36


5 Seiten

Der Mann und das Mädchen

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Es war einmal ein kleines armes Bettelmädchen, das draußen auf der Straße lebte. Es war ganz alleine in der großen dunklen Stadt. Leise rieselte der Schnee von oben auf die braunen Haare des kleinen armen Mädchens nieder. Es war der Weihnachtsabend und das Mädchen fror am ganzen Leib. Ihre Eltern waren schon seit langer Zeit nicht mehr bei ihr und Freunde hatte sie auch nicht. So schlurfte das arme Mädchen, nur mit einem dünnen Hemdchen bekleidet durch die engen Gassen der großen dunklen Stadt und suchte verzweifelt nach einer Bleibe. Lange würde sie nicht mehr durchhalten, dass wusste sie genau. Sie brauchte dringend etwas zu essen und einen Unterschlupf, wo sie den kalten und erbarmungslosen Winter überstehen konnte. Leider besaß das Mädchen auch kein Geld, so dass sie sich etwas kaufen konnte, deswegen musste sie betteln.
Das kleine Kind schlurfte von Haus zu Haus, klingelte und klopfte an jede Tür, ob normale Bauernfamilien oder reiche Landsleute, ob Herberge oder Gaststätte, aber niemand wollte sich um sie kümmern. Immer waren alle Zimmer voll oder das Essen aufgegessen oder niemand war daheim. Es gab aber auch viele Leute, die sie sofort wieder fortschickten. Sie waren ganz furchtbar gemein zu ihr geworden.
Das arme kleine Mädchen zitterte. Sie hatte seit Stunden vergeblich versucht, sich eine Bleibe zu suchen. Nun war sie am Ende ihrer Kräfte und hockte sich in eine finstere Ecke an einer Straßenecke. Sie fing bitterlich an zu weinen und flüsterte immer wieder vor sich hin: „Wieso will mich denn keiner? Wieso mochte kein Mensch dieser Stadt einem kleinen armen Bettlerskind eine Chance auf ein schönes Leben geben? Wieso nur, wieso?“
Das Mädchen blickte um sich. Es war keine Menschenseele zu sehen, weit und breit nur leere Straßen und Schnee, der immer dichter vom Himmel hinunterschneite. Hinzu kam ein kühler Wind, der das kleine Mädchen so sehr auszukühlen drohte, dass sie Angst bekam, die Nacht nicht zu überstehen. Es nutzte nichts hier sitzen zu bleiben und auf den kalten Tod zu warten, dachte sich die Kleine. Sie stand auf, sammelte all ihre Kräfte und ging zum letzten Haus in der Straße. Drinnen war eine große Familie an der Weihnachtstafel. Vater schnitt gerade die Weihnachtsgans an und Mutter brachte die Soße und die Kartoffelklöße heran. Die vier Kinder waren sehr glücklich und freuten sich anscheinend auf den Braten. Unter dem Baum, den das Mädchen weiter hinten beim Kamin stehen sah, lagen eine Menge Geschenke. Alles war so gemütlich und warm eingerichtet, dass sich das Mädchen gar nicht traute zu klingeln. „Es hat keinen Zweck, diese Leute würden mich auch fortjagen, wie alle in dieser elenden Stadt“, wimmerte das arme kleine Bettelmädchen vor sich hin.
Da fühlte sie auf einmal eine große schwere Hand auf ihrer Schulter. Ängstlich fuhr sie herum und sie blickte nach oben, in die dunklen und warmherzigen Augen eines Mannes. Er kniete sich ganz langsam zu ihr herunter und sah ihr ebenfalls ganz tief in die Augen.
„Sag, kleines Mädchen“, begann der Mann zu sprechen, „bist du ganz alleine am Weihnachtsabend in dieser großen und kalten Stadt?“
Das Mädchen nickte. Eine Träne floss ihr die Wange hinunter. Würde der Mann sie gleich auslachen und zum Sterben im Schnee zurücklassen?
„Komm, ich nehm dich zu mir. Dort ist es warm und du kannst dich an meiner Tafel laben. Ich habe Braten und Kartoffeln und Gemüse und ganz viel heißen Tee, dass ich es gar nicht alleine schaffe.“
Das kleine arme Mädchen konnte ihren Ohren nicht trauen. Stundenlang versuchte sie ihr Glück vergebens, irgendwo eine Unterkunft zu finden und als sie gerade aufgeben wollte, da bot ihr dieser freundliche Herr ein warmes Essen und eine Bleibe an. Sie ergriff die Hand, die er ihr entgegenstreckte und er führte sie durch die Straßen zu einem großen alten Haus. Es befand sich am Stadtrand, viele hundert Schritte vom letzten Haus entfernt.
Drinnen war es schön warm, so dass sie gar nicht frieren musste, obwohl sie nur ein dünnes, durchnässtes Hemdchen trug. Es roch überall nach Braten und Zimtäpfeln.
„Komm“, sagte wieder der Mann, „ich führe dich rum und gebe dir etwas zum Anziehen.“
Nachdem sie sich ein richtiges Kleidchen aus feinster Seide überzog, betrachtete sie das ganze Haus. In jedem Zimmer war es wunderbar warm und als sie ins Speisezimmer kam, erwartete sie eine festlich gedeckte Tafel, wie das Mädchen sie bei der Familie in der Stadt sah.
Die nächsten Stunden waren die schönsten im ganzen Leben des armen Mädchens gewesen. Sie aß und trank soviel sie konnte und danach nahm der freundliche Mann das Mädchen in seine Arme, trug sie ins Kaminzimmer, wo ein königliches Feuer loderte und las ihr ein Weihnachtsmärchen vor. Sie kuschelte sich eng an den freundlichen Mann, der ihr das Leben rettete.
Am nächsten Morgen schickte der Mann das Mädchen nicht fort. Auch nicht am Tag darauf. Bald wird der Tag kommen, da will er mich auch nicht mehr haben, dachte das Mädchen traurig. Bald würde der Winter vorbei sein und wenn die ersten Blumen anfingen zu blühen, musste sie wieder alleine auf der Straße leben. Doch als der Frühling kam, durfte sie bei ihm bleiben. Sogar im Sommer schickte er sie nicht hinaus, außer sie sollte ihm ein paar Einkäufe erledigen, was sie mit großer Freude tat. Sie bekam ein eigenes Zimmer in dem großen Haus des freundlichen Mannes und fühlte sich richtig wohl bei ihm. Sie wohnte mittlerweile richtig bei ihm und war überglücklich, dass sie ihm auch helfen konnte. Der Mann konnte wahrlich eine Frauenhand im Haushalt gebrauchen und das Mädchen nähte ihm die kaputten Socken sehr gerne wieder heile. Dafür durfte sie bei ihm wohnen.
Irgendwann brach der Winter wieder aus. Das kleine, nun nicht mehr arme Mädchen saß alleine in ihrem Zimmer und sah zum Fenster hinaus. Es war der Weihnachtsabend und irgendetwas schien sie zu bedrücken.
„Was macht mein süßes kleines Mädchen denn so traurig?“ fragte der freundliche Mann fürsorglich.
„Ach weißt du, Papa“, sprach die Kleine. Sie nannte den Mann mittlerweile Papa, weil er sich so rührend um sie kümmerte, wie ein richtiger Vater. „Draußen ist es kalt und dunkel. Es ist nun Weihnachten und vor genau einem Jahr hast du mich dort draußen gefunden und mir ein zu Hause geschenkt. Du hast mir das Leben gerettet.“
Der Mann setzte sich zu ihr auf die Bank, die unter dem Fenster stand und legte einen Arm um sie. Er streichelte ihr samtenes Haar und sprach: „Du warst damals ein dürres, halb verhungertes kleines Wesen und nun bist du ein fröhliches Kind geworden. Ja, ich denke sogar, ich liebe dich wie eine echte Tochter, meine Schöne.“
Das Mädchen ließ sich in seinen Schoß sinken und blickte noch immer hinaus.
„Ich muss gerade an die armen Kinder denken, die draußen in den Straßen nach einer Bleibe suchen, wie ich einst.“ Sie seufzte sehr lange und bäumte sich dann auf. Sie blickte ihn direkt in die Augen und sprach nach einer längeren Pause: „Papa, ich habe eine tolle Idee.“
Der Mann wollte natürlich sofort wissen, was für eine tolle Idee das war und deswegen unterbrach er sie auch nicht, als sie ihm die Idee berichtete.
„Was hältst du davon, wenn wir raus in die verschneiten Straßen gehen und ein kleines armes Bettelmädchen aufnehmen um ihm etwas zu essen und etwas zu trinken und einen Unterschlupf zu gewähren?“ rief das Mädchen aufgeregt.
Der Mann gab zu, dass es eine brillante Idee war und ging mit dem Mädchen gemeinsam ins Erdgeschoss. Unten zogen sich beide warm an und nahmen eine dicke Wolldecke mit.

Hand in Hand gingen der freundliche Mann und das ehemals arme Mädchen durch die verschneiten Straßen. In den Häusern feierten die Familien ihr Weihnachtsfest. Auf den Straßen befand sich außer den beiden keine andere Menschenseele. Als der Mann und das Mädchen um die nächste Ecke bogen, hörten sie ein kränkliches Husten und erblickten kurz darauf ein sehr dünnes kleines Mädchen, das neben einer Mülltonne lag. Sie war beinahe nackt und zitterte am ganzen Leib.
Das kleine Mädchen löste sich von der Hand des Mannes, nahm die Decke und legte sie um das arme Mädchen. Die sah auf und war äußerst dankbar für die Hilfe.
„Wer seid ihr?“ fragte das dürre Kind hustend.
„Wir sind gekommen um dir ein Zuhause und etwas Nahrung zu geben“, antwortete das Mädchen.
Der Mann hob daraufhin das dürre, zitternde Kind auf und brachte es gemeinsam mit seiner „Tochter“ zu seinem großen Haus. Dort gaben sie ihr vernünftige Kleidung und viel zu essen und zu trinken. Das Kind war so überaus dankbar, dass ihm die Tränen nur so vom Gesicht hinunterliefen. Als das Mädchen das sah, kletterte sie zu ihrem Papa auf den Schoß und sprach: „Papa, lass uns ab sofort jedes Weihnachten ein kleines Kind auflesen und ihm ein neues Zuhause geben.“
Der freundliche Mann hielt es für eine so gute Idee, dass er seiner Tochter einen dicken Kuss gab. Er versprach ihr, dass sie das ab sofort jedes Jahr tun würden, bis sie irgendwann keine verarmten, einsamen Straßenkinder mehr finden würden. Der Mann und die beiden strahlenden Mädchen zogen sich ins Kaminzimmer zurück und er las ihnen noch ein wunderschönes Weihnachtsmärchen vor. So saßen sie Stunde um Stunde eng umschlungen in dem großen gemütlichen Sessel und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute und helfen kleinen Bettelkindern, wieder glücklich zu werden.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Hallo Christian,

Dein Märchen hat mir sehr gefallen. Es drückt eine große Barmherzigkeit aus und kündet von viel Empathie gegenüber hilfebedürftigen Menschen. Für die Verliererinnen dieser Gesellschaft gibt es ein neues Zuhause, eine neue Hoffnung.
Vielen Dank.
Frank Bao


Frank Bao Carter (31.01.2015)

Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich das gerne drucken und einem Freund schenken, der Kinder hat. Zum vorlesen... es ist wunderbar geschrieben. ;)

Joe Lang (08.10.2014)

Oh vielen Dank, Sarah. Dieses Märchen habe ich übrigens damals nicht einfach so geschrieben, sondern damit einem Freund Tribut gezollt, dem ähnliches wiederfahren ist. Dieses Mädchen in dem Märchen gab es also in der einen oder anderen Art tatsächlich.

Christian Sander (07.10.2014)

Eines der schönsten Märchen, das ich je gelesen habe!
Da kann ich einfach nur Danke sagen, dass du es mit uns
geteilt hast!


Sarah (07.10.2014)

Dieses Märchen hast du mir einst geschickt! Es ist wunderschön! LG
Miri


Mirella (10.06.2009)

Hallo Artur,

ich danke dir für deinen Kommentar. Ich verstehe, wieso du nicht näher darauf eingehen kannst. Lass es mich so ausdrücken: ich weiß was du sagen würdest, wenn du es könntest.


Christian Sander (26.05.2007)

Es ist ein wunderschoenes Maerchen,es ist so schoen,das mir einfach die Kraft fehlt,naeher darauf einzugehen!hast Du wunderschoen geschrieben,Danke.

Artur (26.05.2007)

Hallo, das freut mich, bin gespannt... Gruß Sabine

Sabine Müller (31.03.2007)

Vielen Dank für deinen Kommentar und ich kann dir versichern, ich schreibe weiter. Ich arbeite gerade daran, eine weitere, wesentlich längere Geschichte online zu stellen.

 (31.03.2007)

P.S. Hoffentlich schreibst du weiter ;-)

Sabine Müller (31.03.2007)

Hallo, ein wirklich rührendes Märchen. Wenn es soetwas wirklich geben würde, wäre die Welt ein Stückerl besser... Es passt zwar nicht ganz zur Jahreszeit, mit Weihnachten, aber das macht ja nichts. Es geht ja eher um einen anderen Hintergedanken. Gruß Sabine

Sabine Müller (31.03.2007)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Star Trek Voyager: Borg-Space - Inhaltsangabe  
Lilly - Inhaltsangabe  
Lilly (Kapitel 32)  
Lilly (Kapitel 31)  
Lilly (Kapitel 30)  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De