungen, aber sie störte mich nicht, sondern blieb geduldig sitzen und starrte mich nur an – ganz so, als wüsste sie etwas, wollte mich auf eine Erkenntnis vorbereiten...

„Quatsch“, dachte ich nur, „Dann lass uns mal raus in die kalte Nacht!“ und als hätte sie meine Gedanken gespürt (Hunde können so etwas, lieber Leser, Hunde sprechen mit den Menschen auf ihre Weise, lesen Gedanken, spüren die Zukunft, teilen einem Botschaften mit...Hunde sind sehr seltsame Wesen), legte sie in diesem Moment den Kopf schief, hob ihre kurzen herunterhängenden Ohren an und fing an, nach meinen Stiefeln zu schnappen, die ich mittlerweile angezogen hatte.
Ein Blick auf die Uhr zeigte 02:15 morgens, heute ist der 21. Dezember und ich stehe mitten in der Nacht auf, um mit meinem Hund rauszugehen, der mir irgendetwas zeigen will und sich komisch verhält – allein schon die Schlafzimmertür so geschickt und leise zu öffnen, dass ich davon nichts mitbekomme, ist eine Meisterleistung, na toll!
Ich öffnete die Haustür, und wurde von der Winternacht auf sanfte, wohlwollende Weise empfangen.
Ich trat nun vollends hinaus und da sah ich es – der volle Mond stand hoch am Himmel, beleuchtete mit seinem fahlen, mystischen Licht eine Szene, die sich mir für immer in ihrer Schönheit und geheimnisvollen Natur einprägen wird.
Überall um mich herum sanken Milliarden von winzigen, bläulich weissen Sternen glitzernd und gemächlich zu Boden. Das Land ringsherum, die Felder des kilometer weit entfernten Steinheimer Hofs, die Weinberge und die nahen Taunusausläufer, die Zufahrt zu meinem Haus, der Weg zum kleinen Wäldchen in der Nähe, im Süden der Blick bis zum Rhein hinunter – das alles war Schneebedeckt. Ich stand, starr vor Staunen, in einer wunderbaren Nachtwelt – es musste seit Stunden geschneit haben – die ganze Welt lag tief und wohlbehütet unter der kalten und doch so fürsorglich warmen Schneedecke...und es war kein Geräusch zu hören, nicht eines! 

Mein Atem warf kleine Dampfwölkchen in die Luft, als ich wie in Zeitlupe losstapfte, mich immer wieder dabei um die eigene Achse drehend, um dies alles in mich aufzunehmen, das Gesicht nach oben hebend, spürte ich die kitzelnden und liebkosenden Schneeflocken – sie hatten eine weite Reise hinter sich und schmolzen nun dahin auf meiner Zunge, in meiner Nase, auf Stirn und Augen, um mich mit ihren sanften Berührungen zu erfreuen...und nun hörte ich sie flüstern, kaum wahrnehmbar, aber ich hörte sie, wenn ich den Atem anhielt...ein leises Wispern, eine Art unmerkliches Prasseln, wenn sie zu Boden fielen. Ich begriff – sie freuten sich, den langen Weg aus dem Himmel bis zum Erdboden geschafft zu haben, sie lachten, wurden eins mit der allumfassenden, schneeweissen Landschaft und nahmen Abschied von den Wolken, aus denen sie geboren wurden.

Wie könnte ich ihnen, geneigter Leser, nur beschreiben, was in diesem Moment in mir vorging? Ich lebe im Rheingau, einer Gegend, in der man Schnee nur noch aus der Jugend kennt, es bestenfalls mit Schneeregen zu tun hat, und eine „weisse weihnacht“ so etwas wie ein Kindheitsmärchen ist, und nun hatte sich in dieser Vollmondnacht die Welt um mich herum verzaubert, lud mich schweigend ein, teilzuhaben an ihrer magischen Schönheit und so ging ich weiter den Feldweg hinauf, hinter mir eine einsame , tiefe Spur in der ebenmässigen Schneelandschaft hinterlassend – ausser dem Knarren bei jedem Schritt und meinem gedämpften Schnaufen (immerhin gings bergauf und ich sank bis zu den Waden ein) war die Stille perfekt. 
Wäre ich hier nicht geboren und aufgewachsen, ich wäre unweigerlich längst vom Feldweg abgekommen, zu sehen war er unter dieser Schneedecke längst nicht mehr.

Ein Blick über die Schulter zeigte mein Haus dort unten 500 Meter im Tal liegend, eine dünne Rauchfahne zog sich aus dem Schornstein – es war alles so friedlich, so perfekt...doch plötzlich fragte ich mich, wo Lady abgeblieben war – durch das überwältigende Naturschauspiel, dass sich mir in dieser Winternacht offenbarte, hatte ich meinen Hund total vergessen, machte mir aber keine grossen Gedanken, denn Lady rennt, solange sie will und meistens sitzt sie dann vor der Haustür, wenn ich zurückkomme und sieht mich mit ihrem typischen „kommst du auch schon, guten Morgen!“Blick an. Und grinst dabei.

Weiter und immer weiter ging es bergauf. Links des Weges stieg der Boden mit seinen Weinbergen und vereinzelten Schneeüberladenen Bäumen an, die eine geisterhafte Schattenwelt auf den jungfräulichen Schnee des vor mir liegenden Weges warfen.
Zu meiner rechten hingegen fiel der Boden sanft ab und verlor sich in den kilometergrossen Mais und Weizenfeldern, die sich bis fast zum Rhein hinunterzogen – dorthin hatte es meinen Hund verschlagen und Lady rannte, bellte, jaulte, winselte vor Freude – sie liebte den Schnee ebenso wie ich.
Es war ein herrliches Bild – diese kleine, umherjagende Gestalt dort unten fiel in Schneelöcher, rappelte sich auf, bellte wütend und stürzte aufs neue los, um mitten in dieser riesigen glatten weissen Fläche der Felder im Mondlicht Wesen zu erhaschen, die für die menschlichen Sinne niemals wahrzunehmen wären...
So manches Mal kam sie dabei geradewegs auf mich zugestürzt, um jedoch dann in sicherer Entfernung anzuhalten, sich den Schnee vom Fell zu schütteln und um sich zu vergewissern, dass ich auch wirklich da war. Das eine oder andere Mal jedoch liess sie sich auch absichtlich von mir fangen, immer dann, wenn die Ballen ihrer Pfoten zusehr vom Schnee verklebt waren und sie mich dazu brauchte, sie davon zu befreien.
Und so ging es weiter, höher hinauf – ein ständig wiederkehrender Zyklus, ich aber wollte das Bild von oben betrachten, wie einer dieser majestätischen Raben, die tagsüber die Felder bewohnten.
Nur versank ich mittlerweile bei jedem Schritt bis fast zu den Knien im tiefen Schnee, erkannte nur durch meinen Instinkt, wo der Weg liegen musste. – zu meinem Glück leuchtete die volle Mondscheibe mir voraus.
Das war jedoch seltsam, denn nach dieser langen Zeit der Wanderung müsste der alte Erdbegleiter schon längst hinter meinem Rücken seine endlose Bahn weiterziehen, doch machte ich mir darüber keine Gedanken. Auch glaubte ich, ein leises Ziehen in meiner Lunge zu spüren, schenkte dem aber im Angesicht dieser geheimnisvollen Welt keine Beachtung – mir offenbarte sich in dieser Nacht eine so vollkommene Fremdartigkeit, dass es mir immer wieder den Atem verschlug, der mittlerweile grosse weisse Wolken vor dem Gesicht entstehen liess. 
Ich war nun so von dem Wunsch beseelt, zur Spitze dieser Weinberge zu gelangen, dass ich die plötzlich von der Seite auf mich zustürzende Lady übersah.
Sie wollte mich nur erschrecken, doch kam meine Reaktion zu spät – ich konnte im tiefen Schnee nicht mehr rechtzeitig ausweichen und deshalb prallte mein tolpatschiger Hund aus vollem Lauf gegen mich.
Ich höre noch ihr jetzt selbst erschrecktes Aufjaulen und falle einen etwa 5 Meter tiefen Abhang hinunter, der durch den alles überdeckenden Schnee bisher meinen Blicken verborgen blieb, lande mit dem Hinterkopf und dem Rücken voran auf etwas unebenen, harten, etwas wie Gesteinsbrocken unter dem Schnee...da liege ich nun mit ausgebreiteten Armen, öffne langsam die Augen, sehe den Schnee auf mich niederschweben – 
und der Schnee wird schwarz.


~*~


Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen, denn ich spüre sie nicht mehr, spüre nur die wohlwollende Schwere und Wärme, die von dem Schnee ausgeht, der mich bis zur Hüfte bedeckt. Mit dem Rücken an einen Felsbrocken gelehnt, oder was auch immer sich unter dieser Verwehung befindet, liege ich nun hier und schaue meinem Hund beim Jagen der Schatten im Schnee zu – doch wer weiss, auf was für einer Jagd meine treue Weggefährtin mit dieser elementaren Freude daran wirklich ist? Was kann sie sehen, was für uns Menschen auf immer unsichtbar bleiben wird? Was sieht sie? Die harten Schneebrocken in meinem Bart beginnen leicht zu ziehen, aber das stört mich nicht, gerade hat Lady weit entfernt tief unter mir einen regelrechten Purzelbaum geschlagen, fiel tief in das glitzernde Weiss, um sich sofort wieder daraus hervorzukämpfen und erneut hakenschlagend und mit lautem, für mich hier oben dennoch gedämpftem Bellen und Jaulen über die bedeckten Felder zu fliegen.

Wenn ich den Kopf etwas nach links drehe, kann ich den Vollmond sehen, meinen alten Freund. Er steht dort im Osten majestätisch und wissend am nächtlichen Firmament, hinter einem weissen Schleier aus Myriaden glitzernder Sterne, die zu mir herunterfallen, verborgen.
Aber er ist da und er lässt mich nicht alleine. Es wird um mich nicht dunkel sein. Der Schnee bedeckt mich nun bis zum Bauch und gibt mir Frieden. 
Wenn ich früher an einem stürmischen und regnerischen Herbstabend die Heizung einschaltete, das Licht herunterdimmte, um mich mit Stephen King’s Kurzgeschichtensammlung „Nachtschicht“ auf dem gemütlichen Sofa einzurichten, fühlte ich mich geborgen – hier, in dieser Nacht jedoch bin ich zuhause, mit jeder Faser meines Körpers und mit meinem Geist.

Ich wundere mich nicht, nicht über den Bart, den ich nun trage, der ebenso wie meine Brauen und Wimpern mit Schnee und Eis verklebt ist und der Wochen gebraucht haben muss, um so zu wachsen, ich wundere mich nicht über den Mond, der kleiner und heller als zu Beginn meiner nächtlichen Reise tiefer im Osten steht, obwohl er westwärts wandern müsste...wie lange war ich unterwegs...Stunden, Tage, - oder Jahre? Lady kommt auf mich zu, um nach mir zu sehen, stellt sich über mich, schnüffelt kurz an meiner Nase, legt wieder einmal ihren Kopf auf so unverwechselbare Weise schief und schaut mich mit diesem sprechenden Blick an - ich will ihr zu verstehen geben, dass alles in Ordnung ist, dass ich mich wohl fühle, aber ich bringe nur ein geflüstertes „geh schon“ heraus, meine Stimmbänder scheinen nicht mehr zu funktionieren, aber das ist auch nicht nötig.
Und schon rennt ihre Silhouette auf einen kleinen Baum zu, um kurz davor nach rechts auszuweichen, was sie natürlich nicht schafft (dieser Tolpatsch) und dumpf krachend fällt eine gewaltige Ladung Schnee von diesem Baum auf sie herunter, den sie mit einem lauten Lachen in der Stimme verbellt. Wo nimmt sie bloss die Energie her? 
Jedoch fällt mir auf, dass Lady’s Fell sich irgendwie verändert hat – es scheint heller, silbriger. Auch scheint sie langsamer zu werden – und sie hinkt! Irgendwie sehe ich ein Bild von einer uralten Wölfin vor mir, wenn ich sie nun bei ihrer fantastischen winterlichen Jagd beobachte.

Mein Blickfeld umspannt immer noch das ganze Tal vor mir, jedoch wird es mittlerweile seitlich eingeschränkt, denn um mich herum werden die Schneeverwehungen höher und nehmen mir die Sicht, türmen sich rings um mich schützend auf, und dies warme weisse Bett lässt mich nicht hinaus in die eisige Kälte der Luft, bewahrt mich davor – ich kann die Finger nicht mehr bewegen – warum auch? Ich brauche sie nicht mehr, meine kleinen weissen, das Gesicht streichelnden umherfliegenden Freunde bedecken mich, umwehen meinen Kopf und reden mit mir – sie sprechen leise und freundlich, beruhigen mich, wenn mein Hund nicht mehr zu sehen ist – und sie tanzen für mich durch die Nacht.
Ich kann mich nicht mehr bewegen, aber ich habe keine Angst. 
Denn ich verstehe.

Diese Winternacht soll für mich in ihrer Schönheit nie zu Ende gehen , und sie wird für mich nicht enden. 
Mein weisses Bett ist hier gemacht – hier in diesem Zentrum einer Welt des 21. Dezembers, einer Winterwelt, die ich mein ganzes Leben nie betreten durfte – bis heute nicht. Hier werde ich für immer ruhen, werde auf immer meiner treuen Lady bei ihrer weissen Jagd zusehen – auch wenn sie nun alt geworden ist und schwach, ebenso wie ich. Sie war es, die mich in diese Welt führte. Sie wusste, dass wir niemals den Weg zurück gehen würden, dass wir für immer heimkehrten, hierher – in diese Winterwelt.

Ich kann meinen Hund gerade nicht sehen – kann meinen Kopf nicht mehr heben und der Schnee legt sich sachte und zart auf mein Gesicht. Meine Augenlider sind nun leicht zugefroren und eine leichte sanfte Brise weht weiterhin Schnee über meinen Kopf und deckt ihn zu – auch das Luftholen fällt mir etwas schwer - aber mein Hund wird mich finden und meine Augen befreien, damit ich ihm bei seiner Jagd zusehen kann – auch wenn ich müde bin. 

Ich kann den Schimmer des Monds sehen. Ich werde warten – warten und schlafen - hier in dieser Winternacht.

Ich warte
 
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Kommentare  

Schrecklich-schöne erstklassig geschriebene Wintergeschichte. Einfach toll.

doska (27.05.2009)

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