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3 Seiten

Der dunkle Raum

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Umgeben von den dunklen, kalt wirkenden Wänden, eines kahl eingerichteten Raumes, saß sie auf einem nackten Holzstuhl. Vor ihr auf dem Tisch lagen einige unbeschriebene Blätter und mit ihren langen Fingern hielt sie verkrampft einen Füllfederhalter in der Hand. Das einzige, was den Raum erhellte, war ein schwaches Kerzenlicht. Selbst wenn man hunderte Kerzen angezündet hätte, wäre es weder heller noch wärmer geworden. Vor Kälte konnte man ihren schweren Atem sehen. Sie wusste, dass sie etwas zu Papier bringen müsse, denn mit jeder wortlosen Sekunde sank die Temperatur. Sie versuchte sich an ein glückliches Erlebnis zu erinnern, bekam die schrecklichen Bilder jedoch nicht aus dem Kopf. Es war, als hätte jemand ein Fotoalbum geöffnet. Sie schüttelte den Kopf hin und her, doch vor solchen Erinnerungen half nicht einmal ein Augenschließen. Wie gern wäre sie nur für einen Augenblick blind gewesen, stattdessen sah sie immer und immer wieder alles in Zeitlupe. Sie hatte den Marktplatz vor Augen, sah einen jungen Mann von etwa zwanzig, der ruckartig eine Pistole aus der Jackentasche zog, diese gezielt auf eine junge Frau richtete und abdrückte. Blut, überall Blut. Der Asphalt färbte sich rot. Ihr wurde schwindlig. Er drehte sich um und sie erkannte sein Gesicht auf dem sich ein widerwärtiges Grinsen abzeichnete. Das letzte an das sie sich erinnern konnte, war wie er die Pistole an seine Schläfe drückte und plötzlich drehte sich alles. Schneller und schneller. Dann hörte sie einen letzten Schuss und alles wurde schwarz. Irgendwann wachte sie auf. Hier,in diesem kalten Raum. Aus irgendeinem Grund wusste sie, was sie zu tun hatte. Es fiel ihr jedoch schwer das geschehene zu verarbeiten. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und alles drehte sich um die Frage ,,Warum?". Seit ihrer Kindheit gab es zwei Menschen, die sie niemals missen wollte. Zum einen ihre beste Freundin Linda und zum anderen Jakob ihren Bruder, an den sie sich immer wenden konnte wenn sie irgendwelche Probleme hatte. Die drei waren fast unzertrennlich. Sie erinnerte sich, wieviel Spaß sie zusammen hatten. Nach der Schule lernten sie oft gemeinsam, jeden Freitagabend gingen sie Pizza essen und im Sommer zelteten sie im nahe gelegenen Wald. Als sie sich an all diese Erlebnisse erinnerte, kam ihr plötzlich, ganz plötzlich ein Gedanke, der ihr Herz von einer Sekunde zur anderen leichter machte. Sie erkannte wie glücklich sie war. Natürlich war sie sich immer bewusst, was für eine schöne Zeit sie zu dritt erlebt hatten, doch nie spürte sie bei all diesen Erinnerungen das pure Glück so durch ihren Körper strömen wie jetzt. Aber wieso realisierte sie diese schönen Augenblicke ihres Lebens erst, wo diese längst Vergangenheit geworden sind? Erkennt man wahres Glück immer erst in Situationen, wo es einem schlecht geht?
Sie sah sich selbst im Wald mit geschlossenen Augen an einem Baum gelehnt. Wie alt war sie da wohl? Vielleicht neun oder zehn? Sie konnte die Vögel zwitschern hören, es war Frühling. Sie erinnerte sich an diesen einen -ihr damals unbedeutend vorkommenden- Tag. Sie spielte mit ihrem Bruder und Linda verstecken. Es schien ihr, als würde sie selbst wieder dort sein und in gewisser Weise war sie es auch. ,,Neunundvierzig, Fünfzig, ich komme!" schallte ihre kindliche Stimme wie ein Echo durch den Wald. Sie sah, wie sie selbst damals die Augen öffnete um die anderen zu suchen und plötzlich wurde es wieder dunkel und kalt.
Statt der grünen Bäume umgaben sie jetzt wieder nackte Wände. Entschlossen umklammerte sie den Federhalter und schrieb ein paar Erinnerungen auf. Sie fragte sich, weshalb man sich der meisten glücklichen Momente erst im Nachhinein bewusst wird und sie zu dem jeweiligem Zeitpunkt, indem man sie erlebt weniger zu schätzen weiß. Plötzlich nahmen die Wände wieder Farbe an. Nun sah sie sich auf einem Bahnhof stehen, in der Hand hielt sie einen dunkelblauen Koffer. Sie erinnerte sich gut an diesen herrlichen Sommertag. Sie trug einen modischen knielangen Rock und eine weiße Sommerbluse. Es war ihr 18. Genurtstag und sie kam gerade aus England. Ein halbes Jahr lang hatte sie dort in einer Gastfamilie gewohnt. Ein schlankes Mädchen mit braungelocktem Haar lief ihr entgegen und umarmte sie. Es war natürlich Linda. ,,Du hast mir gefehlt..." waren ihre ersten Worte und Freudentränen liefen über ihre Wangen. Sie hatte diesen Tag nie vergessen, denn sie erfuhr etwas, was ihr anfangs wie ein Schlag ins Gesicht vorkam. Linda und Jakob waren seit ein paar Monaten fest zusammen. Auch wenn es ihr erst widerstrebte, lernte sie mit der Situation umzugehen und auch dieser Tag war letztendlich einer der glücklichsten ihres Lebens.
Dann befand sie sich wieder in dem dunklen Raum und begann zu schreiben. Im Stillen ärgerte sie sich, dass sie diesem schönen Augenblick zu der Zeit weniger Gutes abgewinnen konnte als jetzt. Auf einmal fiel ihr auf, dass sie ihren kalten Atem nicht mehr sehen konnte und kam es ihr nur so vor oder war es tatsächlich etwas heller geworden? Jedenfalls dachte sie noch eine Weile darüber nach, warum Jakob Lindas und sein Leben beendet haben könnte. Im Unterbewusstsein kannte sie die Antwort und nun musste sie der Tatsache ins Auge blicken. Für so eine Tat gab es meist nur ein Motiv, Eifersucht! Jakob liebte Linda über alles, das hatte er ihr einst anvertraut. Er würde es nicht ertragen sie zu verlieren und falls doch würden sie beide verlieren oder an Zeitlosigkeit gewinnen, wie auch immer man es auslegen wollte.
Plötzlich spürte sie wieder warmes Blut durch ihre Adern fließen, aus einer Kerze schienen tausend geworden zu sein, die schwarzen Wände wurden weiß und nun sah sie sich selbst am Tisch sitzen. Schon wieder ärgerte sie sich, dass sie diesen Moment, wo sie in dem dunklen Raum saß und all die Glücksmomente ihres Lebens vor ihren Augen abliefen, nicht bewusst wahrgenommen hatte, doch vielleicht ist ja genau dieser jetzige Zeitpunkt auch so ein Moment?!
 
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Kommentare  

Danke für deinen Kommentar, Benjamin. Der Schwerpunkt soll natürlich der dunkle Raum sein, wie du ja schon gesagt hast, deshalb habe ich die anderen Ereignisse auch etwas gefühlsärmer beschrieben. Ich stimme dir übrigens vollkommen zu, dass es etwas unrealistisch ist, nach einem derartigen Vorfall so schnell wieder klar denken zu können, für die Kernaussage brauchte ich aber sowohl ein trauriges Erlebniss als auch die schnellstmöglichst klaren Gedanken der Hauptperson.
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P.S. an den Rest der Welt: Über weitere Meinungen und Kritik würde ich mich freuen ;-)


Jessica Reinsch (18.04.2005)

Was soll man sagen... Zum einen ist es eine Schilderung, zu einem sehr traurigen Ereignis. Dieses Ereignis wird jedoch nicht genauer beschrieben, wodurch es nich geschieht, dass der Leser sich in die Situation hineinversetzt. Ich denke, dies ist beabsichtigt, da die Intention der Geschichte ist, die schönen Momente aufzuzeigen(wenn ich nicht irre). Dadurch, dass sie in dieser Form geschrieben ist, entsteht ein Zusammenspiel von Form und Inhalt. Die Formulierungen kamen mir recht sachlich vor, auch die positiven Momente werden nur beschrieben, nicht aber fühlt man sie nach.
Was man sich jedoch vorstellen kann, und ich gehe davon aus,dass es so beabsichtigt ist, ist der dunkle Raum, in dem sie sitzt und der immer heller wird. Eine sehr bildhafte Vorstellung, die mir gefällt. Die Erlebnisse prägen den Menschen(dunkler Raum), doch erst durch Reflexion werden sie zu wirklicher Erfahrung(Raum wird heller).
Was ich als zweifelhaft ansehe ist, das ein Mensch nach solch einem VOrfall so schnell in der Lage ist, wieder klar zu denken und sich so zu freuen, gerade da es ein Mord an ihrer besten Freundin war UND ein Selbstmord. Aus dem Text geht hervor, dass Jakob so eine Tat angekündigt hat, für den Fall, dass sie drohen sich zu verlieren, was einiges über seine Persönlichkeit aussagt..
Über diese, aus meinen Augen, Fragwürdigkeit, die jedoch auch eine Kleinigkeit ist, da sie an der Aussage im Grunde nichts ändert, kann man allerdings aus dem eben genannten Grund hinwegsehen.
Ob man wirklich das Schöne nur erfassen kann, wenn es einem im Moment schlecht geht sei dahingestellt, richtig ist, das man auf jeden Fall beides kennen muss um es überhaupt "werten" zu können.
So, ich hoffe du kanst mit meinem Kommentar etwas anfangen.
-Benjamin


-Spirthahrm- (05.04.2005)

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