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Lilly (Kapitel 15)

Romane/Serien · Fantastisches
Es war halb zwölf Uhr mittags und auf der Kinderstation war Ruhe eingekehrt. In weniger als einer halben Stunde wurde das Mittagsessen an die Patienten ausgeteilt. Lilly war seit über einer Stunde wieder in ihrem Zimmer und ihre Mutter saß bei ihr und tröstete sie. Dann ließ sie sie irgendwann alleine, weil sie mit dem Arzt reden wollte. Lilly musste schleunigst entlassen werden, doch wie sollte sie das anstellen? Lieber diplomatisch mit weiblichem Überredungsgeschick oder lieber gerade heraus? Tanja war letzteres lieber, da sie sich nicht in der Verfassung befand, diesen Arzt mit Samtpfoten anzufassen. Besonders rücksichtsvoll fand sie ihn auch nicht und im Moment hatte sie als die Mutter immer noch das Vorrecht ihr Kind aus dem Krankenhaus zu holen, wann immer sie wollte. Es sei denn, es lag eine medizinische Notwendigkeit vor, Lilly weiter dazubehalten. Diese Notwendigkeit bestand nicht, soweit Tanja das beurteilen konnte, denn sie krampfte nicht mehr, sie hatte nur Heimweh. Ein kerngesundes Kind, das unbedingt nach Hause wollte – wieso sollte man es noch da belassen.
Tanja gab Lilly einen Kuss bevor sie ihr Zimmer verließ und stellte ihr ihre Wiederkehr in Aussicht.

„Kann ich Sie kurz stören?“ sprach Tanja, als sie ihren Kopf in das Büro des Arztes steckte.
„Aber natürlich, nehmen Sie Platz“, antwortete Adam, als er von seiner Arbeit aufsah.
Tanja schloss die Tür hinter sich und setzte sich in den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch von Doktor Mendelbaum.
„Was kann ich denn für Sie tun, Frau Jenssen?“
Tanja überlegte erneut, wie sie mit ihrer Ansage starten wollte. Sie wollte auf eine ganz bestimmte Sache hinaus, deswegen wäre es unsinnig, um den heißen Brei zu reden. „Ich würde gerne meine Tochter mit nach Hause nehmen.“
Adam Mendelbaum gab sich wenig beeindruckt von dieser Forderung. Insgeheim wartete er bereits seit knapp zwei Tagen auf dieses Gespräch. „Das ist überhaupt kein Problem, sobald alle Untersuchungen abgeschlossen sind.“
„Ich glaube, Sie verstehen nicht, was ich meine. Ich will Lilly heute noch mitnehmen, am Besten gleich jetzt.“
Adam beugte sich vor. Die Zeit, aneinander vorbeizureden und immer wieder Ausreden zu finden, wieso das Kind länger dableiben sollte, war nun vorüber.
„Ich will ganz offen zu Ihnen sein: ich kann Sie noch nicht guten Gewissens mit Ihrer Tochter gehen lassen, weil ich nicht davon überzeugt bin, dass ihr nichts fehlt.“
„Was soll das heißen? Sie kam krampfend hier an, aber sie hat sonst keine weiteren solcher Anfälle gehabt. Auf mich wirkt sie sehr gesund, es sei denn, Sie überzeugen mich vom Gegenteil.“ Damit fühlte sich Tanja auf der sicheren Seite, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr auf die Schliche gekommen war.
„Nunja, ich weiß nicht inwiefern Sie das überzeugt, aber das Blut Ihres Kindes ist alles andere als normal und die Untersuchung heute Morgen hat mich alles andere als ruhig gestimmt.“ Damit fühlte auch Adam sich sicher, dass die Frau ihm endlich einmal zuhörte.
„Was soll denn das bedeuten?“ fragte Tanja leicht verunsichert.
„Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein, Frau Jenssen. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass Sie und Ihr Mann mir nicht alles erzählt haben, was es mit diesen Krämpfen und mit Ihrem Kind allgemein auf sich hat.“ Tanja schluckte. Hatte der Arzt etwa ihr großes Geheimnis gelüftet? Was konnte er in dieser Metall-Röhre schon herausgefunden haben? Das Ding schien kaputt gegangen zu sein, bevor man brauchbare Aufnahmen vom Gehirn machen konnte. Tanja wusste nicht einmal, ob diese Röhre derartige Hirnaufnahmen machen konnte, die irgendeinen Schluss auf Lillys Zustand zuließen. Aber sicher ist sicher, dachte sich Tanja. Eine weitere dieser Untersuchungen durfte auf gar keinen Fall stattfinden.
Der Arzt fuhr fort: „Bevor die Messgeräte im CT ausfielen, konnten wir noch einige Aufnahmen von Lillys Gehirn retten und ich habe Grund zu der Annahme, dass das Gehirn Ihrer Tochter irgendwie verändert worden ist. Ob es an irgendeiner Krankheit liegt, kann ich derzeit noch nicht sagen, aber die Auswirkungen sind bereits zu spüren und ich würde dringend dazu raten, dagegen vorzugehen. Andernfalls garantiere ich nicht für eine Genesung Ihrer Tochter.“
Der Arzt war sehr ernst und ließ auch keinerlei Widerworte gelten. Tanja saß da, wie ein Häufchen Elend. Dieser verdammte Arzt hatte tatsächlich Lillys Gehirn untersucht und etwas festgestellt. Das würde er bestimmt mit seinen Ärztekollegen besprechen, weil er auch nicht soviel darüber wusste und irgendwann würden es zu viele Leute wissen, als dass man es geheim halten könnte. Lilly würde man ihr wegnehmen, darüber war sich Tanja im Klaren. Ein Kind, dessen Gehirn seltsamerweise verändert wurde, musste doch untersucht werden. Aber was genau wusste der Arzt denn überhaupt über diese Veränderungen?
„Was meinen Sie mit verändert?“
„Nun ja, Ihre Tochter hat eine merkwürdige Anhäufung von Nervenzellen in einer Region ihres Gehirns, die normalerweise ungenutzt bleibt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist dieser Zustand noch nicht bedrohlich, aber Lillys Gehirn ist bereits jetzt schon leistungsfähiger, als das aller anderen Menschen. Wenn wir da nicht bald eingreifen, dann kann möglicherweise noch viel Schlimmeres passieren, als es ohnehin vielleicht schon geschehen ist.“
Verdammt! Dieser Arzt musste Lilly für einen zirkusreifen Freak halten, dessen Gehirn übersinnliche Fähigkeiten besaß. Er musste bemerkt haben, dass sich in Lillys Gegenwart unerklärliche Dinge ereigneten, wahrscheinlich brachte sie auch die Geräte bei der Gehirn-untersuchung zum Zusammenbruch. Jetzt wollte er ihre ‚Krankheit’ kurieren, damit sie niemandem gefährlich werden konnte. Alle Welt würde davon erfahren und dann endet Lilly irgendwo in einem Labor, umgeben von Wissenschaftlern und Doktoren, die nur darauf warteten, alle Hirnwindungen nach einer Antwort zu durchforsten. Am Ende schnitt man ihr noch das Gehirn raus und legt es in Scheiben vor sich hin, damit man genau zurückverfolgen kann, wie Lilly dies oder jenes mit ihren Gedanken machen konnte. Wenn diese Untersuchungen aber nichts ergaben, würde man ihr höchstens ‚Tut uns leid, Frau Jenssen’ vorplärren und dann weiter machen wie bisher.
Tanja brach innerlich in Panik aus. Wie sollte sie jetzt noch ihr Kind da raus holen, wo doch nun dieser Arzt aufmerksam geworden war? Sie musste sich unbedingt mit Mark darüber unterhalten.
„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gerne zu meiner Tochter zurückkehren“, gab Tanja kleinlaut zurück und erhob sich. Sie wartete gar nicht erst eine Antwort von Dr. Mendelbaum ab, sondern verschwand einfach so. Allerdings ging sie nicht direkt zu ihrem Kind, sondern musste erstmal raus an die frische Luft. Mark würde erst gegen vier Uhr nachmittags nach Hause kommen, also waren noch gute vier Stunden Zeit, bevor sie mit ihrem Mann reden konnte.
Adam Mendelbaum unterdessen triumphierte leise in seinem Büro. Wenigstens lenkte diese stoische Frau ein und ließ ihr Kind vorerst im Krankenhaus. Er konnte noch immer nicht verstehen, warum diese Leute etwas gegen eine Behandlung hatten. Es war doch alles zum Besten des Kindes, sahen sie das denn nicht? Ihm jedenfalls ging es nur um das Kind und um deren Genesung, alles andere war unwichtig; die Methoden nur Mittel zum Zweck.
Nur wenige Augenblicke nachdem Tanja Jenssen das Büro des Arztes verlassen hatte, klingelte das Telefon. Adam meldete sich.
„Hier ist das Zentralarchiv. Sie wollten doch Informationen über die Akten zu Frau Jenssen und ihrem Kind Lilly, richtig?“
„Ganz genau. Was können Sie mir denn sagen?“
Kurz und knapp berichtete die sympathische Frauenstimme, was sie herausgefunden hatte. Adam wusste nicht wie er die Informationen deuten sollte, aber die kleine Stimme in seinem Kopf, die den Verdacht äußerte, dass Mark und Tanja nicht die Eltern von Lilly waren, meldete sich wieder zurück. Die Kollegin des Archivs teilte ihm nämlich mit, dass es keinerlei Unterlagen zu einem Kind mit Namen Liliane Jenssen gab. Alle möglichen Lilianes, Lillys, Lillis, Lilys oder Lilis die im Zeitraum September bis November 2000 zur Welt kamen, konnten einwandfrei identifiziert werden. Es waren genau zwei Mädchen, die im fraglichen Zeitraum den Namen Lilly erhielten und beide waren eindeutig die Kinder ihrer Eltern. Außerdem bestätigte sich die Information, dass Tanja Jenssen zum Zeitpunkt der Geburt in keinem Krankenhaus war. Darüber hinaus gab es keinerlei frauenärztliche Unterlagen über Tanja, die auf eine Geburt oder eine Schwangerschaft hindeuteten. Laut der Informationen, die Adam nun vorlagen, war Tanja Jenssen nie im Leben schwanger!
Wer zum Geier war dann dieses Kind?
 
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