28


18 Seiten

Fischer geht baden (Teil 2)

Romane/Serien · Amüsantes/Satirisches
© Mork
4 Das falsche Los gezogen
Die Wahrheit über die Identität meines Vaters herauszufinden war, als ziehe man eine Niete in der Lotterie, obwohl man bereits mit dem Hauptgewinn gerechnet hat.
Ich war fünfzehn, als ich von ihm erfuhr. Bis zu jenem Zeitpunkt hat mich mein Vater kaum interessiert. Mir reichten all die anderen Väter schon zu genüge, so dass ich nicht noch einen mehr brauchte.
Mit fünfzehn tauchten allerdings einige Aspekte auf, die es zu Bedenken galt. Immerhin hatte ich jetzt eine Familie kennen gelernt, die in mir das Bedürfnis nach einer eigenen solchen geweckt hatte. Mit der Hoffnung, dass mein richtiger Vater mir diese Familie bieten könne, fragte ich meine Mutter eines Morgens nach ihm.

„Mama, ich muss mit Dir reden.“, hatte ich ernst gesagt.
„Ja, dann nur zu. Freut mich, wenn Du mal mit mir reden musst. Zur Abwechslung mal wieder was Neues, wenn der Sohn mit einem redet. Immer dieses Schweigen macht einen ja ganz kribbelig. Dann starrst Du einen auch an, als wolltest Du mich gleich erdolchen oder so was. Ich träume ja sogar schon von Deinen schweigenden Blicken, die mich durchbohren. Erst vorgestern Nacht, hast Du mich im Schlaf erwürgt.“
„Darf ich Dich jetzt was fragen oder nicht, Mama?“
„Natürlich nur zu. Ich genieße es ja schon, wenn Du mich mal wieder Mama nennst. Ich hab das vermisst. Hätte denken können, Du hättest vergessen, dass ich Dich achteinhalb Monate mit mir rumgetragen und Deine Tritte gegen meinen Bauch ertragen habe. Sogar das Rauchen habe ich wegen Dir aufgegeben. Ich bin ja noch ein Kind gewesen, habe alles aufgegeben für Dich. Und ja, manchmal hätte ich mir wenigstens ein wenig mehr Wertschätzung Deinerseits gewünscht. Zumindest in der letzten Zeit. Aber wie ist das auch schon möglich, wenn Du ja kaum noch Zeit hier verbringst. Seid Ihr eigentlich alle so, wenn Ihr in die Pubertät kommt? So hart zu den eigenen Eltern? Oder nur Du zu Deiner blutjungen, naiven Mutter? Ist das irgendeine Strafe, frage ich mich manchmal…“
Ihr Geschwafel dauerte noch eine Ewigkeit lang an, bevor sie irgendwann stöhnend auf den Küchenstuhl sank, ihren Kopf in die Hände legte, mich wie ein müder Dackel anguckte und fragte:
„Was ist denn jetzt? Wo drückt der Schuh, Schätzchen?“
„Ich möchte gerne wissen, wer mein echter Vater ist, Mama. Ich meine, meinen leiblichen Vater.“
„Also, doch. Du bestrafst mich!“, seufzte sie, „Kennst Du noch die Geschichte von Maria und Jesus? Bei mir war’s genauso. Ich hab Dich jungfräulich empfangen. Es gibt keinen Vater.“
„Mama, bitte, ich bin fünfzehn. Wir haben schon Biologie in der Schule.“
„Biologie, so so. Was ist denn aus dem guten alten Religionsunterricht und dem naiven, vorbehaltlosen Glauben an Wunder geworden?“
„Selbst wenn, Mutter. Eine jungfräuliche Empfängnis käme wohl bei jeder anderen außer Dir in Frage.“
„Mutter? Bitte nenn mich nicht „Mutter“. Das hört sich an, als ob Du mich gleich in ein Pflegeheim geben willst. Ich bin noch nicht mal Mitte dreißig.“
„Ist mein Vater irgend so ein Yugo?“
„Hör auf, so zu reden!“, protestierte sie, „Und nein, Dein Vater ist ein Schweizer. Mehr Schweizer als man gemeinhin erträgt.“
„Du hast auch mal mit einem Schweizer geschlafen?“
„Jetzt hör aber mal auf, Rolf, was fällt Dir ein, so mit mir zu reden? Was ist nur los mit Dir? Kann die Pubertät einen denn wirklich zu so einem Ekel werden lassen, wie Du eines zu werden scheinst? Also, ich war nicht so. Ich bin damals vor Liebe schier überlaufen.“
„Und zu wem ist Deine Lieben überlaufen?“
Meine Mutter schaute mich entsetzt an. Ich stand vor ihr und entgegnete ihren harten Blick. Sie steckte sich hastig eine Zigarette an.
„Ok.“, sagte sie leise und erschöpft. Rauch stieg aus ihrer Nase, „Ich merke schon, an Dich kommt man ja nicht ran. Wenn Du alles wissen willst, dann setz Dich bitte hin und hör mir zu.“, sie machte eine Pause, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch zur Decke, „Und bitte, verhalt Dich ein wenig menschlich, ja? Im Moment führst Du Dich nämlich erschreckend auf.“
Ich setzte mich und lächelte.
„Ich bin damals siebzehn gewesen und mit ein paar Mädchen, also Freundinnen, habe ich das Schwingerfest auf der Rigi besucht.“, sie lächelte hämisch, „Wir wollten halt ein wenig Spaß haben. Es ist ja nicht mal meine Idee gewesen, das weiß ich noch genau. Ich meine, es ist Monika gewesen, die bei einer alten Fernsehübertragung gemeint hat, dass wir uns das mal näher ansehen sollten. Wir haben alle nur gelacht. Du weißt ja, wie das so ist. Ich hab mit diesen alten Traditionen nie viel am Hut gehabt. Ich bin halt ein Stadtmädchen. Aber wir sind dann hin. Ich bin, glaube ich, zum zweiten Mal oder so auf der Rigi gewesen. Du hättest uns sehen sollen. Wir haben knappe Röckchen, Strümpfe, Pushup-BHs und enge Oberteile getragen und uns aufreizend geschminkt. Wir unter all diesen Alpöhis und Bauernhemdlern mit breiten Schultern und Kartoffelgesichtern, die uns angestarrt haben. Die einen schüttelten verachtend ihre Köpfe , die anderen bekamen rötliche Wangen und stellten sich vor, was sie gerne mit uns machen würden. Wahrscheinlich irgendwo auf dem Heustock oder so?“, Mutter kicherte, „Na ja, das war halt meine Form von Pubertät.“
Mutter hatte Ueli bei Kampf eins zugesehen und fand, dass er der bestaussehendste unter all den Bauerntrampeln war, wie sie es nannte. Sie beschrieb ihn mir als Hünen mit Bübchengesicht und muskulösem, strammem Körper. Nach Kampf zwei ist sie zu ihm gegangen und hat ihn um ein Autogramm gebeten. An den Blick, mit dem er sie erstaunt begutachtet hatte, konnte sie sich immer noch erinnern.
„Ihm sind die Augen schier aus den Höhlen gesprungen. Wahrscheinlich sind all seine Bubenträume auf einmal wahr geworden.“
Ueli ist damals achtzehn gewesen. Das hatte er meiner Mutter zumindest so gesagt. Nach Kampf drei trafen sie sich etwas abseits und Mutter massierte ihm die Schultern, damit er bei der nächsten Runde wieder fit sei, wie sie sagte. Mein Vater erzählte ihr währenddessen von dem Hof, den er eines Tages von seinem Vater übernehmen würde. Und zählte stolz all die Kühe und Rinder auf, die sie besaßen. Meine Mutter hatte innerlich nur ein müdes Lächeln dafür übrig gehabt, aber äußerlich zeigte sie sich äußerst beeindruckt.
Den nächsten Kampf, hatte ihr Ueli gesagt, gewinne er für sie und sie hatte ihm entgegnet, dass sie genau hier mit einer Belohnung auf ihn warten würde. Was folgte, überrascht niemanden mehr. Er ging in Kampf vier und legte seinen Kontrahenten ruckartig in die Späne. Danach marschierte er zum Festzelt und ließ sich von seinen Fans ein paar Gläser Kirschschnaps ausgeben und kehrte schließlich mit angetrunkenem Mut zum Versteck zurück, wo ihn meine Mutter bereits mit der Belohnung erwartete. Was Mutter nicht erwartet hatte, war, dass auch Ueli eine Belohnung für sie hatte, nämlich mich. Die Runde mit meiner Mutter war der Technik, die er auch beim Schwingen einsetzte, erschreckend ähnlich, wie meine Mutter erzählte. Sie sei sich vorgekommen, als trainiere er an ihr schon seine Griffe für den nächsten Kampf. Allerdings muss man zugeben, dass er ja immerhin auch punktete.
Nachdem sie Ueli in Kampf fünf entlassen hatte, den er übrigens klar verlieren sollte, traf sie sich wieder mit ihren Freundinnen und tauschte sich mit ihnen aus.

„Du hast Dich von einem Mann schwängern lassen, den Du gar nicht kanntest, nicht mochtest und den Du nie wieder gesehen hast?“, fragte ich entsetzt.
„Wolltest Du jetzt die Wahrheit hören, oder hätte ich Dir besser das Märchen des tapferen Prinzen erzählen sollen?“
„Kennst Du wenigstens seinen Nachnahmen oder seine Adresse?“
„Er hat von seinem Hof auf dem Sattel erzählt, an einen Nachnamen kann ich mich aber beim besten Willen nicht erinnern. Sei doch glücklich. Wärst Du etwa lieber auf einem Bauernhof aufgewachsen?“
Sie erwartete natürlich, dass ich nein sagen würde, doch ich entschied mich, gar nicht zu antworten.
„Ich liebe Dich, Schatz, das weißt Du. Jedes andere Mädchen in meinem Alter hätte Dich wegmachen lassen. Nicht ich, weil ich Dich vom ersten Moment an geliebt habe.“
„Jedes andere Mädchen hätte sich nicht von einem wildfremden Mann, mit dem sie eigentlich nichts zu tun haben will, schwängern lassen.“
„Nun, ich schon. Ich hab ihn nicht vergewaltigt. Und ich bin jung gewesen. Soll ich es etwa bereuen, bereuen, dass Du gezeugt wurdest? Willst Du, dass ich mich etwa bei Dir entschuldige? Bei Dir, für den ich mir Tag ein, Tag aus den Arsch aufreiße. Jetzt hör mal gut zu, mein Kleiner, im Moment gerade scheinst Du zu denken, Du hättest die Weisheit mit Löffeln gefressen, aber vergiss bloß nicht, aus welchem Nest Du kommst. Ich habe nicht immer richtig gehandelt und das werde ich wohl auch nie tun. Ich gebe mein Bestes, doch ich bin ich und ich bleibe mich selbst. Ich versuche wirklich, nach bestem Wissen und Gewissen zu leben und zu handeln und ich versuche, das an Dich weiter zu geben. Ich bin ehrlich zu Dir, oder? Ich kann damit leben, dass ich ein naives Gör war. Weißt Du warum? Weil ich nachher umso mehr geleistet habe und das solltest Du auch in Betracht ziehen, mein Lieber. Im Moment glaubst Du wohl, die Welt sei schön in schwarz und weiß einzuordnen, ist sie aber nicht. Du wirst auch noch Deinen Scheißdreck machen, aber ich werde Dich nie dafür verurteilen. Ich werde immer zu Dir stehen und Deine Mutter bleiben, weil ich Dich bedingungslos liebe, Rolf.“
Obwohl ich meiner Mutter auf diese Rede hin gegen außen hin keine Absolution für ihr unverantwortliches Verhalten erteilte, feierte ich tief in mir drin ein wahres Freudenfest. Eines, das jeder 1. August-Feier den Rang abgelaufen hätte. Mit prachtvollem Feuerwerk, fröhlicher Musik, ausschweifendem Tanz und allem drum und dran – denn jetzt war es amtlich – ich bin ein reinrassiger Schweizer! Ich Rolf Walti Fischer kann mich mit gutem Gewissen als vollblütigen Eidgenossen bezeichnen und bald schon würde ich ein ganz neues, ein diesem Titel entsprechendes Leben mit meinem echten Vater führen.

Selbst für einen fünfzehnjährigen Teenager wie mich, war es nicht all zu schwer, herauszufinden, welcher Ueli von Sattel 1977 in der fünften Runde des Rigi-Schwingerfestes rausgeflogen ist.
Der Mann hieß mit vollem Namen Ueli Stalder und gewann nur ein Jahr darauf Silber bei dem selben Schwingerfest, wahrscheinlich hatte er in jenem Jahr kein Kind mit einer Minderjährigen gezeugt.
Schon am Wochenende darauf machte ich mich auf zur Adresse auf dem Sattel, wo Ueli den Angaben nach wohnen sollte. Ich hatte vor, ihn eiskalt zu überraschen und mit meiner Existenz zu konfrontieren.
Die Reise zum Sattel stellte sich alles andere als unkompliziert heraus. Von Bahn auf Bus und dann noch aufs Postauto umzusteigen, nur um danach zu Fuß weitergehen zu müssen. So etwas war ich mir von Zürich her wahrlich nicht gewohnt.

Meine Mutter hatte mich ein paar Tage zuvor noch gefragt, was ich denn jetzt mit meinem neugewonnenen Wissen zu tun gedenke. Ich antwortete ihr, dass ich ihn kennen lernen wolle.
„Tu das.“, sagte sie, „Aber bring ihn bitte nicht hier her. Es wäre mir peinlich.“
Damit hatte sich das Thema zwischen uns erledigt. Ich sagte ihr am Samstag nichts von meinem Ziel, als ich von zu Hause aufbrach.

Der Tag war sonnig und ich verschwitzte mein schönes Hemd dabei, als ich den Hügel zum Hof der Stalders hochstieg. Es war nicht nur ein beträchtlich großer, sondern auch ein richtig schöner Hof. Die Schweizerfahne flatterte neben einem Silo im Wind und die Kühe grasten auf einer gepflegten Wiese mit ihren prachtvollen Glocken.
Ein Mann fuhr, ein paar Meter vor dem Hof, an mir vorbei. Er würgte den Motor ab und drehte sich misstrauisch zu mir um. Sein Haar war kurz geschoren und oben rum war er nackt. Seine Brust war massig und dicht behaart.
„Willst Du was von uns oder hast Du Dich verirrt?“, rief er mir in typischen Innerschweizer Dialekt zu.
„Ich will zu Ihnen?“, antwortete ich.
„Was willst Du denn?“
„Ich muss mit Ueli Stalder reden. Sind Sie das?“, fragte ich und bemerkte, wie sich seine Mine postwendend verfinsterte.
„Was willst Du denn von Ueli?“
„Dann sind Sie nicht Ueli?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Ich würde gerne mit Ueli persönlich darüber reden.“
Der Mann hüpfte von seinem Traktor runter und kam auf mich zu. Er wirkte irgendwie bedrohlich. Weil die Sonne ihm ins Gesicht schien, schaute er mich mit zugekniffenen Augen an, während er sich mir mit polternden Schritten näherte.
„Hör mal, was willst Du jetzt von meinem Bruder?“
Ich konnte erkennen, wie hinter dem Mann, eine ältere, dickliche Frau aus dem Stall kam und zu uns rübersah. Sie hatte ein Stück Käse in der Hand und biss rein.
„Ähm, dass muss ich ihm persönlich sagen.“, wiederholte ich möglichst selbstbewusst.
Der Mann reckte sich vor mir auf. Er war mit Sicherheit zwei Köpfe größer als ich und zwei Mal so breit.
„Ich mache hier keinen Spaß, sag mir, was Du willst!“
„So wie es aussieht.“, begann ich zögernd und guckte die Frau an, von der ich annahm, dass sie meine Großmutter sei, „Sind Sie mein Onkel.“
„Was?“, er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.
„Ueli ist mein Vater. Er hat vor fünfzehn Jahren auf der Rigi beim Schwingerfest meine Mutter ge…“
Zu mehr kam ich nicht, denn kurz darauf verlor ich mein Bewusstsein, nachdem mir Peter, Uelis Bruder, eine geklatscht hatte.

Ich wachte im Wohnzimmer der Familie Stalder auf. Eine Gruppe ernster Menschen schaute mich misstrauisch an.
Der eine war Peter und neben ihm standen zwei Jungen meines Alters mit groben Gesichtern. Die Frau, die ich für meine Großmutter hielt, saß neben ihrem Mann, einem dicken Typen mit langem, grauen Bart und einer Pfeife im Mund. Zwei dicke Frauen mit kurzen Haaren standen etwas weiter im Hintergrund.
Erst nach einer Weile sah ich, dass der alte Mann meinen Ausweis in seiner Hand hielt und kritisch anschaute.
„Du bist also Rolf.“, sagte er, „Hör mal zu, ich weiß ja nicht, wer Dir diesen Käse wegen Ueli erzählt hat. Aber ich kann Dir sagen, dass das nicht stimmt. Ueli hat keine Kinder. Nicht mal ein einziges. Und er hat aufm Schwingerfest auch ganz bestimmt nicht an einem Mädel rumgefummelt. Ueli war ein feiner Bub.“
„Aber…“
Der alte Mann hob seine Hand, als wolle er mir eine langen: „Jetzt halt aber mal die Luft an, Du frecher Bengel, ich rede jetzt hier! Wir wollen, dass Du das sein lässt und nicht einen solchen Seich über unseren Bub redest. Geh Du mal lieber wieder in Deine Stadt zurück und bleib dort. Du kannst nicht einfach hier auftauchen und unseren Jungen als Schürzenjäger bezeichnen. So was geht doch auf keine Kuhhaut. Dir müsste mal einer rechte Manieren beibringen.“, er beruhigte sich wieder ein bisschen, „Uelis Schwester fährt Dich zum Bahnhof von Goldau runter und löst Dir ein Ticket bis nach Zürich. Das zahlen wir Dir, damit Du diese Geschichte vergisst. Und jetzt kein Wort mehr über Ueli. Ich sag Dir, an der Geschichte ist nichts dran und damit hat sich’s, sonst zieh ich dann andere Saiten mit Dir auf, Bürschchen.“
Die Gruppe von Fremden löste sich nach und nach auf. Nur die jüngere, rothaarige Frau mit kräftigem Körper blieb zurück. Sie hatte rote Backen und große Augen, mit denen sie mich neugierig musterte.
„Komm.“, sagte sie schließlich streng, „Wir fahren gleich los.“
Sie führte mich zu ihrem Familienkombi und ich setzte mich vorne neben sie hin.
„Ich weiß, dass stimmt, was ich gesagt hab.“, meinte ich, als wir ein paar Minuten gefahren waren, „Ich bin mir ganz sicher. Das würde dann heißen, dass Sie meine Tante sind.“
Sie schaute mich über den Rückspiegel an.
„Du hast ein bisschen was von Ueli.“, meinte sie, „Aber das macht keinen Unterschied.“
„Wo ist mein Vater?“
„Nenn ihn nicht so. Er ist nicht mehr da.“
„Wie meinen Sie das?“
Sie schaute zu mir rüber und musterte mich intensiv.
Sie erzählte mir, dass Ueli vor drei Jahren einen tödlichen Skiunfall im Wallis gehabt hatte. Er hatte zusammen mit Freunden die Piste verlassen, leichtsinnig wie er war. Nach dieser deprimierenden Erkenntnis fuhr sie mich nicht mehr nach Goldau, sondern direkt bis nach Zürich. Ich glaube, sie wollte noch ein bisschen Zeit mit dem Letzten, was ihr von ihrem Bruder geblieben war, verbringen.
Als ich an der Strasse vor unserem Haus ausstieg, sagte sie zu mir nochmals, dass ich die Sache vergessen müsse. Es gebe keine Beweise und Uelis Familie würde mich niemals akzeptieren.
„Sei glücklich.“, sagte sie zuletzt, „Dieses Leben wär doch nichts für Dich. Guck Dich mal an, viel zu schmächtig bist Du.“, sie warf mir ein sanftes Lächeln zu und fuhr daraufhin weg.
Als ich nach oben kam, hatte Mutter Hot Dogs vorbereitet, doch ich hatte keinen Hunger.
„Hast Du ihn gefunden?“, fragte sie, als ich ins Zimmer gehen wollte.
„Er ist tot.“, sagte ich kühl.
„Tut mir leid. Ich hätte es gut gefunden, wenn Du ihn hättest kennen lernen können.“
„Scheiß drauf.“, sage ich und schlug die Tür meines Zimmers hinter mir zu.

5 Islamistenalarm!
Dass ich morgen, an meinem 28. Geburtstag in ein Hamam gehe, hat natürlich einen Grund. Und die Geschichte, die dazu geführt hat, geht ins Jahr 2006 zurück, wo sie ihren Anfang am Bahnhof Stadelhofen genommen hat.
Ich bin gerade am Kiosk gestanden und blätterte die neue Weltwoche durch.
„Haben Sie auch vor, die Zeitschrift zu bezahlen?“, schnauzte mich die Kioskbesitzerin unfreundlich an, woraufhin ich entgegnete, dass ich das eigentlich geplant habe, mich jetzt allerdings für einen anderen Kiosk entschieden hätte, und legte die Weltwoche zurück.
Ich machte dann einen Schritt vom Kiosk weg, da rannte mich auf einmal jemand von hinten um.
Als ich aufschaute, entdeckte ich den dunkelhäutigen jungen Mann mit Wollkappe auf dem Kopf, wie er Richtung Rolltreppe lief, ohne zu mir zurückzusehen.
„Hey!“, habe ich ihm hinter hergerufen.
Doch er hatte bereits die Rolltreppe erreicht und ließ sich von ihr nach oben befördern.
An jedem anderen Tag hätte ich so ein flegelhaftes Verhalten murrend akzeptiert. Aber nicht an diesem. Ich war stinke wütend und folgte dem Fremden.

„Hast Du meinem Nachbarn, Herr Klawic, wirklich gesagt, er solle sich nicht beschweren, wenn man ihn bald aus dem Land verweise?“, hatte mich meine Mutter am selben Morgen per Telefon gefragt, kurz bevor ich die Wohnung verlassen wollte.
„Ich habe ihm geantwortet, dass er Dich bestimmt falsch verstanden habe, so etwas würdest Du nicht sagen.“, war sie fortgefahren.
„Aber natürlich habe ich ihm das gesagt.“, antwortete ich.
„Wie kommst Du denn zu so was, herrje?“
„Wie wohl?“, fragte ich, „Was macht denn der gute Herr Klawic bitteschön den lieben langen Tag so? Hmm? Außer, dass er Gras an Dich verkauft, was übrigens der einzige Grund dafür ist, warum ich ihn nicht persönlich bei der Polizei anzeige. Ich will nicht, dass Du auch noch Probleme bekommst, Mutter.“
„Hör mal, Rolf, Herr Klawic ist ein wirklich netter, gutherziger Mann. Dass er keinen Job kriegt, kannst Du ihm nicht anlasten. Niemand will ihn einstellen. Er hat es mir selber erklärt.“
„Na toll, soll er sich doch mal ein wenig anstrengen. Er muss sich ja nicht so jugoslawisch benehmen, oder?“
„Er ist Bosnier, Rolf.“
„Eben. Hör zu, Gras zu verkaufen ist illegal. Alles, was er also macht, ist illegal. Er ist ein Gast in diesem Land, wir haben ihn aufgenommen, weiß der Gugger wieso. So langsam könnte er ja auch wieder freiwillig dahin zurückkehren, wo er hergekommen ist, immerhin herrscht da ja kein Krieg mehr.“
„Jetzt halt aber mal die Luft an. Er hat zwei Kinder, die hier in die Schule gehen. Seine Frau ist in diesem Krieg getötet worden!“
„Hast Du mal seine beiden sogenannten Kinder kennen gelernt? Kleinkriminelle sind das!“
„Hör mal, die haben’s nicht leicht. Und Herr Klawic weiß um die Probleme seiner beiden Söhne, man macht ihm ja schon genügend Feuer unterm Hintern. Doch die Kinder kommen immer mit so einer Wut in ihrem Bauch nach Hause, dass er nicht an sie rankommt. Er arbeitet ja mit den Behörden und allen zusammen. Er tut wirklich, was in seiner Macht steht. Aber es sind halt zwei junge Teenager, für die er zu sorgen hat, während er zur gleichen Zeit auch noch einen Job finden soll und sich mit Behörden rumschlagen muss.“
„Armer Kerl, das ist nicht unser Problem! Wenn's ihm hier ja sowieso so schlecht geht, was macht es denn aus, wenn er wieder heim muss. Dort geht es ihm dann ja wahrscheinlich auch nicht wirklich schlechter.“
Meine Mutter hat an diesem Punkt unser Gespräch zornig und ohne ein weiteres Wort beendet. Nichts macht mich wütender, als wenn jemand ein Gespräch mitten in einer Diskussion abbricht.
Kaum habe ich das Haus verlassen, bemerkte ich, dass ich viel Zeit verloren hatte. Ich musste mich also beeilen. Weil ich mir noch die Weltwoche kaufen wollte, stellte ich mich beim Kiosk in die Schlange. Gerade als ich an die Reihe kommen sollte, fuhr mein Tram vor. Die Zeit würde gerade noch reichen, um die Weltwoche zu zahlen und dann aufs Tram zu rennen. Doch genau in dem Moment, wo ich der Kioskfrau das Heft geben wollte, drängte sich ein rücksichtsloser Rollstuhlfahrer vor mich hin und warf ein paar Süßigkeiten samt seiner Geldbüchse hin. Er wies auf seine Finger, die steif wie Metall waren und bat die Kioskfrau für ihn das Geld aus der Büchse zu nehmen.
„Entschuldigung.“, meldete ich mich freundlich, „Ich war eigentlich an der Reihe.“
„Ja, sagen Sie mal!“, fuhr mich die Kioskfrau an, „Sie können doch einen Moment lang warten.“
„Ja, natürlich.“, meinte ich, „Aber da kommt mein Tram und ich bin spät dran.“
„Ist das etwa seine Schuld?“
So legte ich die Weltwoche zurück und rannte auf mein Tram, welches mir zu guter letzt vor der Nase wegfuhr.

Doch zurück zu dem Fremden, der mich einfach umgerannt hat. Als ich ihm aus dem Bahnhof Stadelhofen raus folgte, war es inzwischen Nachmittag geworden.
„Hey, Sie da!“, rief ich ihm neuerlich hinterher, doch der Mann kämpfte sich durch die Fußgängerzone, als werde er von bösen Geistern gejagt.
Unten am See rannte er zum Parkplatz und stieg in einen grünen VW-Käfer ein. Dabei konnte ich sein Gesicht sehen. Er trug ein Kinnbärtchen und war nicht älter als ich.
Schnell rannte ich auf den Wagen zu, um ihn am Wegfahren zu hindern. Doch kaum hatte ich ihn erreicht, ging der Motor an und er fuhr mich schier über den Haufen. Das Nummernschild war so verschmutzt, dass ich es nicht lesen konnte, darum machte es keinen Sinn, ihn bei der Polizei zu melden.

Müde kehrte ich zum Bahnhof zurück. Auf dem Weg klingelte mein Handy. Es war Mutter.
„Ich hab jetzt Herr Klawic gesagt, dass er Dich doch richtig verstanden habe und habe mich für Dein Benehmen entschuldigt. Ich erwarte, dass Du das ebenfalls machst.“
„Ich soll mich entschuldigen?“
„Natürlich. Herr Klawic ist von Deiner Bemerkung sehr verletzt worden. Er hat heute schier geweint.“
„Und was soll das jetzt? Was ich sagte, meine ich auch so.“
„Du…Du bist wirklich unverbesserlich. Ich kenne Herr Klawic seit Jahren. Ich mag ihn. Er ist immer sehr freundlich und hilfsbereit gewesen. Er ist einfach ein feiner Mann. Er engagiert sich im Quartier und unternimmt, was er kann, damit seine Kinder sich bessern. Jetzt kommst Du einfach so daher und machst ihn zur Schnecke!“
„Mutter, ich bitte Dich, Du benimmst Dich ja wie all die anderen Sozis. Immer auf diese betroffene Mitleidstour kommen. Die Welt funktioniert so nicht. Es gibt halt Regeln, an die sich alle halten müssen. Er bricht diese Regeln. Andere Menschen suchen auch einen Platz in der Schweiz und die brauchen wirklich unsere Hilfe.“
Wieder hatte Mutter aufgehängt und wieder machte es mich rasend.
Ein plötzliches Durcheinander beim Bahnhof Stadelhofen lenkte mich allerdings von meiner Wut ab.

„Was ist denn los?“, fragte ich einen der rumstehenden Passanten.
„Man hat da drüben eine herrenlose Tasche gefunden. Das Gleis ist gesperrt worden. ich glaube, die meinen, dass da ne Bombe oder so was drin ist.“, erklärte mir ein Mann mittleren Alters.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Der Neger war’s! Ich lief zu einem Polizisten, der den Durchgang zum gesperrten Gleis bewachte.
„Herr Polizist.“, sagte ich aufgeregt.
„Ja?“, fragte er genervt.
„Ich weiß, wer die Tasche da abgestellt hat. So ein Schwarzer, bestimmt ein Islamist. Der hat mich vorhin da unten schier über den Haufen gerannt, als er überstürzt aus dem Bahnhof gestürmt ist.“
„Ein Schwarzer? Stand etwa auf seinem Hemd, „Ich bin ein Islamist“?“, der Polizist schaute mich hämisch an.
„Sie machen sich über mich lustig. Hören Sie, ich hab nach ihm gerufen und er ist weiter gerannt. Am Schluss hat er mich mit seinem Auto schier überfahren.“
„Sah er etwa wie Osama Bin Laden aus?“, er lachte, „Jetzt hören Sie mal. Wissen Sie eigentlich, wie viele Islamisten mir in den letzten paar Minuten bereits beschrieben worden sind. Jeder Zweite hier will einen gesehen haben. Ich sag ihnen jetzt mal was, wir müssen hier zwar alles vorschriftsgemäß regeln, aber trotzdem bleibt das nichts anderes als irgendeine Sporttasche, die irgendwer hier vergessen hat. Oder vielleicht haben ein paar Jungen sie extra liegen gelassen, um zu schauen, was passiert. Was weiß ich?“
„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!“, empörte ich mich.
„Und ob. Jetzt machen Sie, dass Sie hier wegkommen. Hopp, hopp!“

Ich blieb am Stadelhofen und beobachtete, wie das Sprengstoffkommando eintraf und sich an die Arbeit machte. Die Spannung war bei allen Anwesenden zum Greifen spürbar. Würde die Schweiz nun auch noch vom internationalen Terrorismus eingeholt werden? Es war falsch zu glauben, dass uns nichts passieren könnte. Die Linken bauten auf dieser falschen Sicherheit ihre Politik auf. Kämpften für die Abschaffung der Armee und plädierten darauf, dass in der Schweiz keinerlei Terrorgefahr herrsche. Und jetzt? Waren jetzt nicht doch plötzlich alle froh darüber, dass wir gut ausgebildete Bombenentschärfer hatten? Ab heute würde alles anders werden. Ich stand inmitten der Menschenmenge und spürte, dass ich im Begriff war, Zeuge vom Einbruch eines neuen Zeitalters zu werden. Die Schweiz würde ab heute mitten drin, im schmutzigen Krieg gegen den Terrorismus, stecken. Es wurde Zeit, dass wir endlich realisierten, um was es geht, dass auch vor uns kein Halt gemacht wurde. Wir hatte ja all diese Islamisten in unser Land gelassen und hier für sie Moscheen gebaut, sie beim Ausüben ihrer mörderischen Religion sogar noch unterstützt und gesagt: „Ja, macht es Euch bequem bei uns. Breitet Euch ruhig aus und verbündet Euch.“, das haben wir jetzt davon, dachte ich.
Man hätte es doch kommen sehen müssen, spätestens nach der Geschichte mit den Karikaturen. Die Leute reagieren einfach auf alles mit Gewalt, aber niemand wollte in der Schweiz was davon hören, als die SVP die Wahrheit über den Islam gesagt hat. Wir haben es nämlich vorausgesehen. Rassismus wurde uns immer vorgeworfen. Diskriminierung. Und jetzt, dachte ich, was sagt Ihr jetzt?
Auf einmal hatten wir so eine Bombe auf unserem Grund und Boden. Würden es unsere tapferen Spezialisten schaffen, die Bombe zu entschärfen, bevor sie hochging?
Ich erinnerte mich an die letzten Folgen der Fernsehsendung 24, die ich gesehen hatte. Obwohl ich wusste, dass ich womöglich zu nahe stand und mich möglicherweise mitten im Explosionsradius der Bombe befand, konnte ich mich nicht von der Stelle wegbewegen. Es war die Faszination eines geschichtlichen Augenblicks von weltbewegender Tragik, die mich fest umschlungen hatte.
Das Flüstern der Passanten spiegelte die Anspannung aller wieder.
Ich hatte den Attentäter gesehen und ich habe alles in meiner Macht stehende versucht, um die Polizei auf ihn aufmerksam zu machen. Ich warf dem Beamten, der mich weggeschickt hatte, einen Blick zu. Er würde schon sehen, was er von seinem unprofessionellen Verhalten hatte. Für das, was heute passieren wird, trägt er die Mitverantwortung, dachte ich.
Die Spannung stieg von Sekunde zu Sekunde weiter an. Es war, als befände ich mich mitten drin, in einem dieser amerikanischen Actionthriller. Ich sah schon die Nachrichten und die Zeitungsmeldungen vor meinem geistigen Auge. Falls ich es überlebte, würde ich dutzendfach interviewt werden. Der Polizist schaute jetzt ebenfalls zu mir. Er lächelte überlegen. In meiner Vorstellung malte ich mir aus, was man mit ihm wohl machen würde, wenn sein Fehlverhalten ans Licht käme. Dafür würde ich schon sorgen.
„Er hätte es womöglich verhindern können.“, würde es heißen.
Und dann auf einmal wurde alles um mich herum ruhig, als die Lautsprecher zu pfeifen begannen. Eine Stimme setzte ein und die Ansage war wie ein Schwertstich in mein Herz. Der Fahrtbetrieb werde wieder aufgenommen, hieß es, die verdächtige Tasche sei leer gewesen und die Bombendrohung habe sich damit als Fehlalarm herausgestellt.

6 Die Sache mit dem Hamam
Eines war mir sonnenklar, egal, ob sich nun in der Tasche eine Bombe befunden hat oder nicht. Deponiert wurde sie von dem Moslem, den ich gesehen habe. Irgendetwas ist an diesem Mann faul. Möglicherweise sollte diese Aktion nur so was wie ein Test sein, die Hauptrobe vor der eigentlichen Vorstellung.
Ich malte mir einige mögliche Szenarien aus. Bildete mir eine Theorie nach der anderen, die alles erklären sollten. Doch schließlich hatte ich noch anderes zu tun, als einem Phantom nachzujagen. Da meine Versuche, die Polizei auf den verdächtigen Schwarzen aufmerksam zu machen, auch nach mehreren weiteren Anläufen, nicht fruchteten, entschied ich mich dafür, die Sache sein zu lassen.
Sogar meine Parteikollegen lächelten schon über mich und meine Terrortheorien, die ich leichtgläubig mit ihnen geteilt hatte.

Ich hätte die Geschichte also ruhen lassen, wäre nicht bald darauf etwas ganz und gar unerwartetes passiert. Knapp zwei Wochen nach dem Vorfall begegnete ich an einem Dienstag dem verdächtigen Mohr wieder.
Ich hatte am Morgen davor meine Mutter besucht und bei ihr ein Stück Erdbeertorte gegessen. Ich hätte eigentlich ahnen müssen, dass ihre Einladung mit einem Hintergedanken verbunden war und tatsächlich stellte sich heraus, dass sie mich nur herbeordert hatte, um mir ihren Neuen vorzustellen. Der Mann an ihrer Seite hieß ab jenem Tag Pietro Klawic.
„Wir sind uns näher gekommen, nachdem…, nun…nachdem ich mich für Dich habe entschuldigen müssen. Es kam ganz überraschend…“, erklärte mir meine Mutter, während mich Herr Klawic verlegen anlächelte.
Zum Glück hielt diese Beziehung nur drei Wochen. Danach stellte meine Mutter fest, dass sie es mit Klawics Kindern nicht länger aushalten konnte.
Doch zurück zu jenem Dienstag. Ich würgte den Kuchen, so schnell ich konnte, hinunter und verließ die beiden frisch Verliebten mit dem Vorwand, einen dringenden Termin zu haben.

Die frische Luft tat mir gut und ich entschloss mich, ein paar Meter zu Fuß zu laufen.
In Tat und Wahrheit hatte ich an diesem Morgen nicht mehr viel zu tun. Erst am frühen Nachmittag musste ich in die Migros an der Sihl. Neben meinem Studium arbeite ich nämlich als sogenannter Mistery-Shopper. Das bedeutet nichts anderes, als dass ich Geld dafür bekomme, shoppen zu gehen.
Also eigentlich geht es genaugenommen darum, dass ich einem bestimmten Verkäufer in einem bestimmten Geschäft vormache, ich täte mich für ein spezielles Produkt interessieren. Meine Aufgabe ist es, den Verkäufer oder die Verkäuferin möglichst lange in ein Verkaufsgespräch zu verwickeln, um zu testen wie kundenfreundlich und professionell er oder sie sich verhält und mich fachmännisch berät.
An jenem Dienstag sollte ich eine ganze Liste von Angestellten in den Geschäften der Migrosfilliale an der Sihl abarbeiten.
Der Job des Mysterieshoppers ist gar nicht so einfach, wie es sich im ersten Moment anhören mag. Ein Misteryshopper muss über viel Kreativität und schauspielerisches Talent verfügen und eine schnelle Auffassungsgabe besitzen.
Ich kann ohne falsche Eitelkeit von mir behaupten, dass ich einer der führenden Misteryshopper der Schweiz bin. Es mag sich vielleicht überheblich anhören, doch mein Ruf eilt mir voraus. Nach meinen ersten erfolgreich bestrittenen Aufträgen in Fachgeschäften von Fust wurde ich an verschiedene weitere Auftraggeber weiterempfohlen und bekam neue Angebote.
Das Geheimnis meines Erfolges liegt in meiner Technik. Ich lege besonders viel Wert darauf, dass ich gut vorbereitet bin. Ich erarbeite mir nicht nur ein Grundwissen über das mir vorliegende Geschäft, sondern auch über die einzelnen Artikel, die verkauft werden. In Gedanken lege ich mir bereits eine Art Drehbuch fest. Ich erfinde mir eine fiktive Person und eine dazu passende Biografie. Hinter meinem Anliegen, mit dem ich an den Verkäufer herantrete, steht jeweils eine fiktive Geschichte, die ich mir im vorneherein genau ausgearbeitet habe. Geht es um ein Möbelgeschäft, weiß ich genau um die fiktive Wohnung, für die ich meinen Einkauf tätige. Die Problemstellungen, die sich ergeben, habe ich mir im vorneherein zurechtgelegt, damit ich den Verkäufer damit konfrontieren kann und er oder sie richtig gefordert wird. Nur so kann man erkennen, wie gut die Verkaufsperson wirklich ist. Meist lege ich mir sogar eine spezielle Macke zu, mit der ich mein Gegenüber auf die Probe stelle. Bleibt die Person ruhig, wenn ich unentwegt zucke und blinzle, oder beginnt mein Gegenüber zu gaffen und fällt aus dem Konzept.
Ein weiteres Geheimnis meines Erfolges als Misteryshopper besteht in der Nacharbeit. Denn jeder Misteryshopper muss anschließend an seine verübte Arbeit, die Testpersonen schriftlich bewerten. Hier geht es darum, nicht nur irgendeine Liste abzuarbeiten, sondern mit Herz und Seele einen differenzierten Bericht zu erstellen. Ich gehe soweit, dass ich inzwischen auf die Fragebögen, die mir meine Auftraggeber zur Verfügung stellen, ganz verzichte und auf meine von mir selbst erstellen Formulare zur Bewertung der Testpersonen und ihres Verhaltens während der Testphase zurückgreife. Höflichkeit, Fachkenntnis, rhetorische Geschicklichkeit und Auftreten sind die wichtigsten Merkmale, nach denen ich urteile. Mein Markenzeichen ist die genaue Differenzierung und absolute Offenheit. Niemand wird bevorzugt oder benachteiligt. Jede Testperson wird von mir nach bestem Wissen und Gewissen bewertet.
Ich habe inzwischen einige andere Misteryshopper kennen gelernt, die diese Arbeit nur als irgendeinen x-beliebigen Studentenjob betrachten. Ich allerdings bin stolz auf meinen Beruf als Misteryshopper und übe ihn dementsprechend aus. Daher rührt die Qualität meiner Arbeit und darauf ist es zurückzuführen, dass sich Unternehmer immer wieder direkt an mich wenden, wenn sie einen Auftrag zu vergeben haben.

An jenem Dienstagnachmittag plante ich den Test von fünf Verkaufspersonen. Ein Verkäufer in der Elektronikabteilung, eine Verkäuferin der Exlibrisfiliale in der zweiten Etage, einen Verkäufer im Mode- und Handwerksabteil und einen weiteren Arbeiter im Kundendienst. Mein letztes Opfer arbeitete beim Schlüssel- und Schuhmacherdienst.
Der Mann in der Elektronikabteilung war 49ig und machte seine Sache sehr gut. Ich interessierte mich für eine Musikanlage und hatte mir eine Reihe sehr schwieriger Fragen zurechtgelegt. Die Verkäuferin in der Exlibrisfiliale entpuppte sich allerdings als absolute Enttäuschung. Als ich sie im ersten Moment gesehen habe, machte sie einen sehr guten Eindruck auf mich und ich freute mich auf das Gespräch mit ihr. Doch schon kurz darauf stellte ich fest, dass sie keine Ahnung von ihrer Ware hatte.
Nach dieser Enttäuschung ging es weiter zu einem Asiaten im Handwerksabteil der Migros. Unfreundlich und gestresst versuchte er mich mit billigen Antworten abzuspeisen und zeigte keine Geduld und noch weniger Verständnis für meine Anliegen. Im Gegensatz dazu war der Herr am Kundendienstschalter eine echte Wohltat. Souverän gab er mir Auskunft und nahm Stellung gegenüber meinen fiktiven Reklamationen. Zum Schluss spielte ich ihm einen plötzlichen Schwächeanfall vor, worauf er hilfsbereit und sensibel reagierte, was ihm eine Bestnote in der späteren Auswertung einbrachte.
Doch Asram Meheili vom Schlüsseldienst sollte diesen Misteryshoppingtag zu einem außergewöhnlichen Erlebnis machen. Guten Gewissens kann ich behaupten, dass er der erste und bis dato einzige war, der mich aus dem Konzept brachte und das verständlicherweise.
Denn Asram Meheili entpuppte sich als niemanden Geringeres als den verdächtigen Muslim vom Bahnhof Stadelhofen.

Meheili war 32 Jahre alt und seine Haut wirkte im Licht des Ladens weit weniger dunkel, als ich sie in Erinnerung hatte. Asram arbeitete seit einem knappen Jahr beim Schlüsseldienst und war vorher längere Zeit arbeitslos gewesen.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, begrüßte er mich mit schwer ignorierbarem Akzent.
Im ersten Moment konnte ich ihm nicht antworten und starrte ihn ganz einfach unverhohlen an.
„Mein Herr, stimmt etwas nicht?“, fragte er in einem leicht fürsorglichen Ton, der mir später im Nachhinein betrachtet ganz besonders verdächtig vorkam.
„Nein, ähm, ich…“, meine Stimme setzte aus, ich bekam tatsächlich eine Panikattacke. Einen Moment lang fürchtete ich, er täte mich wiedererkennen und käme zum Schluss, dass er mich aus dem Weg räumen müsse.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte er.
Langsam beruhigte ich mich wieder und spulte mein übliches Programm ab.
Mein Kragen war schweißnass, als ich das Gebäude ein paar Minuten später wieder verließ.

Ich kannte jetzt also endlich seinen Namen. Doch was würde mir das schon bringen? Nur weil ich einen Namen kannte, würde sich die Polizei nicht genötigt fühlen, etwas zu unternehmen. Ich musste mehr über diesen Mann in Erfahrung bringen. Womöglich würde ich Beweise finden, die ihn überführten. Womöglich würde ich so ein blutiges Attentat verhindern, das Asram auf Schweizer Boden plante.
Als Asram um 19 Uhr jenes Abends Feierabend machte und das Kaufhaus verließ, stand ich auf der Strasse gegenüber und nahm seine Verfolgung auf. Er führte mich in den Kreis vier zu einem heruntergekommen Gebäude, in dem er verschwand. Wie ich am Briefkasten lesen konnte, bewohnte er hier eine der Wohnungen.
Eine halbe Stunde nach seinem Verschwinden kehrte er wieder auf die Strasse zurück und ging die Langstrasse hinauf. Ich lief ihm nach und beobachtete ihn, wie er sich in ein türkisches Lokal setzte und einen Kebab und ein Wasser bestellte. Ich stand derweil auf der anderen Straßenseite und schaute von hier aus zu, wie er mit dem Mann hinter der Theke redete. Geistesgegenwärtig schoss ich mit meinem Fotohandy ein Bild von den beiden.
Kurz danach fuhr ich zu mir nach Hause, weil ich ja noch die Berichte über meine Misteryshoppingtour aufsetzen musste.

Am darauffolgenden Tag ließ ich die Uni sausen und setzte mich stattdessen wieder an Asrams Fersen. Den Morgen über verbrachte dieser bei sich zu Hause, während ich im Inder gegenüber saß. Erst um elf Uhr kam Asram aus seiner Wohnung und ging direkt zur Arbeit.
Erst am Abend wurde es interessanter, als er mit dem Tram zum Islamzentrum fuhr. Hier unterrichtete er, wie ich später erfuhr, eine Gruppe von Kindern im Schulalter in der Koranlehre.
An diesem Tag schoss ich gleich mehrere Fotos.
Die nächste Zeit verbrachte ich fast ausschließlich mit der Beschattung des jungen Muslimen. Ich stellte fest, dass er sehr gerne Türkisch aß. Ich glaube, die meiste Zeit, der folgenden Tage, habe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem kleineren türkischen Imbiss, dem McTürkisch, verbracht.
In diesem kleinen Laden lernte ich Zora kennen. Zora ist Albanerin und arbeitete hier als Serviererin. Zora schloss mit jedem Gast, der den kleinen Imbiss besuchte, gleich beim ersten Mal Perdu. So auch bei mir.
„Was möchtest Du?“, fragte sie, als ich mich zum ersten Mal an den Tisch am Fenster setzte, welcher in Zukunft mein Stammplatz werden sollte.
„Ein Feldschlösschen, bitte.“
„Kommt sofort.“
Im McTürkisch waren selten mehr als zwei oder drei Gäste zur gleichen Zeit anwesend. Nach drei Tagen kannte ich dann auch schon alle beim Namen. Als mir Zora mein erstes Feldschlösschen brachte, setzte sie sich mir gegenüber, schlug die Beine übereinander und stöhnte laut.
„Sag mal, wie heißt denn Du?“; fragte sie mich.
Und weil ich damit rechnen musste, noch ein paar Mal hier Gast zu sein und nicht negativ auffallen wollte, nannte ich ihr freundlich meinen Namen.
„Rolf. So, so.“, sagte sie, „Bist Du neu hier hergezogen und hast Du keine Freunde?“
„Warum?“
„Na ja. Ich würd mich hier nicht reinsetzen, wenn ich Freunde hätte. Guck Dich mal um, es gibt ein paar wirklich schönere Plätze als diesen hier.“, sagte sie.
„Darfst Du so was überhaupt sagen?“
„Klar, solange es der Chef nicht hört.“
Und genau das meine ich! Das ist die Arbeitseinstellung der Ausländer. Solange der Chef nichts merkt, mache ich, was ich will, ich hätte an die Decke gehen können. Doch stattdessen lächelte ich freundlich und versuchte mich wieder auf Asram gegenüber zu konzentrieren.

Am Freitag eine Woche darauf begleitete ich Asram das erste Mal bis vor das Hamam. Dann wartete ich auf der Strasse, solange bis er wieder rauskam und folgte ihm bis in den Abend hinein.
Wie ich feststellte, ging er jeden Freitag dorthin.
Und nach zwei Wochen der Beschattung entschloss ich mich dann plötzlich, dass es Zeit wäre, dass ich auch ins Hamam gehe. Womöglich traf er sich dort drin mit Komplizen und Mittelsmännern. Darum, nur aus diesem einen höhergestellten Grund warf ich all meine Bedenken über Bord und entschied mich, zum ersten Mal, an meinem Geburtstag, ein Hamam zu betreten.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

bin gespannt, wie's weitergeht. LG Dublin

anonym (19.08.2008)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Fischer geht baden - Inhaltsangabe  
Fischer geht baden (Teil 4)  
Fischer geht baden (Teil 3)  
Fischer geht baden Teil1  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De