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5 Seiten

Tagebuch eines Avantgardisten I - III

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Experimentelles
© kritzl
Der Morgen sieht aus wie ein Scheißhaufen. Ich schaue. Rinnsal meiner einstigen Stabilität. Ich schaue aus dem Fenster. Ich trotze meinen Augen. Draußen verklebt Gottes Menstruation den gesamten Block. Ich beschließe, innerhalb des Scheißhaufens zu leben. Das ist es, was sie von mir erwarten. Das ist, wofür ich bestimmt bin. Ihn von innen stimulieren. Wie jede einzelne dieser lebenden Einkaufslisten, die mich tagtäglich anrempeln. In dem Scheißhaufen zu sitzen wie ein durstiger Zeck, den keiner wahrnimmt, aber ebenso wenig ignoriert. Das ist es. Berufen wie ein Besen.
Leonies Hassbrief erwischte mich kalt unter den Achselhöhlen. Wie ein Blick eines Rehkitzes, kurz bevor man ihm den Hals umdreht. So muss ich reagiert haben. Vermutlich hat ihre Telefonnummer Jahre lang in einem Winkel meines Kleinhirns überdauert und Eier abgelegt, Phantasmen, denen ich erlag. Ich kenne sie immer noch. Der letzte Dialog ist die zerfallene Bronze des Sublimen. Und unsere Masken zerlaufen in der Glut des Vergessens. Und unsere Stimmen durchdringen unsere Komplexe. Ihr Hassbrief zermürbt mich nicht. Er existiert ebenso wie ihre einstige Unschuld. Frei von Projektionen. Das erste Glas Tequila an einem grau getünchten Dienstag. Die Phantasmen sind es nicht. Es sind die Schmeißfliegen auf dem Scheißhaufen, die unsere mumifizierte Beziehung mit einer Art Buttersäure der Sprachlosigkeit salben. Mein Oberschenkel ist durchdrungen von Traurigkeit.
Im Fernsehen läuft etwas. Es läuft. In meine Augenhöhlen. Ich trotze meinen Augen. Sie reißen aus den Höhlen. Eine feminine Kreatur zerreibt ihre Spucke darin. Kochendes Eis. Mit zitternden Fingern nagt sie sich in mein Stammhirn vor und pult an den Phantasmen herum. Nicht Vergnügen, nicht der Ruhm, nicht Macht, einzig und allein die Freiheit ist es, die mich nicht interessiert. Wer ist schon frei von Tristesse in einer Welt, die Zigarettenpackungen kauft, auf denen ihr künftiges Vegetieren dokumentiert wird? Ich will innen drin sein, draußen auf der Parkbank inmitten von lästigen Blutsaugern, drangsalierenden Bürgern, marodierenden Jugendlichen, sie sehen und aufsaugen um sie an anderer Stelle wie garstigen Schleim auszukotzen. Die Bilder und Töne einer längst ausgequetschten Stabilität jagen meinen Rücken rauf und runter in stetiger disharmonischer Konsequenz. Ich schaue. Eine rote Sonne brennt sich durch die Alleen, verkohlt ihren Busen, verglüht ihren Nacken, zerfrisst ihr Gesicht. Wenn ich ihre Stimme höre, ist es vorbei mit der Projektion. Wie Nadelstiche traktiert sie meine Depression. Ihr ist es egal. Sie quiekt wie ein Schwein. Eins dem man die Füße abgehackt hat. Und ihre Seufzer und Ächzer sind das Blut, mit dem die gleichgültigen Diven der Reinigungsfirma den Boden tränken. Jede Ziffer ihrer Telefonnummer hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Jetzt sitze ich da, injiziere stoßweise literweise Tequila, inhaliere stoßweise krebserregende Dämpfe, grinse diabolisch den Fernseher an, der daraufhin einfach ausgeht. Und in meiner eigenen Welt, in meinem Absumpf der lieblosen Transzendenz, erkenne ich, dass Leonie eine Frau ist. Eine vollkommene Frau. Traurig, aber wahr. Heute muss ich zum Zahnarzt.

Leonie. Trotzende Zitzen der lahmen Bourgeoisie. Mich rütteln die warmen Säfte wach, die mir die Nasenschleimhaut verätzen. Ihre Telefonnummer, ein einziges ontologisches Konstrukt. Heute habe ich sie gewählt, bis auf die letzte Ziffer. Was werde ich wohl tun, wenn sie einmal rangeht? Draußen lockert sich die hebephrene Maskenhaftigkeit des Himmels schrittweise auf, um den zivilisierten Menschen auf die Straße zu locken. Dann wird er vermutlich bis auf die Knochen ausgezogen. Tequila. Das ist mein Traum. Das ist mein Alptraum. Wie eine Schnecke die Scheide eines Klappmessers hochkriecht, ohne sich zu verletzen. Das ist essentiell. In einem verborgenen Winkel meiner selbst treten drei Musiker auf, drei wortlose Musiker, die aus ihren Rippen Wesen erschaffen, für die die Zeit ein einziges Laster bedeutet. So wie Leonie. Die drei Musiker sind Spanier. So wie vor drei Wochen im „Café Triste“. Unter den Tischen baumelten blutdurchtränkte Gliedmaßen, sich introvertiert reibend, darauf bedacht, in stiller Anmut aufmüpfig zu wirken. Ich kann mich erinnern, dass ich ihr Knie berührt habe und sie hat es mir in den Rücken gebohrt. Jetzt kann ich mich erinnern. Der Tequila wirkt langsam. Ich erinnere mich an die blutjungen Französinnen am Nachbartisch mit ihren vom Rosé erhitzten Gesichtern, ich sehe millimetergenau, wie die kleinen Schweißperlen von ihren Lippen tropfen. Die Musik war nur graugetünchtes Beiwerk. Begann es dort?
Ach, Leonie. Gib uns noch mal fünf Jahre und die eingeschlafenen Füße der Eifersucht fallen einfach ab, werden in den Keller gelegt zu den Konserven der ratio, wie bei erleuchteten Lepra-Kranken in einem Hinterzimmer der Irrationalität. Es steht schlecht um mich. Lieblos hülle ich mich in ein graues Mammutfell, mit aufgerissenen Augen tränke ich den betonverschmierten Rest an hormongesteuerter Architektur, die ich klammheimlich aufsauge. Wenn ich nur wieder schreiben könnte. Der letzte Satz im Tagebuch des Avantgardisten ist: „Heute muss ich zum Zahnarzt.“ Das erste Fragment, wie mir scheint. Weiter komme ich nicht. Ich werde es mal mit Halluzinogenen versuchen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Die drei Spanier waren tingelnde Musiker, sie prostituierten sich, eine Schande für ihre Familien, drei kosmische Nachgeburten einer melodiösen Andersartigkeit. Das war zuviel für uns. Hinterher trauten wir uns nicht mehr über den Weg. Leonie. Sie lief in den dunklen dissoziativen Keller der Seelenlosigkeit, aus dem sie nicht entrinnen konnte, denn es gab keine Alternative, ein Vogel zu sein. Vermutlich hockt sie bereits in einer Klinik auf einer Stange, wird von anderen Patienten getätschelt und ihr wird das glänzende Gefieder gestreichelt, die Ärzte füllen sie mit mutierten diazepamesischen Zwitterwürmern ab. So kommt eins zum Anderen. So scheint ihr Brief dahingepickt worden zu sein. Aber ich werde das Gefühl nicht los, das ihre Hasstiraden nicht von ungefähr kommen. Ein paar Tage ist das nun schon her. Ein Brief ohne Absender, ohne Adresse, von einem stummen geschlechtslosen Wesen unter der Tür durchgeschoben. Und dann nur noch Rätselraten. Natürlich war sie es. Aber warum? Rätselraten. Und dimensionsloses Fummeln. Seit sie weg ist, wichse ich in den Mülleimer. Er ist der alles umschließende Tod, der Abort der homogenen Sexualität, ein trauriger Witz bin ich, selbst ein totes Spermium auf dem Weg zur Arbeit in den Schlund der Ersatzmuschi gesaugt, kreischend, quiekend wie ein junges Schwein bei der Schlachtung. Salzt mich, ihr Dämonen, labt euch an meiner Denksperre, kaut auf mir rum und kotzt mich auf den trüben Asphalt. Mit einem mentalen apokalyptischen Beil habe ich mir die Nabelschnüre der Vernunft abgehackt. Ich hocke ja immer noch da, ein Tequila saufendes Mammut, kriege das abgestorbene Fleisch nicht hoch, hänge wie meine Kotze auf der Parkbank, kümmerlich hoffend, von einem warmen Stück Stoff aufgewischt zu werden, mich mit der Lauge zu vermengen, aah, hydrophile Spannung meines Unterbewussten, feuchte wahllose Lippen auf der rostigen Haut. Der Termin rückt näher wie ein unbekümmerter Schatten. In mir füllt sich die Leere bis zum Erbrechen.

Literaturtheorie, Derrida, Lyotard, Lacan und der ethische Feminismus, Surrealismus, Heym, Trakl, Breton, die abgedrehten Köpfe, ist der hegelianische Nietzscheanismus ein Neukantianismus? Nebulöse Worte, Hirnkrampf, Habermas bis zum Naberquack, vielleicht sollte ich mal an die frische Luft, Camus, Kafka, Selby, Burroughs, Baudelaire, Rimbaud und Verlaine, die Homos, ranziges Stück Käse, grantige Omas auf der Straße, Verkehr, laue Luft, Lichtenstein, Benn, Ginsberg, Goethe, Mutti. Genug gearbeitet.
In mir keimt der Verdacht, dass es keine gute Idee ist, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Früher war ihre Mutter am Apparat. Die hätte mich am liebsten selbst gedübelt, aber hat es mit unterschwelliger Aggression gepaart. Eine Zwiebel von einer Frau, kurz vor der fünften Häutung. Mit Worten nicht klein zu kriegen. Wenn dann Leonie an den Hörer kam, sackte irgendetwas in mir zusammen, ebbte irgendwas ab, so dass ich für den Bruchteil einer Sekunde nicht mehr atmen konnte. Das bemerkte sie regelmäßig, sagte aber nichts. Hätte sie mich doch darauf angesprochen. Vieles wäre anders gelaufen. Ich wäre nicht so besoffen gewesen, unter der Glutregendusche tanzend, wäre ihr nicht raumgreifend in die Muschi gekleckert, hätte nicht selbstsüchtig ihre Rosette infiziert. Träume wären nie entstanden, Gedankengebilde, die mir heute nicht mehr einfallen. Und an Stelle der drei Musiker hätten sich die drei Französinnen in den Winkel gegraben, der mich nun von oben her anstiert um mich in absolute Reue zu paralysieren. Wäre die Welt nicht rund, wäre das Wasser nicht nass. Ich beginne, mich selbst zu langweilen. Kein gutes Zeichen. Eine Stunde ist es noch, dann muss ich mich erheben, meine Fassade aufzäumen, mein Lächeln und den Handschlag vor dem Spiegel einüben, den Tequila wieder von mir geben, meine Schreibversuche vernichten, Leonie aus meinem Gedächtnis verbannen. Eine Stunde bleibt mir, um Herr der Situation zu werden. Vom Chinesen unten an der Ecke dringen kantonesische Wortfetzen an mein Ohr. Klingt, als würden sie sich gegenseitig schmutzige Witze erzählen. Wahrscheinlich hat Wang in die Reisschüssel ejakuliert und Hop Sing hat das dann versehentlich gegessen. Zu mehr reicht meine Phantasie nicht, was die Chinesen betrifft. Für mich sind sie kleine gelbe Echsen, die es nicht erwarten können, einem die Rübe abzuhacken und einem die Schuhe abzuknöpfen. Zumindest die da unten an der Ecke. Zu mehr reicht deren Phantasie nicht. Ich erinnere mich. Leonie hat immer was von Zen gefaselt. In einem fernen Film, durch den Kelch einer Blüte in das Wohnzimmer meiner Mutter. Ich habe sie intuitiv verstanden, wollte aber nicht nicht denken. Das hätte mich psychotisch gemacht. Zumindest wollte ich so viel Autonomie behalten, mich nicht irgendeiner Ideologie hinzugeben, die Menschen machen, die nicht denken. Solche Leute kann man echt gebrauchen. Vielleicht verstehst du es nur nicht. Vielleicht verstehst du es nur nicht. Ich verstehe immer hin so viel, dass es Geld kostet, in irgendeinem Raum zu sitzen und gar nichts zu tun. So weit bin ich dahinter gestiegen. In einem anderen Leben könnte ich vielleicht damit was anfangen. Eins, indem ich leben würde.
 
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Kommentare  

Schau doch mal in der Lärmenden Akademie vorbei.
Da findest du einige Texte in der Art, auch von anderen Schreibern.
Außerdem kannst du mitarbeiten, wenn du magst.
http://www.laermendeakademie.de.vu


 (17.06.2005)

Also mir gefällt es ausgesprochen gut!
Wie du dich ausdrückst- genial!
Würde gerne mehr von dir lesen.


 (16.06.2005)

Toller Kommentar. Kann man ja soooo viel mit anfangen. Ich würdige ihn mit einem *gähn*.
Sei doch mal konstruktiv.


kritzl (27.02.2005)

Bis auf die letzten beiden Sätze gefällt es mir ehrlich gesagt überhaupt nicht. Zu erzwungen, zu absichtlich. Wirkt zu künstlich.

Eden (26.02.2005)

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