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11 Seiten

Was nicht vergessen wird

Romane/Serien · Spannendes
Der alte Krieger musterte den jungen Mann, der ihm gegenüber saß, mehrere Minuten lang mit seinem gesunden Auge. Dann blickte er nach rechts hinüber, jedoch ohne dabei den Kopf zu wenden, sodass das Glasauge in der linken Augenhöhle weiterhin auf sein Gegenüber fixiert blieb, während das andere Auge sich nach rechts wandte. Falls dies den Jüngeren nervös machte oder es ihm irgendwie unbehaglich war, zeigte er es nicht. Er blieb nur ruhig sitzen und erwiderte den starren Blick des künstlichen Auges ohne eine Miene zu verziehen.
Der Ältere winkte nach dem Barmädchen und bestellte mit einem Handzeichen einen weiteren Krug Bier.
Einen Moment lang starrte er ihr hinterher, aber dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Gegenüber zu, dem jungen Mann im schwarzen Mantel. Dieser hatte immer noch den Blick auf den Älteren gerichtet, ruhig und ohne nur ein einziges Mal zu blinzeln, jedoch nicht bedrohlich. Vor ihm stand noch immer sein voller Bierkrug ? er hatte ihn kaum angerührt, während sein Gegenüber nun schon den sechsten bestellt hatte. Auch hatte er während des ganzen Abends kein Wort gesagt, sondern nur dem Älteren bei seinen Erzählungen zugehört. Seine Miene verriet nichts über seine Gedanken, und ein zufälliger Beobachter hätte auch nicht beurteilen können, ob er wirklich zuhörte oder es nur vorgab, und in Wirklichkeit in eigene Gedanken versunken war.
Wie es auch sein mochte, den Älteren kümmerte es nicht. Er war froh, jemanden gefunden zu haben, mit dem er reden konnte ? oder besser gesagt zu dem er reden konnte, denn es war ja nur er, der sprach. Er erzählte von den neuesten Gerüchten, was draußen los sein mochte. Gerüchte, von denen meistens die eine Hälfte erstunken und erlogen und die andere Hälfte hoffnungslos übertrieben war ? das übliche Tavernengeschwätz eben.
Was ein Gerücht betraf, war dies jedoch anders. Ein Gerücht, dass mit den Händlern aus dem Osten seinen Weg hierher, in die blühende Handelsstadt Estrat fand. Ein Gerücht über einen bevorstehenden Krieg, über eine mächtige Armee, die angeblich von Theelgard auszog, um die Reiche im Westen zu erobern (es wurde geflüstert, dass vielleicht sogar das Königreich Ardikan, die Heimat der Ritterorden, ihr Ziel sei). Ein Gerücht, dass zur Gewissheit geworden war, als ein Teil der Armee vor drei Tagen Estrat besetzt hatte.
Der Kommandant, ein eindrucksvoller, fast sieben Fuß hoher Mann in schwarzer Rüstung und einem riesigen Schwert an seiner Seite ? er nannte sich Thalamus ? war mit seiner Armee im Rücken vor die Stadttore getreten und hatte verkündet, dass er die bedingungslose Kapitulation der Stadt gegenüber Theelgard verlangte. Andernfalls würde die Stadt dem Erdboden gleichgemacht werden. Der Lord von Estrat hatte ein Blick auf die Armee geworfen (die nur ein Teil der ganzen Armee darstellte, wie sich später heraustellen sollte), kurz geschluckt und dann schweren Herzens verkündet, dass er annehme und Estrat sich ergebe. Der Lord war ins Gefängnis geworfen worden und Thalamus hatte sich in dessen Palast einquartiert und sich selbst zum unumschränkten Herrscher über Estrat erklärt.
Als sich nun die Tür öffnete und der Mann, der eintrat, drei mal mit seinem Eisenstab auf den Boden klopfte, wurde es in der Taverne schlagartig still. Der Mann entrollte ein Pergament und verkündete:
"Jeder männliche, derzeitig in Estrat Anwesende im kampffähigen Alter, der sich in körperlich und geistig gesundem Zustand befindet, hat sich morgen zwei Stunden nach Sonnenaufgang auf dem Marktplatz von Estrat einzufinden, wo er die Gelegenheit bekommen wird, sich den Truppen von Theelgard unter der Führung von Lord Thalamus anzuschließen. Wer sich nicht anschließen will und sich weigert Lord Thalamus die Treue zu schwören, wird gefangen genommen. Wer nicht zur angegebenen Zeit erscheint, aus welchen Gründen auch immer, wird hingerichtet."
Der Bote rollte das Pergament wieder zusammen, griff nach seinem Stab und verließ die Taverne. Für ein paar Sekunden herrschte Totenstille, dann war die Taverne von lauten Protesten und wütenden Stimmen erfüllt.
Der alte Krieger jedoch grinste nur, lehnte sich zurück und klopfte mit seinem Holzbein auf den Boden.
"Mich würden sie sowieso nicht haben wollen. Ich bin alt, fett und verkrüppelt. Aber selbst wenn ich noch kämpfen könnte, würde ich mich lieber gefangen nehmen lassen, als mich ihnen anzuschließen."
Er nahm seinen Bierkrug und leerte ihn bis zur Hälfte in einem Zug. Erneut musterte er den Jüngeren.
"Aber dich werden sie haben wollen. Du bist jung, du kannst kämpfen."
Er machte eine Pause. Der andere erwiderte nichts.
"Wirst du dich ihnen anschließen? Oder lässt du dich gefangen nehmen und hoffst darauf, dass du eines Tages die Möglichkeit findest, aus deinem folgenden Leben als Sklave zu entkommen? Nein, du wirst dich ihnen anschließen, keine Frage. Du bist jung, hast dein Leben vor dir. Du würdest es nicht so einfach wegwerfen."
Der andere sagte immer noch keinen Ton. Er saß nur weiterhin still da und beobachtete den alten Krieger.
"Ich will dir eine Geschichte erzählen", sagte der Alte nach kurzem Schweigen. "Es ist meine Geschichte, auch ich habe einst in einer Armee gekämpft und es gab einen Tag vor zwei Jahren, der mein ganzes Leben verändert hat."
Der andere sah ihn aufmerksam an und zum ersten Mal blitzte ein Zeichen von Interesse in seinen Augen auf.
Der alte Krieger nahm es als schweigende Zustimmung.
"Also", begann er. "Ich war damals Söldner in der Armee von Söldnerführer Vargas. Sicher hast du schon von ihm und den Ereignissen vor zwei Jahren, in der Schlacht der Fallenden Banner gehört..."

***

Cirrions Hand fuhr automatisch zu seinem Schwert, als er unsanft geweckt wurde. Obwohl er nun schon auf die fünfzig zu ging, waren seine Reflexe so gut wie eh und je. Er sah ein verschwommenes Gesicht über sich und blinzelte benommen. Eben noch war in der Höhle dieses Magiers gewesen...
Als der letzte Rest seines Traumes verflog und er seinen alten Freund Rhell erkannte, ließ er das Schwert wieder los. Er erinnerte sich wieder, dass er sich nicht in der Höhle des Magier befand, sondern in seinem Zelt, und dass die Schlacht, von der er geträumt hatte, bereits vor zwanzig Jahren geschlagen worden war. Sein Bruder war damals im Kampf gegen den Schwarzmagier umgekommen und die Erinnerung an diesen Tag verfolgte ihn noch immer in seinen Träumen.
Er setzte sich auf und schüttelte den Kopf, um ganz wach zu werden. Eine Sekunde später bereute er es, als schlimme Kopfschmerzen, die Nachwirkung des letzten Abends, sich einstellten.
"Guten Morgen", begrüßte er Rhell, den Halbelfen mürrisch.
Rhell grinste breit. "Guten Morgen, du verweichlichte alte Ratte. Du scheinst mir mit zunehmendem Alter wirklich immer weniger zu vertragen. Wenn ich dich nicht geweckt hätte, hättest du das Treffen heute glatt verschlafen."
Cirrion warf Rhell einen säuerlichen Blick zu und sagte ein paar nicht besonders freundliche Dinge über dessen Mutter. Dann massierte er vorsichtig seine Schläfen und dachte nach. Das Treffen... welches Treffen... da war doch was... Irgendwo weit hinten in seinem Kopf schimpfte ihn eine leise aber durchdringende Stimme gehörig aus und versuchte ihm etwas von einem Treffen mit irgend so einem Typen namens Vargas zu erzählen, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, noch konnte er dem, was die Stimme erzählte, folgen.
Cirrion hörte Rhell einen leisen Seufzer ausstoßen und sah auf. Ein Schwall eiskaltes Wasser traf ihn ins Gesicht. Er fiel rücklings auf sein Nachtlager zurück und war mit einem Mal hellwach.
Rhell zuckte nur grinsend die Schultern. "Tschuldige", war sein Kommentar. "Musste sein."
Cirrion wollte zu einer wütenden Erwiderung ansetzen, doch Rhell hatte das Zelt schon verlassen. Jedoch musste Cirrion ihm recht geben, der Eimer Wasser hatte geholfen. Er wusste jetzt wieder, warum er hier war, und noch wichtiger, was das für ein Treffen war. An den letzten Abend erinnerte er sich jedoch nicht und in Anbetracht dessen, wie er sich heute morgen fühlte, war er sich auch gar nicht sicher, ob er das wollte.
Der alte Krieger stand auf und kleidete sich an. Dann griff er nach dem kleinen Spiegelstein, den er immer mit sich führte und blickte hinein. Er sah so ähnlich aus, wie er sich fühlte. Rhell hatte recht, er wurde älter und er vetrug so lange und ausgelassene Feiern nicht mehr (wenn er daran zurück dachte, wie schlimm die Feiern gewesen waren, als er noch jung war, wunderte er sich, dass er überhaupt noch am Leben war). Ohne nachzudenken schleppte er sich zu seinem Wassereimer um sein Gesicht zu waschen. Als seine Hände nur nach Luft griffen, meldete sich die Stimme in seinem Kopf erneut und schalt ihn einen senilen Trottel.
Nun, dafür würde Rhell ihm auf jeden Fall noch büßen müssen, ob das nun nötig gewesen war oder nicht.

Eine halbe Stunde später saß er vollständig wach, angekleidet und notdürftig gewaschen im Zelt von Söldnerführer Vargas (auch wenn dieser es vorzug, "General" genannt zu werden). Er saß dem Söldnerführer an einem großen hölzernen Tisch gegenüber und wartete darauf, dass dieser das Gespräch eröffnete. Vargas eindrucksvolle Gestalt maß fast sieben Fuß und die Tätowierung eines roten Blitzes, die seine Glatze zierte und über seine Stirn bis zwischen seine Augen verlief, ließ ihn noch brutaler und unbarmherziger erschienen. Eine Weile sagte niemand ein Wort und Cirrion fühlte sich mit jeder Sekunde unbehaglicher. Vargas wusste dies und nutzte es zu seinem Vorteil. Schließlich schien er wohl der Meinung zu sein, den Mann lange genug geschwitzt zu haben lassen.
"Ich grüße euch, Cirrion. Ich nehme an, ihr wisst nicht, warum ich eine Besprechung mit euch erbeten habe?", ertönte eine förmliche Begrüßung. Cirrion schüttelte verneinend den Kopf.
Vargas lehnte sich vor und stützte die Arme auf den Tisch.
"Desturna liegt direkt vor uns. Wir werden noch heute angreifen und König Lothar stürzen."
Er blickte sein Gegenüber an und wartete dessen Reaktion ab. Cirrion wusste nicht recht, was er antworten sollte und schwieg. Das war ihm nicht neu. Es hatte schon am Vortag Geflüster gegeben, dass der Angriff heute erfolgen sollte.
Vargas schien keine andere Reaktion erwartet zu haben. "Ihr seid einer der ältesten Krieger, die wir hier haben, und, wie mir scheint, der erfahrenste. Ich habe eine besondere Aufgabe für euch und werde euch auch entsprechend belohnen." Vargas kam jetzt ohne weiteres größeres Gerede zum Thema. "Wer des Königs erster Ritter ist, ist euch sicherlich bekannt?", fragte er.
Cirrion nickte, froh, diese Frage beantworten zu können. "Sir Cadwin von Bornedeau, der Cousin des Königs und neben dessen Berater Lord Remlor sein engster Vertrauter."
Vargas nickte ebenfalls. "Um ihn geht es. Der Mann ist gefährlich, er hält die Reihen der Ritter zusammen und gibt ihnen Mut und Selbstvertrauen in der Schlacht. Wenn er fällt, wird das die Ritter demoralisieren und wir können ihnen rasch den entscheidenen Schlag versetzen. Doch es wird bestimmt nicht leicht, ihn zu erledigen, dazu brauchen wir einen erfahrenen Krieger. Jemanden, der erfahren genug ist, sich anzuschleichen, während seine Begleitgarde abgelenkt ist, und ihn mit einem Stoß zu töten."
Cirrion riss die Augen auf. "Ich soll den ersten Ritter hinterrücks ermorden?", fragte er fassungslos. Er lehnte sich in dem gepolsterten Stuhl zurück und schüttelte den Kopf. "Das kann ich nicht", sagte er. "Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Ich bin ein ehrenhafter Krieger. Ich verdinge mich zwar als Söldner und nehme Geld fürs Töten, aber für das Töten in einem ehrlichen Kampf auf dem Schlachtfeld, in dem ich meinem Gegner Angesicht in Angesicht gegenüber stehe und er auch eine Chance hat. Für so etwas hättet ihr besser einen Assassinen angeheuert." Er schüttelte erneut den Kopf. "Solch eine Aktion kann und will ich nicht durchführen", erklärte er mit Bestimmtheit.
Vargas Augen verengten sich bedrohlich. "Es geht nicht darum, was ihr wollt, Cirrion, sondern darum, was ich euch befehle. Ich hätte einen Meuchelmörder anheuern können, ja, aber warum, wenn ich schon jemanden in meinen Reihen habe, der das nötige Geschick und die Erfahrung für eine solche Tat mitbringt?", fragte Vargas und Cirrion merkte deutlich, dass der Söldnerführer wütend war. Doch dieser unterdrückte seine Wut und fuhr sanfter fort: "Ihr werdet eine angemessene Belohnung erhalten, das sagte ich bereits. Entscheidet nicht, bevor ihr mein Angebot gehört habt. Es könnte durchaus sein, dass ihr dadurch umgestimmt werdet", lockte Vargas.
Cirrions Gesicht wurde hart und er stand auf. "Nein", sagte er entschieden. "Wenn ich eines mit Sicherheit weiß, dann, dass ich ein ehrenhafter Krieger bin. Sollte ich Sir Cadwin in der Schlacht begegnen, werde ich mich ihm stellen und ihn möglicherweise auch töten. Dann habt ihr, was ihr wolltet. Aber ich werde nicht die Rolle eines schmutzigen Assassinen übernehmen." Er drehte sich um und wollte das Zelt verlassen, doch Vargas Stimme hielt ihn zurück.
"Es geht nicht darum, was ihr wollt", wiederholte der Söldnerführer zornig. "Sondern darum, was ich euch befehle. Ihr werdet die Aktion durchführen und bei Gelingen eure Belohnung erhalten. Solltet ihr euch weigern oder versagen, ist der Preis euer Leben."
Cirrion drehte sich wieder zu Vargas um und hätte den Söldnerführer am liebsten ins Gesicht geschlagen, doch da sah er, dass Vargas aufgestanden war, und ein mächtiges Schwert in den Händen hielt. Hinter sich, vom Zelteingang, hörte er eine Bewegung, ein Rascheln, und es war ihm klar, dass dort zwei Wachen mit gezogenen Waffen standen, bereit hineinzustürzen und ihn zu überwältigen, falls er auf die Idee kommen sollte, Vargas anzugreifen.
"Ich frage euch erneut", sagte Vargas, diesmal boshaft lächelnd. "Übernehmt ihr die Aufgabe? Die Entlohnung für das Gelingen ist hoch, doch der Preis für ein erneutes Ablehnen ist viel höher."
Cirrion knirschte wütend mit den Zähnen, wusste aber, dass er tot sein würde, wenn er den Söldnerführer angriff oder wenn er erneut ablehnte.
"Ja", stieß er mit mühsam unterdrückter Wut hervor. "Ich nehme euer verfluchtes Angebot an." Er knurrte wütend. "Habe ich eine andere Wahl?"
Vargas grinste höhnisch. "Nein, die habt ihr in der Tat nicht." Er bedeutete Cirrion zu gehen. "Achja, ich werde euch beobachten lassen, also versucht lieber gar nicht erst, euch aus dem Staub zu machen."
Cirrion schritt mit zornverzerrtem Gesicht aus dem Zelt. Die Knöchel seiner Hand, die sich um den Knauf des Schwertes, dass an seinem Gürtel ruhte, geschlossen hatte, waren weiß angelaufen. Er wirkte, als sei er um zehn Jahre gealtert und sein grauschwarzes Haar noch eine Spur grauer geworden.

Cirrion ließ seinen Zorn auf Vargas an seinen Feinden in der Schlacht aus. Er stürzte sich mit einer Energie in den Kampf, die sein Freund Rhell bei ihm seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Rhell hatte gemerkt, dass Cirrion schon den ganzen Tag etwas beschäftigte, das ihn innerlich kochen ließ, doch dieser war den Fragen ausgewichen und hatte keine klaren Antworten gegeben.
Cirrion sah sich einem Soldaten mit einer riesigen Axt gegenüber und für einen Moment lang fragte er sich, was wohl wäre, wenn dieser Soldat ihn im Kampf erschlug. Dann müsste sich nicht mehr entscheiden, ob er seine Ehre opfern sollte, um sein Leben zu retten. Doch nur einen Augenblick später, als Rhells Dolch sich in die Seite des Soldaten bohrte, erkannte er, dass das Unsinn war. Wenn er jetzt hier starb, würde er vor seinem Problem fliehen, ohne die Antwort auf die Frage zu kennen, wie er gehandelt hätte. Die Antwort auf die Frage, ob die Feststellung, dass er ein ehrenhafter Krieger sei, der Wahrheit entsprochen hatten oder bloße Heuchelei gewesen war. Wenn er jetzt hier sterben würde, würde er nicht wissen, ob ihm seine Ehre wirklich so viel bedeutete, wie er behauptete. Und er wusste auch, dass es keinen Unterschied machte, ob er in der Schlacht umkam oder von Vargas getötet wurde. Nur, dass er, wenn er durch Vargas Hand sterben würde, zeigen würde, dass sein Gerede von Ehre nicht nur eine Lüge gewesen wäre. Er schlug dem Soldaten seinen Schwertknauf ins Gesicht und schickte ihn damit ins Reich der Träume. Als der Soldat zu Boden ging, fiel Cirrions Blick auf etwas, knapp dreißig Meter vor ihm. Dort saß Sir Cadwin von Bornedeau in seiner silbernen Rüstung auf seinem prächtigen Schimmel. Cirrion blickte zur Seite und war nicht überrascht, Vargas ein paar Schritte entfernt stehen zu sehen. Der Blick des Söldnerführers ruhte auf ihm. Na los, tu es forderte er ihn auf. In diesem Augenblick verschwand Cirrions Zorn und er wusste, was er zu tun hatte.
Demonstrativ stieß er sein Schwert in den schlammigen Boden und verschränkte die Arme über der Brust. Vargas Blick war steinhart und er blickte zu Sir Cadwin hinüber. Cirrion war klar, dass sich so eine gute Chance nicht noch einmal ergeben würde. Er schüttelte bestimmt den Kopf.
Ein Schrei ertönte, als Sir Cadwin seitlich vom Pferd viel, ein Pfeil in seinem Rücken steckend. Cirrion brauchte gar nicht erst nachzusehen, um zu wissen, dass er tot war. Sein ungläubiger Blick glitt zu Vargas. Warum hätte der Söldnerführer ihn gebraucht, wenn er doch einen Meuchelmörder angeheuert hatte. Aber er erkannte den Grund schnell. Es war nicht so sehr darum gegangen, dass Sir Cadwin getötet wurde ? obwohl auch das wichtig war ? vielmehr ging es darum, dass er, Cirrion, diese Tat ausführte. Vargas beabsichtigte, die Macht an sich zu reißen und alleiniger Herrscher von Ardikan zu werden. In der Nacht war jedoch einer seiner vetrautesten Verbündeten desertiert und war mit dem Pferd, den verzauberten Stiefeln und dem ebenfalls verzauberten Schwert des Söldnerführers geflohen. Er wollte klar herausstellen, dass allein er der Herrscher war und andere seinen Anweisungen Folge zu leisten hatten. Und was noch viel wichtiger war: Dadurch, dass er den erfahrensten Krieger in der Armee dazu brachte, seinen Befehlen zu gehorchen, Befehlen, die diesem zuwieder waren, würde er seinen verletzten Stolz befriedigen. Cirrion erkannte, dass es für den Söldnerführer egal war, ob er die Tat ausführte oder sich weigerte und dafür hingerichtet wurde. In beiden Fällen hätte Vargas demonstriert, dass er die totale Macht über seine Untergebenen hatte, dass er der Herrscher war und auch solche Vorfälle wie der in der letzten Nacht keinen Schatten auf seine Position werfen konnten.
Cirrion wusste jedoch, dass er sich dem Söldnerführer nicht kampflos übergeben würde und blickte wieder zu Vargas zurück. Zu seiner Überraschung war dieser fort.
"Cirrion!", ertönte Rhells Schrei hinter ihm und etwas Schweres traf ihn hart in den Rücken und warf ihn zu Boden. Cirrion rollte sich herum, um kampfbereit wieder aufzuspringen und griff nach seinem Schwert, um der Gefahr zu begegnen. Doch da war niemand. Zu seinen Füßen lag Rhell. Ein winziger Pfeil steckte in seinem Hals. Rhell zog den Pfeil heraus und keuchte. Cirrion sah deutlich, dass dessen Kraft schon am erlöschen war. Der Pfeil war mit einem starken und äußerst schnell wirkenden Gift bestrichen gewesen.
Cirrion beugte sich mit Tränen in den Augen zu ihm hinunter.
"Rhell", flüsterte er. "Das ist meine Schuld, dieser Pfeil war für mich bestimmt."
"Ich weiß", keuchte Rhell. "Ich habe gesehen... wie du dein Schwert... in den Boden... gestoßen hast und... und zu Vargas... geblickt hast... Und wie Sir Cadwin... vom Pferd fiel... Da war... mir alles... klar... Du... hast... das... Rich...tige... getan..."
Rhell keuchte ein letztes Mal auf, dann wurden seine Augen starr. Cirrion saß einen Moment wie betäubt da, dann sprang er mit einem Schrei ohnmächtiger Wut auf und sah sich nach Vargas um. Doch der Söldnerführer war nirgendwo mehr zu sehen.

***

"... und so endet diese Geschichte", schloss der alte Krieger. "Ich habe Vargas noch lange inmitten der Schlacht gesucht, aber nicht gefunden. In meiner Wut stürtzte ich mich in zahllose Kämpfe. Dabei zog ich mir auch meine Verletzungen zu." Er klopfte auf sein Holzbein. "Es heißt, Vargas lieferte sich einen Kampf mit König Lothar und floh dann, als die Schlacht für seine Truppen aussichtslos erschien. Seit diesem Tag habe ich nie wieder ein Schwert angefasst."
Der alte Krieger lehnte sich zurück und ließ seine Augen auf dem Jüngeren ruhen.
"Der Krieg ist nie gut", sagte er mit trauriger Stimme. "Er fordert viele Opfer und machtgierige Tyrannen tragen ihren Teil dazu bei. Schließe dich morgen nicht dieser Armee an, dann bleibt dir möglicherweise vieles erspart. Glaub mir, Ereignisse wie dieses werden nie vergessen, wie sehr du es auch versuchst, so sehr du dich auch bemühst deinen Schmerz mit Alkohol zu betäuben."
Zum ersten Mal seit Beginn seiner Erzählung, entdeckte der alte Krieger Anteilnahme in den Augen des Jüngeren. War es Mitleid? Mitleid mit ihm, für das, was ihm wiederfahren war?
Der Jüngere stand auf und ging um den Tisch herum, bis er neben dem Älteren stand. Er stützte seine linke Hand auf den Tisch auf und beugte sich zu dem anderen hinunter. "Ihr habt recht", flüsterte er ihm ins Ohr. "Ereignisse wie dieses werden nicht vergessen."
Ein silberner Dolch blitzte in seiner Hand auf und fuhr an die Kehle des Älteren. Dieser starrte den Jüngeren ungläubig an.
Bevor der Kopf das alten Kriegers auf dem Tisch, neben seinem Bierkrug, aufschlug, war der Assassine schon auf dem Weg nach draußen. Niemand hatte ihn bei seiner Tat beobachtet und die wenigen, denen es seltsam vorkam, dass der alte Krieger zusammengebrochen war, sagten nichts, weil sie durch die Besetzung der Stadt zu sehr verunsichert waren und keinen Ärger machen wollten.
Trish Terenly verließ die Taverne und trat auf die Straße, hinaus in die dunkle, mond- und sternenlose Nacht. Das erste der beiden Ziele seines Auftraggebers hatte er unschädlich gemacht. Es war nicht allzu schwer gewesen, den alten Krieger zu finden. Bei dem zweiten Ziel hatte er da schon eher seine Bedenken, was die Einfachheit des Auftrages betraf.
Es stimmte, der Assassine hatte wirklich Mitleid mit dem alten Krieger gehabt, aber nicht für das was ihm wiederfahren war, sondern für das, was aus ihm geworden war. Ein alter verkrüppelter Mann, ein Säufer, der versuchte ?seinen Schmerz mit Alkohol zu betäuben?, wie dieser selbst gesagt hatte. Er empfand seine Tat als Erlösung für den alten Mann, allerdings war dies nur nebensächlich und er brauchte es sich nicht einzureden, nur um sein Gewissen zu beruhigen. Auch unter anderen Umständen hätte er keine Skrupel gehabt, den alten Krieger zu ermorden. Er hegte zwar ein gewisses Interesse an dem Schicksal der Personen, die er tötete, wenn diese es ihm erzählten, doch bedeuten tat es ihm nichts.
Er schlug rasch den Weg in Richtung Stadttor ein. Er hatte nicht vor, noch länger in der Stadt zu bleiben und auch wenn die Mauern bewacht waren, gab es doch immer Wege ungesehen zu verschwinden.
Trish Terenly zog es vor im Freien zu übernachten. Es lag noch ein langer Weg vor ihm und er hatte vor, am nächsten Tag mit den ersten Sonnenstrahlen loszuziehen.

© & written by Ben Haeseler, Juli 2000
 
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