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4 Seiten

Ein zweites Mal gibt es nicht

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Sie saß auf seinem Bettrand. Und bevor sie ihm wie allabendlich einen Gute-Nacht-Kuss gab, fragte sie: „Was willst Du einmal werden.“ Er schaute in ihre liebevollen Augen und antwortete ohne Zögern: „Trapper“. Sie lächelte, strich ihm sanft über seinen Kopf und stellte ihm keine Fragen. Sie war doch schließlich seine Mutter. Viel, viel später, kurz vor ihrem Tod sprach sie ihm gegenüber zum ersten Mal etwas an, was sie von ihm kannte, und was sie die vielen gemeinsamen Jahre unausgesprochen gelassen hatte: „Mein Sohn, Du kommst nun in das reife Mannesalter. Dein Leben war bewegt und unruhig. Hast Du gefunden, was Du zeitlebens gesucht hast?“ Er umarmte seine gebrechlich Mutter und schwieg. Er konnte ihr gegenüber nicht aussprechen, dass er zwar zu neuen Ufern aufgebrochen war, aber in die falsche Richtung.

Er studierte brav. Heiratete brav eine standesgemäße und liebe Frau. Ließ seinem Unmut in der engen, feinen Gesellschaft freien Lauf, was man köstlich fand. Und wurde nach drei Jahren Ehe mittelschwer schuldig geschieden. Kaufte sich dann einen roten Rucksack, um in den hohen Norden auszuwandern. Nahm anstatt dessen aber einen Job an, wo er als Jurist dienstlich und gut bezahlt oftmals über den Begriff „angemessen“ nachdenken musste. Er war geschmeidig und flexibel, wenn er sich nicht gerade kantig gab. War großwüchsig, schlank, mit hellblauen Augen und einem Lächeln ausgestattet, das schutzlos machte. Es folgten ihm die Frauen und betäubten seine Sehnsucht und Unruhe - aber nur für jene vergänglichen Augenblicke.

Und außerdem musste er seine Nase in alles und jedes reinstecken, getrieben von Neugierde. Jede verheißungsvolle Spur ins Unbekannte verfolgte er, um am Ende wieder an ihrem Ausgangspunkt aufzuwachen. Erst im Alter sollte er den Grund für seine Unrast erfahren. Denn da wurde ihm klar, dass er als dreifaches Luftzeichen nicht geerdet war.

So hätte sich sein Leben in eigentlich erträglichen Bahnen fortsetzen können – mit einem wohlwollenden Job, einem eigenen Dach über dem Kopf, ohne Langeweile und dem Wissen, ein Exot zu sein, der gemieden wurde, und dessen Nähe man immer wieder suchte.

Man bekundet zu recht, dass es keine Zufälle gibt. So saß er eines Tages im Flugzeug mit Anchorage als Ziel. Er hatte sein Gewehr dabei, um einen Bären zu töten. Eine Stewardess erkannte seine männliche Entschlossenheit, ließ ihn aber in der ersten Nacht im Hotel dort im hohen Norden im Unklaren darüber, ob es mehr als ein Geflimmer war.

Nach einem zweistündigen Flug anderntags durch eine gigantische schnee- und gletscherbedeckte Bergwelt setzte das einmotorige Wasserflugzeug mit ihm und seinem Jagdführer zur Landung auf einem See an. Der See war noch offen. Aber vereinzelte Schneeflocken verrieten, dass der Winter sich anschickte, dem kurzen bunten Herbst sein Recht abzutrotzen. So wechselte die Natur nahezu stündlich ihr Gewand. In der noch wärmenden Sonne trug sie flammendes Rot, unterbrochen von kräftigem Gelb. Doch bei den noch spielerisch einsetzenden leichten Schneefällen gingen die dominanten Farben in Pastelltöne über.

Er war in einer anderen Welt. Und wenn man von dem Leben als einem Traum spricht, so spürte er dies nirgendwo deutlicher als hier. Die Schöpfung offenbarte sich ihm in einer solchen Fülle und Erhabenheit, dass er zum ersten Mal kleinlaut wurde, und das Erfassen schwer fiel.

In hüfthohen Gummistiefeln folgte er fortan seinem alten, erfahrenen Jagdführer. Sie durchschritten Flüsse, in die die Lachse zum Ablaichen zurückgekehrt waren und ihr purpurrotes Todesgewand angelegt hatten. Er erblickte über sich die Adler im ruhig kreisenden Flug. Er bestaunte haushohe Bieberdämme. Sie folgten durch hohe Schilfdickichte Trampelpfaden von Bären. Und wenn sie nachts in dem kleinen Zelt, jeder durch zwei Schlafsäcke beschützt vor der grimmigen Kälte, über sich den Ruf der Wildgänse vernahmen, da breitete sich in ihm ein nie gekannter Friede aus.

Er war es dann, der diesen inneren und äußeren Frieden empfindlich störte, als sich seiner Jagdleidenschaft ein Elch opferte. Der Knall dieses Schusses sollte noch lange in ihm nachhallen. Von diesem Augenblick an zeigte sich ihnen kein jagdbares Wild mehr. Es hatte geradezu den Anschein, als habe sich das zahlreiche Wild verabredet, ihn nicht mehr in Versuchung zu führen.

Die Zeit verging gnadenlos schnell. Und er klammerte sich an seinen Traum. Doch dieser bekam umso häufiger Risse, als er sich seinem Ende zuneigte, nicht ohne sich ihm noch einmal in seiner ganzen Schönheit zu präsentieren.

Sie hatten am letzten Tag frühmorgens an einem kleineren See ihre Sachen zusammengepackt, um den Rückmarsch zur Lodge anzutreten.
Sein Führer hatte ihm mit einem tiefgründigen Lächeln sodann vorgeschlagen, er solle ihm vorausgehen. Dann hatte er ihm die Route beschrieben, die über eine Bergkuppe zu dem See führte, an dem die Lodge lag. So durfte er also zum Abschied einige Stunden allein mit sich und der Natur verbringen.

Er schritt also mit seinem schwerem Gepäck den Berghang hoch, musste sich durch Unterholz kämpfen oder über umgestürzte Baumriesen klettern. Auf einer kleinen Lichtung ruhte er auf einem Baumstamm aus. Da trat keine zehn Meter vor ihm ein Wolf auf die Lichtung, so, als wolle er sich ihm zeigen. Denn dem Wolf konnte sein geräuschvolles Kommen kaum entgangen sein. Beide schauten sich für eine geraume Weile in die Augen. Sodann drehte sich der Wolf langsam um und verschwand gemächlichen Schrittes dahin, woher er gekommen war. Diesen ruhigen und wissenden Blick der gelben Augen trug er fortan in sich.

Er nahm wieder seine Sachen auf, wobei das Gewehr ihm schon seit dem Schuss zu einem drückenden Ballast geworden war. Auf der anderen Seite des Berges empfing ihn auf einmal lautes Hundegebell. Zwischen einer Ansammlung von Wellblechhütten zerrten Huskies an ihren Ketten. Aus einer dieser Hütten trat eine alte Indianerin. Sie musterte ihn und winkte ihn zu sich. Er folgte ihr in die Hütte und blieb in dem offensichtlich einzigen Raum unschlüssig stehen. Etwas unwirsch, wie ihm schien, deutete sie auf einen Stuhl an einem Tisch am Fenster. Er war von dem beschwerlichen Marsch zwar ziemlich erschöpft aber hellwach.
Die alte Frau nahm von einem Holzofen eine Kanne, schlurfte damit an seinen Tisch, füllte eine immense Tasse mit dampfenden Kaffee und schob sie vor ihn hin. Sie setzte sich ihm gegenüber und betrachtete ihn, ohne ein einziges Wort bis dahin gesagt zu haben. Dann machten die tiefen Falten in ihrem Gesicht einem Lächeln Platz. Sie war mit ihren Erkundungen offensichtlich zufrieden.

Woher er komme, wollte sie in einem gerade noch verständlichen Englisch wissen. Von Deutschland, antwortete er. „Was ist das“, fragte sie ihn. „Das ist ein Land in Europa“, erwiderte er hilflos. Diese Antwort schien ihr zu genügen. Sie schaute ihm daraufhin lange forschend in die Augen, wobei ihm ganz unbehaglich wurde. Dann fragte sie wie beiläufig, was ihn so bedrücke. Und er erwiderte, dass er zurück müsse. „Hast Du eine Familie“, wollte sie wissen. Und als er verneinend den Kopf schüttelte, entstand eine längere Pause, in der er seinen Kaffee schlürfte und die einfache Einrichtung des Raumes musterte, wobei seine Blicke aber immer wieder von den tiefgründig dunklen Augen der Alten angezogen wurden.

Ihre Augen schienen durch ihn durchzublicken und sich in die Ferne zu richten. Aus ihrem Innern vernahm er einen Singsang, wobei ihre schmalen Lippen fest geschlossen blieben. Dann herrschte Stille. Selbst die Huskies hatten ihr Bellen eingestellt. Ihr Blick kam aus der Ferne zurück, und sie sprach zu ihm wie folgt: „Es gibt keinen Grund, warum Du zurück müsstest. Es gibt aber viele Gründe, warum Du hier bei uns bleiben solltest, zumindest für diesen Winter. Wenn nicht, wird Dich Deine Sehnsucht nie freigeben“.
Seine Augen wurden feucht, denn er fühlte, dass er zu schwach war. Sein innerer Kampf war schon beendet, bevor er begonnen hatte. Sie sah ihn an und nickte nachdenklich.
Er stand auf und bedankte sich mit erstickter Stimme. Vor der Hütte nahm er seine Sachen auf und schlug den Weg zur Lodge ein, ohne sich noch einmal umzuschauen. Die Hunde blieben auch jetzt noch still.

Seinem Führer überließ er sein Gewehr. Dieser drückte ihm zum Abschied mit beiden Händen seine Rechte und wünschte ihm viel Glück. Hier schienen alle alles zu wissen.

Im Flugzeug zogen vor seinem geistigen Auge die Einzelheiten dieses großartigen Traumes vorbei, und er wusste, dass die alte Indianerin recht behalten würde.





Nachwort

Er hat dann doch noch einen kleinen Ausbruch aus der Enge gewagt, indem er seinen Job kündigte und auf’s Land in den Süden gezogen ist – in die falsche Richtung.




10. Februar 2005
 
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Kommentare  

"in die falsche Richtung", mal wieder?
schade, mal wieder.
hat was Tragisches, mal wieder, wie oft noch?


achim kaul (22.03.2005)

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