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6 Seiten

Die Brücke am Fluss

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
© Amaya
Sie stapfte durch die tiefe weiße Pracht und versuchte angestrengt etwas zu erkennen. Es schneite unaufhörlich, schon seit Stunden. Sie zog sich ihre Haube tiefer in die Stirn, es war bitterlich kalt und sie sah kaum wohin sie trat. Es war auch nicht wichtig wohin sie ging, denn sie wusste es nicht. Sie stapfte einfach durch den Schnee, ohne Ziel.
Laute Musik dröhnte in ihrem Ohr. Ihren CD-Player hatte sie immer dabei. Irgendwie beruhigte es sie und sie konnte in ihrer eigenen Welt versinken. Sie nahm dann gar nicht wahr, was um sie herum passierte. Doch jetzt war es anders. Sie nahm Ihre Umgebung wahr, aber nicht die Musik.
Eine wunderschöne Schneelandschaft lag ihr zu Füßen. Sie ging über eine Blumenwiese, die natürlich jetzt keine Blumenwiese mehr war. Jetzt war sie zugedeckt mit einer kalten weißen Decke. Am Horizont konnte man einen verschneiten Wald erkennen. Irgendwie sah er traurig aus. Auch der Fluss, der nicht unweit von ihr seine Bahnen zog, musste wohl ein trübsinniges Bild abgeben. Sie sah ihn nicht, sie hörte ihn nicht. Wahrscheinlich war er zu weit weg, wahrscheinlich spielte die Musik in ihrem Ohr eine Spur zu laut, aber sie wusste, er war da.
Sie kannte diese Gegend. Natürlich. Verschlug es sie doch jedes Mal hierher, wenn sie ausriss.
Sie kam an einer Sitzbank vorbei. Ganz dunkel und nass blitzte sie aus dem weißen Schnee hervor. Wie oft hatte sie schon hier gesessen und nachgedacht. Nachgedacht über Dinge, über die sie gar nicht nachdenken wollte. Auch jetzt wollte sie nicht nachdenken und ging einfach weiter. Es war schwierig durch den Schnee zu stapfen, ihre Jeans waren schon ganz nass und schwer geworden und sie fragte sich ob ihre Zehen noch kälter werden könnten. Sie spürte sie kaum mehr. Sie musste blinzeln. Der Wind trieb ihr nasse, dicke Schneeflocken ins Gesicht und in die Augen.
Aber jetzt konnte sie sie sehen. Endlich. Obwohl sie kein Ziel hatte, wusste sie doch, dass sie sie irgendwann sehen würde. Die Brücke am Fluss. Groß und alt und mächtig sah sie aus, schon von weiter Ferne. Jetzt ging sie etwas schneller, vielleicht war es auf der Brücke etwas windgeschützter. Unwahrscheinlich, aber der Gedanke trieb sie weiter.
Weitere Gedankenfetzen schwirrten ihr durch den Kopf. Wo kamen die denn jetzt bloß her? Sie versuchte ihren CD-Player lauter zu drehen, aber mit ihren dicken Handschuhen gelang ihr das nicht so recht. Sie sah Bilder. Ihre Mutter, ihre Schwester ... ihren Vater. Schemenhaft und chaotisch drehten die Bilder in ihrem Kopf Kreise. Sie atmete tief durch und versuchte die Bilder zu vertreiben. Sie bemerkte, dass sie sogar ihre Arme vor ihr Gesicht hielt. Aber die Bilder wurden immer deutlicher. Kleine Filme entwickelten sich daraus. Bald konnte sie schon ihre jüngere Schwester erkennen, wie sie vor ihr stand und sich mit ihr stritt. Sogar ihre Stimmte konnte sie jetzt laut und deutlich hören, als sie schrie: „Alles musst du kaputt machen. Du bist an allem schuld!“ ...
Ihre Mutter wie sie heimlich weinte. Ihren Vater, der kaum mit ihr sprach. Ihre Schwester, wie sie sie mit großen traurigen Augen ansah. Ihre Mutter, die zu ihr so etwas wie „Ich habe deine Eskapaden satt!“ sagte. Ihren Vater, dem der Schmerz ins Gesicht geschrieben war. Ihre Schwester, wie sie zornig das Zimmer verließ und mit den Türen knallte. Ihre Mutter, die sich in der Küche versteckte. Ihren Vater, der zu ihre sagte: „Ich bin dir doch völlig egal! Was habe ich nur für eine Tochter!?“ ...
Die Bilder fingen an zu rotieren, immer schneller wurden sie durcheinander gewirbelt. Bald konnte sie nicht mehr erkennen, wer was zu ihr sagte. Sie glaubte, ihr Kopf würde gleich zerspringen. Sie merkte, wie sie selbst anfing sich im Kreise zu drehen. Immer schneller drehte sie sich um ihre eigene Achse. Die Hände weit ausgestreckt und den Kopf in den Nacken geworfen. Nasse kalte Schneeflocken bedeckten ihr Gesicht. Sie schrie. Lang und mit voller Lautstärke. Niemand hörte sie. Es war niemand da. Niemand der ihr sagte, dass sie bereits auf der Brücke stand. Niemand der ihr sagte, dass sie schon völlig durchnässt war. Niemand der ihr sagte, dass nicht mehr die Musik in ihren Ohren dröhnte, sondern ihr schreckerfüllter Schrei. Ihr Rucksack, in dem sich der CD-Player befand, war heruntergerutscht auf den schneebedeckten Boden.
Sie konnte es nicht mehr ertragen. Ihr Schrei in ihrem Ohr, die Bilder in ihrem Kopf. Sie glaubte zusammenzubrechen. Jetzt und hier, wo sie niemand fand. Es brach alles über sie zusammen. Der Hass ihrer Schwester ... die Verachtung ihrer Eltern.
Sie war eine Versagerin. Das wurde ihr mit einem Mal bewusst. „Ich bin eine Versagerin. Ich bin doch zu nichts Nutze.“ Dieser Satz brannte sich in ihr Bewusstsein. Sie hatte alle enttäuscht und sie war zu nichts zu gebrauchen. Sie hatte gelogen und betrogen. Nichts konnte sie richtig machen. Sie war schuld daran, dass ihre Schwester sie hasste. Sie war schuld daran, dass ihre Eltern enttäuscht waren. Sie war schuld daran, dass die Familie auseinander brach.
Wie waren sie doch glücklich gewesen .. früher. Hatten viel miteinander unternommen, waren das Vorbild einer glücklichen Familie. Sie wuchs behütet auf, sie wurde geliebt.
Doch jetzt war alles anders. Sie konnte den Anblick ihrer Schwester nicht mehr ertragen, konnte ihren Eltern kaum in die Augen sehen. Sie war schuld, dass sich alle stritten. Vor allem war sie schuld, dass sich ihre Eltern nun schon fast jeden Tag in den Haaren lagen. Von Trennung war die Rede.
Wie konnte es nur soweit kommen?
Ein Bild aus glücklicheren Tagen tauchte vor ihren Augen auf. Sie war ein kleines Mädchen, kaum 7 Jahre alt. Mit großen traurigen Augen sah sie zu ihrer Mutter auf und fragte: „Mama, was ist eine Scheidung?“
„Eine Scheidung,“ sagte ihre Mutter, „ist, wenn sich die Eltern trennen und nicht mehr zusammen wohnen.“
„Werdet ihr euch scheiden lassen?“
„Nein, meine Kleine“, sagte ihre Mutter liebevoll und strich ihr dabei über den Kopf, „dein Papa und ich werden uns nie scheiden lassen, wir werden immer zusammenbleiben.“
Sie spürte noch dieses Gefühl, wie es war als die Erleichterung durch ihre Adern floss. Doch davon war nicht mehr viel übrig. Sie war enttäuscht. Ihre Mutter hatte sie belogen. Bald schon würde ihr Vater von zu Hause ausziehen. Bald würde alles anders sein. Das konnte sie nicht ertragen. Wie sollte sie weiterleben können, mit dieser Schuld auf ihren Schultern?
War sie doch diejenige Tochter, die nichts richtig machen konnte. Sie war schlecht in der Schule und auch sonst rebellisch. Musste sich gegen alles auflehnen, was man ihr sagte. Nicht so wie ihre Schwester, die vor anderen Augen ein Engel war. Ein Musterkind und das Nesthäkchen der Familie.
Deshalb hatte sie ihre Sachen gepackt. Sie hatte in der Nacht gehört, wie sich ihre Eltern stritten und wie ihr Vater mit einem mit einem Mal die Wohnung verlies. Heute früh war er noch immer nicht aufgetaucht. Sie hatte Angst. War er etwa schon ausgezogen? Ihre Mutter sagte kaum ein Wort zu ihr, sie saß nur da mit verquollenen roten Augen und sah sie kaum an. Und da fasste sie ihren Entschluss. Sie wollte weg von zu Hause. Sie packte ihre Sachen in den Rucksack, den sie sonst zur Schule mitnahm und machte sich auf den Weg. Doch anstatt in die Schule zu gehen, nahm sie eine andere Strecke. Niemand merkte, wie sie vom Weg abwich, niemand sprach sie darauf an.
Und jetzt befand sie sich hier, auf der Brücke. Sie wusste nicht wohin sie nun gehen sollte, also stand sie einfach da und starrte auf den grauen breiten Fluss hinunter. Sie umklammerte das Brückengeländer und wusste was zu tun war. Sie wollte sich der dunklen Welt ganz hingeben. Nichts hielt sie mehr hier. Sie kletterte am Brückengeländer hoch und stieg vorsichtig darüber. Nun stand sie auf der anderen Seite und drehte sich vorsichtig um sodass sie mit dem Rücken zum Brückengeländer stand.
Sie schaute zum Fluss hinunter und fühlte nichts mehr. Der Druck, die Schuld .. alles war wie weggeblasen. Es schien als ob sie die Lösung gefunden hätte. Die Lösung zu all ihren Problemen. Befreit atmete sie die frische kalte Luft ein und musste plötzlich lächeln. Wäre sie doch früher auf diese Lösung gekommen, sie hätte sich dadurch viel erspart.
Niemand wollte sie in dieser Welt, also ging sie eben in eine andere. Sie lehnte sich vor ... und spürte wie jemand ihren Arm umklammerte. Sie erschrak, rutschte beinahe aus.
„Mädchen, du willst doch nicht wirklich in den kalten Fluss springen?“ Eine warme dunkle Stimme sprach zu ihr. Sie drehte sich um und sah einen alten Mann vor sich. Er sah zerlumpt aus. Er hatte einen langen dunkelgrünen Mantel an, der an einigen Stellen schon durchgewetzt war. Ein Hut, der aussah als ob er schon 20 Jahre alt war, zierte seinen Kopf. Sein langes weißes Haar war strähnig und nicht gewaschen. Mit großen verschleierten hellgrauen Augen sah er sie an und lächelte. Seine Zähne waren gelb und ungepflegt und sein Gesicht war wettergegerbt und faltig. Sie musste ziemlich verständnislos und erschrocken ausgesehen haben, denn er wiederholte seine Frage. Trotz machte sich in ihr breit. Was glaubte er denn, sie jetzt zu stören? „Natürlich will ich das!“, antwortete sie fest.
Doch der alte Mann verstärkte seinen Druck auf ihren Arm, es schmerzte schon fast. Sie wollte aufbrausen ... doch dann sah sie in seine Augen und hielt inne. Irgendetwas stimmte an ihnen nicht. Sie sah genauer hin und plötzlich sah sie, was an ihnen so anders aussah. Er war blind.
Sie erkannte die typischen Merkmale des grauen Stars. Seine Pupillen waren grauverschleiert und er sah ihr nicht direkt in die Augen. Sie war verdutzt.
„Aber woher wussten Sie ...?“
„Dass du ein Mädchen bist und von der Brücke springen wolltest? Nun ja, ich bin über deinen Rucksack gestolpert und habe gehört wie du geschrien und gesprochen hast.“
„Ich habe gesprochen?“
„Ja, du sagtest etwas von Versagerin und Scheidung.“
Sie sah ihn stumm an. Sie konnte sich nicht erinnern, laut gesprochen zu haben.
„Aber nun komm mal wieder auf die andere Seite, wir können ja nicht ewig so stehen bleiben.“
Verblüfft wie sie war tat sie was er verlangte, und kletterte über das Geländer. Verwirrt sah sie ihn an wie er vor ihr stand und grinste.
„Warum lächeln Sie so?“, fragte sie ihn.
„Nun, ich glaube nicht dass du springen wolltest.“
„Wieso denken Sie denn das?“, erwiderte sie verärgert. Woher wollte dieser Fremde denn wissen worum es überhaupt ging?
„Dazu bist du viel zu zornig. Niemand stürzt sich aus Ärger in die Tiefe.“, sagte er trocken. Er lehnte sich gegen das Geländer und sah in die Ferne.
„Wunderschön diese Aussicht nicht wahr?“
„Aussicht? Aber Sie können doch gar nicht ...“. Sie brach ab, sie wollte ihm nicht zu nahe treten.
„Du meinst, ich bin blind, sprich es ruhig aus, es ist nichts schlimmes daran.“
„Nicht schlimm?“, fragte sie.
„Ja, denn ich kann sehr wohl sehen. Nicht so wie du, aber ich höre, fühle und spüre. Ich sehe unter mir den großen schmutzigen Fluss, wunderschön sieht er aus .. und stark. Aufbrausend .. genau wie du. Und ich sehe das weite schneebedeckte Land, und dort drüben die Bäume, wie sie unter ihrer schweren Last ächzen. Und ich sehe dich, ein junges Mädchen, das sich ebenfalls eine schwere Last aufgebürdet hat.“
„Wie meinen Sie denn das?“
„Nun, du bist wie diese Bäume dort. Lässt deine Äste hängen, sodass sie schon fast den Boden streifen. Möchtest aufgeben und befürchtest schon fast, dass deine Äste brechen werden. Denkst, dass es deine Schuld ist, dass dich der viele Schnee fast erdrückt. Doch die Bäume haben den Schnee ja nicht selbst gemacht. Es ist Winter, da schneit es nun mal ab und zu.“ Er lächelte schelmisch. „Und du hast etwas wichtiges vergessen. Der Frühling kommt bald .. und bald schon wird der Schnee geschmolzen sein. Bald wird das Leben wieder blühen, die Blumen werden sprießen, die Vögel werden wieder zwitschern und die Bäume können ihre Äste gen Himmel strecken.“
Sie verstand worauf er hinauswollte. Schweigend stellte sie sich neben ihn und sah zu den Bäumen hinüber.
„Und was ist, wenn die Äste doch brechen?“
„Nun, es sind noch genug andere Äste da. Und es können neue wachsen, vor allem bei jungen Bäumen. So ein Baum ist sehr widerstandsfähig, er ist sehr tief verwurzelt und er hält Stand bei jedem Wind und Wetter. Manchmal kann vielleicht ein Blitz einschlagen, den Baum sogar verletzen, doch trotzdem kann er sehr sehr alt werden. Er bietet Schutz für viele Tiere, die sich in seinem Geäst eingenistet haben. Oder er spendet Schatten wenn die Sonne allzu stark vom Himmel brennt. Du siehst also, auch so ein alter verletzter Baum kann sehr nützlich sein.“
Er wandte sich zu ihr um und griff nach ihrer Hand.
„Höre auf einen alten Baum – gib niemals auf, denn du weißt nie, wozu du noch Nutze sein kannst.“
Er drückte ihre Hand und ging mit einem Lächeln seines Weges. Sie sah ihm nach, wie er im Schneegestöber davon stapfte, wie stark und aufrecht er ging, trotz seiner Behinderung. Sie musste lächeln, so ein alter Baum konnte wirklich zu etwas Nutze sein.
 
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Kommentare  

eine sehr schöne und tröstliche geschichte. besonders die weisheit des alten baumes. eine tolle metapher.
fünf punkte
lg
rosmarin


rosmarin (22.07.2005)

Mist, hab was vergessen: Punkte und E-Mail-Adresse.
;-)


trainspotterin (03.02.2005)

Gut geschrieben. Und eine schöne Wendung zum Schluß
(kurz hatte ich befürchtet, es läuft auf das "Übliche"
hinaus... Mädchen, Unglück, Kummer, Selbstmord),
aber die Begegnung mit dem "sehenden" Blinden ist
wirklich überraschend und rundet deinen Text mit einer
nützlichen Lebensweisheit sehr harmonisch ab.


trainspotterin (03.02.2005)

schön!!! 5 punkte von mir

banshee (09.07.2004)

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