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5 Seiten

Lissy

Schauriges · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Leslie war eigentlich nicht wirklich böse, eher das, was man allgemeinhin einen ruhigen, eher unauffälligen Sonderling nennen würde.
Äußerlich zwar durchaus als grobschlächtig zu bezeichnen, war sein Inneres längst nicht so eindimensional, wie es bei oberflächlicher Betrachtungsweise hätte erscheinen mögen. Na gut, er war kein Einstein, doch mit dem einen oder anderen reflektierten Gedanken gesegnet.
Und genau das war es wohl, was ihm "den Job" wie sie es nannten, manchmal ein kleines bisschen erschwerte.
Denn eigentlich gefielen sie ihm, wenn Harvey, der vierschrötige Typ mit der verdrecktspeckigen Cordschiebermütze sie "anlieferte" und von dem fensterlosen Kastenwagen ablud, um sie ungerührt mit Leslies Hilfe in den Verschlag zu verbringen. Während er durchaus in der Lage war, ihre vom schüttelnden Transport lädierte Haltung, die Linie eines schönen, ja graziösen Nackenschwunges, oder ihre weißen Brüste, ihr weißes Fleisch zu bewundern, hakte Harvey die Verlade- und Einsperrtätigkeit völlig emotionslos, und völlig unbeeindruckt vom damit verbundenen Gezeter ab.
"Unternehmer sein" nannte Harvey das.

Und so hatte Leslie etliche kommen und gehen gesehen, sie bewacht und versorgt, bis die Unvermeidlichkeit der Aufenthaltsbeendigung, der verdiente anschließende Urlaub, und die darauf folgende Anlieferung des neuen "Frischfleisches" (wie Harvey es nannte) den nächsten Turnus im Ablauf des "Jobs" einläutete.
Bisher hatte er sich mit der Situation, dem scheinbar unvermeidlichen arrangiert, hatte sich gezwungen, die Insassen als "Ware" zu sehen, bis, ja - bis Lissy auftauchte.
Sie war anders, war besonders, fand Leslie. Ihr, trotz Gefangenschaft im engen Bretterverschlag stolzer Gang, der - wie er fand kluge Blick ihrer Augen, ihr offenes Wesen. Eine gewisse Vorliebe, ja Vertrautheit hatte sich eingestellt zwischen Wärter und Gefangener, besondere Aufmerksamkeiten für die Eine hatten sich in den sonst immergleichen Tagesrhytmus eingeschlichen. Ihr dankbarer Blick, wenn er wiedermal ihre Tagesration um ein paar Leckerbissen aufstockte, ließ es ihm mittlerweile richtiggehend warm ums Herz werden.
Das irgendwo im Hinterkopf nistende Wissen, das auch Lissy keinerlei Sonderstatus besaß, daß sich ihr Schicksal letztlich in nichts von den Mitgefangenen unterscheiden würde, war zwar vorhanden, aber er vermied es, diesen Gedanken allzu präsent werden zu lassen. Die Mitte des Monats war schon überschritten, und somit würde es sowieso schwieriger werden, das unvermeidbare zu verdrängen.
2 Tage später holperte dann Harveys verbeulter Lieferwagen folglich nicht wirklich unvermutet im Grau des Vormittages auf den schlammverkrusteten Platz vor der abgelegenen Baracke, und eine halbe Stunde später wußte Leslie ganz genau woran er war. Zwei Tage verblieben nur, bis Harvey zurückkomem würde, um "die Ware auslieferungsfertig zu machen" wie er es in diesem, wie Leslie fand protzigen Geschäftsmännerton nannte.
Lange noch, nachdem Harvey wieder losgeklappert war, saß Leslie über dem lauen Instantkaffee in der Behelfsküche, und versuchte, eine Lösung für sein Dilemma zu finden.
Schließlich kam er zu dem Schluß, daß er wohl nicht umhin käme, Harvey darum zu bitten, ihm einen humanen Verkaufspreis anzubieten, wenn er Lissy nicht ihrem Schicksal überlassen wollte.
Deutlich besser gelaunt schlurfte er hinüber zu den Zellen, und sorgte für die Abendmahlzeit der Gefangenen.
Ein bisschen scheu, aber doch vergnügt, kniff er Lissy linkischzärtlich in die Wange, als er ihr die mittlerweile gewohnte Extraration zusteckte, und flüsterte ihr verschwörerisch zu, was er sich vorgenommen hatte. Er tuschelte von seinem schmalen Lohn, und dem Entschluß, sie trotzdem von dem ihr zugedachten Schicksal zu erlösen. Lissy sah ihn lange, mal ernst, mal interessiert mit etwas schiefgelegtem Kopf an, doch ein Lächeln, Erleichterung, oder ein Zeichen des Verstehens konnte er auf ihren Zügen nicht ausmachen. Naja, dachte er bei sich, sie versteht wahrscheinlich immernoch kein Wort - bestenfalls, -und nur vielleicht- die Hälfte.
Aber das würde sich ändern, dachte er, während er pfeifend mittels eines altersschwachen Besens versuchte, die von Harvey achtlos hinterlassenen Schlammspuren von dem alten Ziegelboden zu tilgen.
Und so geschah es, daß Harvey zwei Tage später, als er moddrig wie immer die Behelfsküche betrat, nicht nur den nervösen, etwas fahrig wirkenden Leslie in einem auffallend adrett wirkenden, fast sauberen Hemd vorfand, sondern auch zwei frisch bereitete Tassen dampfenden Tees, sowie Lissy, die Leslie zur Feier des Tages aus dem Verschlag gelassen hatte, und die ziemlich verschüchtert in der Ecke hockte, angebunden an den Heizkörper.
Harvey hatte diese ungewöhnliche Kombination noch nicht komplett verarbeitet, als Leslie ihn, bereits aufgeregt plappernd zum Tisch hofierte, diesen dabei anstieß, den übergeschwappten Tee mit dem Hemdsärmel wegwischte, und ihm einen Stuhl in die Kniekehlen schob. Bemerkenswerterweise gelang ihm dies, ohne die Plapperei ein einziges Mal zu unterbrechen. Er erzählte resümierend von den Schwierigkeiten, die der Job über das letzte Geschäftsjahr so mit sich gebracht hatte, erwähnte zirka fünf bis siebenmal seine Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, kurz, er tat alles, um den Preis, der am Ende zur Zahlung anstünde möglichst auf erträglichem, idealerweise kollegialem Niveau zu halten.
Harvey folgte dieser unvermuteten Darbietung verdutzt, aber zumindest mit aller Aufmerksamkeit, zu der ihn sein durch den gestrigen, sehr ausgiebigen Pub-Besuch lädiertes Denkzentrum zu so früher Stunde zu befähigen in der Lage war. Irgendwann war er dann im Gewirr der Weitschweifigkeiten von Leslies Ausführungen dahintergekommen, worauf dieser hinauswollte, und kürzte dessen Verhandlungsstrategien einfach zusammen, indem er müde, und den speckbemützten Kopf an die heiße Teetasse in der Hand lehnend abwinkte, und es damit - für ihn unvermutet- fertigbrachte, Leslies atemlosen Redefluß abrupt zum Erliegen zu bringen.

Zwei Schlucke Tee und ein Resümee seinerseits später, war es allerdings bedeutend schwieriger, die alkoholgeschwängerten Hirnzellen in einer schonenden Ruhehaltung zu belassen, denn Leslie schüttelte vor Begeisterung erst ruppig am Tisch, und anschließend kaum zartfühlender an Harveys Händen, die dieser weit lieber zur weiteren Notabstützung seiner lädierten Gehirnverschalung genutzt hätte.
Er hatte einfach nicht mit einem solchen Ausbruch gerechnet, als er Leslie in disskussionsverkürzender Absicht Lissy einfach geschenkt hatte.
Geschenkt! Leslie konnte es kaum fassen, hätte er doch etliche der mühsam ersparten Pfundnoten opfern müssen, wenn er den normalen Marktpreis hätte berappen müssen.
Und so kam es dazu, daß es ihm diesmal fast gar nichts ausmachte, als er mit Harvey hinüber zu den abgesperrten Abteilen ging, um gemeinsam das blutige Werk zu vollbringen, die Mädels in den Zustand zu versetzen, den der jeweilige Kunde bei Anlieferung erwartete. Er nahm das Blut kaum wahr, das ihm bald warmklebrig von Händen und Unterarmen troff, hörte kaum die Schreie des Entsetzens, das Röcheln, wenn der Tod nicht sofort zubiß, sondern grausam den Versuch weiterer Atmung zuließ.
Seine Gedanken waren komplett woanders, drüben in der Küche, wo Lissy immernoch an die Heizung gefesselt in der Ecke kauerte, und ganz sicher hören konnte, was hier nerbenan, nur durch eine windschiefe Holztür getrennt geschah.
Aber er würde sie schon beruhigen, nacher, sie erst fest in den Arm, und dann nach Hause mitnehmen, sie pflegen und beschützen ihr Vertrauen gewinnen, und es rechtfertigen.
Die Ruhe, die alsbald in die Baracke einkehrte entbehrte jedweder Friedlichkeit. Sie beruhte schlicht auf der Tatsache, daß keine der Insassen am Leben geblieben waren, die noch Lärm hätten schlagen können.
Für einen Moment tauchten vor Leslies geistigem Auge Gesichter auf. Feiste, rote Gesichter, gierig auf das, was ihnen Harvey wie bestellt ausliefern würde. Emotionslos, geschäftsmäßig würde er die vereinbarten Summen einstreichen, ungerührt von den verzerrten, speichelnd gierenden Gestalten.
Während Harvey hinüber in die Küche ging um sich die Hände zu waschen und den bespritzten Gummikittel abzuspülen, den er getragen hatte, griff sich Leslie pflichtbewußt den schweren Zimmermannshammer, den er schon nachmittags bereitgelegt hatte, um eine schadhafte Stelle eines Holzverschlages notdürftig zu reparieren.
Leise vor sich hin summend war er gerade dabeiein passendes Stück Holz aus einem Bretterstapel zu fischen, als er den Schrei hörte.
Aus der Küche!
Todesangst!
Lissy!

Mit einer Geschwindigkeit, die man seinem massigen Äußeren schwerlich zugetraut hätte, flog Leslie den Gang hinunter, und stürzte scheppernd durch die Küchentür.
Vor sich sah er den Grund für das Geschrei. Harvey, der sich Lissy gegriffen, sie von der Heizung losgeschnitten, und ihren Hals auf die Tischkante gedrückt hatte. Das Handbeil in der anderen war bereits erhoben, als es in Leslies Kopf einen Klick tat, und seine Wahrnehmung auf Zeitlupe mit Randunschärfe umschaltete.
Er sah, fast wie als Beobachter, wie sich der Zimmermannshammer, an dem er sich wohl vor Schreck festgeklammert hatte, in seiner Pranke in die Luft erhob, um im selben Moment Harveys Biertrunkenen Schädel zu erreichen, als dieser sich, erschrocken über den Lärm hinter ihm, umwandte.
So kam es, daß es dessen Stirn war, in die die geschmiedete Finne des Hammers ohne weitere Umstände zu machen eindrang. Wie durch Watte nahm Leslie das Knacken der Schädelplatte wahr, gedämpft nur durch die zum Implantat mutierende Cordmütze, die sich dem Weg der Hammerfinne ins Schädelinnere kommentarlos anschloss.
Es war ein - nunja- doch sehr überraschter Blick, der Harvey noch in Richtung seines Angestellten gelang, kurz bevor sich die Augäpfel nach oben rollten, und versuchten, die Information über den steckenden Hammerstiel, der nun im Blickfeld des Opfers auftauchte, ans Kopfinnere zu senden. Allerdings hob dort mittlerweile niemand mehr ab, und Harvey sackte tonlos in sich zusammen.
Leslie stand wie vom Donner gerührt, während Lissy, vom Druck der Hand am Hals befreit, vom Tisch rutschte, und sich in die Sicherheit der Zimmerecke flüchtete.
Wielange er so gestanden hatte, um zu verarbeiten, was soeben geschehen war, wußte Leslie nicht, aber irgendwann war er in der Lage, sich wieder zu bewegen.
Er ging zu Lissy, hob sie auf, und tat das, was er sich vorgenommen hatte. Er drückte sie fest in seinen Arm, schmiegte sein Gesicht dicht an sie und liebkoste zittrigtröstend ihren Körper. Keiner tut dir was, mein Schatz, flüsterte er. Ich nehm dich mit, mach dir keine Sorgen, ich lass nicht zu, daß dir jemand was tut. Er wischte sich gerührt über seine feuchten Augen, als Lissy dankbar ihren gelben Schnabel an seiner Wange rieb, und erleichtert ihr in Unordnung geratenes, schneeweißes Gefieder aufplusterte.


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Kommentare  

Wirklich toll!

Petra (10.10.2009)

Sei gegrüßt,

deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Sie ist interessant, spannend und in einem angenehmen Stil niedergeschrieben, der leicht zu lesen und verständlich ist. Die Personen erscheinen realistisch, ihre Handlungen bleiben dennoch geheimnisvoll. Besonders gefiel mir, dass man bis zum Schluss nicht annähernd erahnen kann, wer, oder was Lizzy eigentlich ist..und man es selbst am Ende der Geschichte nicht wirklich erfährt. Stories, bei denen man sich seine eigenen Gedanken machen muss, bzw soll, sind mir die liebsten.
Mehr davon!


Tara Green (27.12.2006)

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