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Fischer geht baden (Teil 4)

Romane/Serien · Amüsantes/Satirisches
© Mork
10 Im Krieg und in der Liebe…
„Gustav und ich haben eine dreiviertel Stunde lang umsonst auf Dich gewartet. Die ganze Zeit habe ich zu Gustav gesagt, Rolf kommt schon noch, es muss ihm was dazwischen gekommen sein.
Aber Du hast uns einfach versetzt!“, reklamiert meine Mutter am Telefon, als ich sie um halb elf von zu Hause aus anrufe.
„Mutter, mir ist ja auch was dazwischen gekommen.“, wiederhole ich meine Entschuldigung, „Ich bin eingeschlafen und es tut mir furchtbar leid.“
„Eingeschlafen, einfach so? Ja? Aha. Am Nachmittag ins Hamam mit einem Türken und dann eingeschlafen. Deine Geschichten könnten mich so langsam dazu verleiten, zu glauben, Du willst nicht mit mir essen gehen. Ist es etwa wegen Gustav? Ist es so schlimm für Dich, dass ich verliebt bin, dass ich einen Mann gefunden habe, mit dem zusammen ich mich wohl fühle?“
„Nein, Mutter, damit hat das alles nichts zu tun. Und es sind keine Geschichten, ich bin tatsächlich im Hamam gewesen und bin versehentlich eingeschlafen. Holen wir das Essen doch nach, Mutter, bitte.“
„Nachholen, aha. Einen Geburtstag kann man nicht einfach nachholen, Rolf. Nicht morgen und nicht nächste Woche. Erst in einem Jahr hast Du wieder Geburtstag, so ist es halt. Ich muss es wissen, auch wenn Du Dich nicht mehr erinnern kannst, ich war bei Deiner Geburt rein zufällig anwesend.“
„Bitte, Mutter, was soll ich denn machen, außer mich entschuldigen? Ich wäre wirklich gerne gekommen. Ich hab mich schon richtig gefreut.“, ich versuche aufrichtig zu klingen.
Auf einmal höre ich sie schluchzen, ich wünsche mir einen plötzlichen Stromausfall herbei.
„Mutter, es tut mir leid.“, wiederhole ich, doch sie antwortet einzig mit neuerlichem Schluchzen.
„Ich wünsche Dir alles Gute zum Geburtstag.“, drückt sie schließlich unter Tränen hervor.
„Danke, Mutter.“, antworte ich kleinlaut und wir beenden das Gespräch.

Mit nur wenigen Sätzen hat es meine Mutter fertig gebracht, dass ich mich schlecht fühle. Ich komme mir schuldig und gemein vor. Dabei habe ich sie ja wirklich keineswegs absichtlich versetzt. Wer konnte schon ahnen, dass ein Hamam eine so durchschlagende Wirkung auf mich hätte?
Es ist die Liebe, die einen verletzlich macht, so wie es damals auch mit Sabrina der Fall gewesen ist. Meine Liebe zu ihr war zu meiner größten Schwäche geworden.

Das Kind war abgetrieben und es schien so, als ob Roland keinen Verdacht hege. Unsere nächsten Treffen verliefen so harmonisch wie eh und je. Das, was sich verändert zu haben schien, war die Art, wie mich Sabrina neuerdings ansah. Irgendwie war da was Vertrautes in ihrem Blick, als bestünde seit dem Vorfall zwischen uns ein unsichtbares Band, das die Beziehung zwischen uns zu was Außergewöhnlichem machte.
Roland fiel das alles nicht auf und ich sprach das Thema gegenüber Sabrina nie mehr an.
Ich hätte nicht gewusst, wie ich es tun sollte. Und irgendwie fühlte ich mich sicherer, solange es unausgesprochen blieb.
Die Treffen mit Sabrina zu zweit häuften sich in nächster Zeit. Sie schien mir immer mehr zu vertrauen und erzählte mir von Gefühlen und Gedanken, die sie sonst niemandem anvertraute.
Insgeheim hoffte ich hie und da, zwischen mir und ihr bestünde doch mehr als nur eine gute Freundschaft. Ich stellte mir vor, dass sie eines Tages erkennen würde, dass das, was sie mit mir teilte, weit mehr wert war, als die Beziehung zu Roland. Doch jedes Mal, wenn ich die beiden wieder zusammen sah, wenn sie ihm um den Hals sprang, sie sich küssten oder einander im Arm hielten, schlug ich mit voller Härte wieder auf dem Boden der Realität auf.

Im Juni desselben Jahres fand meine Rekrutierung in Rüti statt. Ich war schon ein paar Tage davor sehr nervös und hatte bereits Wochen zuvor mit Roland ein intensives Training begonnen, damit ich mich für eine gute Position in der Armee würde bewerben können.
„Die haben genug Leute zur Auswahl. Du musst schon was zeigen, um ne hohe Position zu kriegen.“, erklärte er immer wieder und in diesem Sinn begann ich mit einem Ausdauer- und Krafttraining.

„Du solltest lieber Zivildienst leisten.“, sagte meine Mutter, „In der Armee vergeudest Du doch nur Deine Zeit, Rolf.“
„Etwas für sein Land zu tun, ist also in Deinen Augen reine Zeitverschwendung?“, fragte ich sie.
„Ach was. Im Militär tust Du doch nichts für Dein Land. Außer, dass Du mit Gewehren in die Luft schießt und überteuerte Geräte bedienst, die nie ernsthaft zum Einsatz kommen werden. Weißt Du eigentlich, wie viel Geld wir für diesen Seich ausgeben? Für Geräte, Flugzeuge und Helikopter, die nie gebraucht werden? Dafür wird bei Schulen und Spitälern gespart, was das Zeug hält.“
„Natürlich kennst Du Dich da voll aus, Mutter. Die Armee ist ganz gewiss kein Seich. Im Gegenteil, es kommt noch die Zeit, da wirst Du glücklich sein, dass wir eine gutfunktionierende Armee haben. Wahrscheinlich kommt dieser Tag noch eher wir alle glauben.“
„Ach komm, Rolf, das ist doch lachhaft. Du kannst jetzt und hier was tun. Hilf lieber Menschen, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind. Alten Menschen, Behinderten oder hilf dabei, was für die Natur zu tun. Das sind alles Aufgaben, die ganz dringend, jetzt und hier, getan werden müssen. Und Du würdest dabei viel lernen.“
Soviel zu Mutters Verständnis für das Militär. Heute, wo wir kurz vor einem Bürgerkrieg, ausgelöst durch ausländische Terroristen, stehen, wird sie bald anders reden.

Auf alle Fälle bereitete ich mich nach bestem Wissen und Gewissen für die Rekrutierung in Rüti vor.
Als der Tag dann endlich gekommen war, sollte ich allerdings bitter enttäuscht werden. Ich kam ja nicht mal dazu, meine Fitness unter Beweis zu stellen, weil einer der Ärzte, vor denen wir nackt posieren mussten, behauptete, ich hätte ein ernstzunehmendes Rückenproblem.
„Ein Rückenproblem?“, fragte ich.
„Ja, hier.“, er drückte auf eine Stelle unterhalb des rechten Schulterblattes und ein schrecklicher Schmerz jagte durch meinen ganzen Körper hindurch.
„Und Ihr Becken ist schräg.“, sagte er.
„Mein Becken? Hören Sie mal, mit mir ist alles…“
„Wann sind Sie zum letzten Mal beim Arzt gewesen?“
Die anderen drei anwesenden Ärzte saßen an einem Tisch vor uns. Der Mann, der mir die Fragen stellte, war der Jüngste von ihnen. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig ein. Er war bestimmt 1.90 groß und wirkte sehr sportlich. Sein Gesicht war schier rechteckig. Die Haare hatte er kurz geschnitten, so dass die eckigen Konturen seines Kopfes noch stärker zur Geltung kamen. Nach seiner Nase und seinem Mund zu urteilen war er kein reinrassiger Schweizer.
Er sagte:
„Wissen Sie was? Ich schlage vor, Sie gehen nach Hause, lassen einen ärztlichen Check machen und kommen dann nächstes Jahr wieder.“
„Aber… Aber ich wollte doch diesen Sommer die Rekrutenschule machen.“
„Ja, nun, das geht so nicht. Wir können nicht einfach jeden nehmen.“
„Sie meinen, Sie haben eh schon zu viele Rekruten und mustern mich darum aus.“
„Natürlich nicht. Was für ein Unsinn. Wer tauglich ist, hat Dienst zu tun. Aber bei Ihnen bezweifle die Tauglichkeit sehr.“
„Aber natürlich bin ich diensttauglich!“, behaarte ich vehement, „ich kann problemlos 45 Minuten am Stück rennen und mache Krafttraining, sehen Sie.“, ich spannte meinen Bizeps an.
„Sehen Sie.“, forderte ich die Ärzte auf, „Sie können gerne auch anfassen. Hart wie Stahl.“
„Das ist nicht nötig.“, antwortete der Doktor, „Es geht ja nicht um Ihren Bizeps, junger Mann, sondern um Ihren Rücken.“
„Ich hab noch nie Probleme mit meinem Rücken gehabt. Nie.“
„Aber Sie werden welche bekommen. Denken Sie, es bringt irgendwem was, wenn Sie drei Wochen nach Start der RS wieder nach Hause müssen, weil Ihr Rücken kaputt ist.“
„Aber ich bin wirklich in bester Verfassung!“, rief ich empört.
„Jetzt hören Sie mal.“, mischte sich nun der Älteste der versammelten Ärzteschaft ein und setzte seine Lesebrille ab, „Wenn Sie mich fragen, gibt es hier gar nichts zu diskutieren.“, er stand auf und kam auf mich zu. Er warf einen Blick auf meinen Rücken.
„So! Ein eindeutiger Fall. Sie gehen nach Hause. Da müssen wir gar nicht lange drum herumreden. Sie sind untauglich. Punkt und Basta.“
„Nein!“, sagte ich und drehte mich zu ihm um, „Ich bin nicht untauglich. Ich bin achtzehn Jahre alt, gesund und bei bester körperlicher Verfassung. Sie können nicht einfach auf mich verzichten. Ich habe eine große Militärkarriere im Sinn. Sie brauchen Männer wie mich. Ich will diesem Land nach bestem Wissen und…“
„Jetzt ist es aber gut!“, ich verstummte abrupt, „Das hier ist weder ein Zirkus noch ein Wunschkonzert. Wenn Sie noch lange so weiter machen, lasse ich Sie untauglich wegen psychischen Problemen schreiben, dann können Sie sich als Psycho ersten Grades ansehen!“

Mit hängendem Kopf verließ ich die Arztvisite des Grauens. Jetzt war ich offiziell dienstuntauglich. Nicht mal der Zivildienst stand mir mehr offen.

„Die haben Dich aufgrund Deines Rückens für untauglich erklärt?“, fragte Roland entrüstet, nachdem ich ihm davon erzählt hatte, „Was ist denn mit dem?“
„Das ist es ja.“, klagte ich, „Der ist ganz in Ordnung.“
Roland lief musternd um mich herum.
„Na ja.“, sagte er nachdenklich, „Ein wenig schrägt stehst Du ja schon in der Gegend rum.“
„Na und?“
„Ich weiß nicht. Ich meine, das sind ja Spezialisten.“
„Aber Du hast mich doch erlebt! Wir haben zusammen trainiert! Hattest Du etwa das Gefühl, ich wäre untauglich?“
Roland stellte sich vor mir hin und klopfte mir auf die Schultern.
„Ganz und gar nicht, Rolf. Das ist ein echtes Problem.“, er seufzte, „Es macht sich nicht gut im bürgerlichen Lager, nicht gedient zu haben.“
„Aber…“
„Warte. Ich kenne da jemanden. Lass mich mal machen. Vielleicht kann ich ja was in die Gänge bringen.“

Das konnte Roland natürlich nicht. Ich war und blieb untauglich. Wie sich herausstellte, war auch mein Hausarzt der festen Überzeugung, dass ich im Militärdienst nichts zu suchen habe.
Doch die Angst, welche Roland in mir geschürt hatte, war umsonst. Meine Karriere in der SVP nahm von meiner Ausmusterung keinen Schaden. Um genau zu sein, hat nie jemand überhaupt nachgefragt.
Roland und ich entwickelten uns im Laufe der nächsten Monate zu einem politischen Dreamteam.
Gemeinsam setzten wir uns für allerlei Vorlagen ein, organisierten Projekte und machten viel Wählerpropaganda. Schnell war man von unserem Engagement in der ganzen Partei begeistert.
„Ach die beiden Senkrechtstarter sind mal wieder unterwegs!“, pflegte man zu sagen, wenn wir wieder mal ne Initiative ansteuerten.
Um ganz nach oben zu kommen, musste man sich natürlich anstrengen und wir beide wollten gemeinsam bis an die Spitze.

Im Winter 2000 kam es zu einem merkwürdigen Vorfall, als plötzlich mitten in der Nacht Steine gegen das Fenster meines Zimmers prallten und mich aus dem Schlaf rissen.
Ich öffnete das Fenster und anstatt ein paar Ausländerkinder, wie ich es erwartet hatte, stand unten auf der Strasse Sabrina.
Ich verließ mein Zimmer rasch und rannte die Treppe runter.
Meine Mutter war männertechnisch wieder zu ihren Anfängen zurückgekehrt und teilte ihr Bett zu der Zeit mit einem Italiener. Alfonso sprach zwar kein einziges Wort deutsch, doch er war, wie meine Mutter betonte, eine Granate im Bett.
Auch in jener Nacht, als ich an ihrem Zimmer vorbei kam, konnte ich das Quietschen der Bettfedern gut hören.

„Kann ich heute Nacht bei Dir schlafen?“, fragte mich Sabrina, als ich unten ankam.
„Natürlich.“, sagte ich, „Aber, was…“
Schon war sie an mir vorbei ins Haus gegangen und lief die Treppen hoch. Ich rannte ihr nach und überholte sie. Vor dem Zimmer meiner Mutter blieb sie kurz stehen und horchte.
„Meine Mutter und Alfonso.“, sagte ich und hoffte, es würde ihr ein Lächeln abringen, doch stattdessen, guckte sie mich an und Tränen rannen ihr über die Wange.
Als wir mein Zimmer erreicht hatten, sagte ich:
„Schlaf Du ruhig auf dem Bett und ich gehe runter und penne auf dem Sofa. Ich werde das Bett nur noch kurz frisch beziehen.“
„Nicht nötig.“, sagte sie und setzte sich auf die Matratze. Sie klopfte mit der Handfläche neben sich aufs Bett. Ich setzte mich hin und unerwarteter Weise legte sie ihren Kopf in meinen Schoss.
„Sabrina, was ist los?“, fragte ich verwirrt.
„Heute wäre das Baby ein Jahr alt geworden.“, flüsterte sie erstickt. Sie roch nach Alkohol. Ihr Körper war vom Regen ganz nass.
„Das Baby, ja.“, sagte ich, der gar nicht mehr daran gedacht hatte.
„Ich habe es umgebracht, Rolf.“
Schüchtern hob ich meine Hand und berührte ihr Haar. Zitternd strich ich über ihren Kopf und sie ließ es zu. Ich war mir sicher, so wie sie lag, musste sie die Erektion in meiner Hose spüren, doch sie sagte nichts.
„Es ist auch Rolands Baby gewesen.“
„Ich weiß.“, meinte ich unschlüssig über meine Worte, „Aber es ist jetzt zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen. Es ist passiert und vielleicht… wer weiß, vielleicht war es ja richtig so.“
„Nein.“, sagte sie entschlossen, „Ich bin eine Mörderin.“
„Red nicht so!“, fuhr ich sie an, „Sag nicht so einen Mist! Du bist der wunderbarste Mensch, den ich kenne.“
Meine Hand rutschte von ihrem Kopf, als sie sich aufsetzte und mir in die Augen guckte.
„Bist Du in mich verliebt?“, fragte sie und ich konnte nicht mehr anders.
„Wer könnte nicht in Dich verliebt sein? Ich meine, guck Dich mal an. Ich glaube, einfach alle, die Dich kennen, sind in Dich verliebt. Alle würden ihr altes Leben aufgeben, um ihr Neues mit Dir zu teilen.“
Ein sanftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ich überlegte, sie zu küssen.
„Das ist verrückt, Rolf.“, ihr Lächeln verebbte und sie wandte ihr Gesicht von mir ab.
„Ich wünschte, ich hätte das damals nicht gemacht.“, meinte sie leise.
„Meinst Du, Du hättest es doch behalten und mit Roland großziehen sollen?“
Wieder schaute sie mich an. Ihr Gesicht war auf einmal von den Tränen trocken. Sie wirkte gefasst.
„Genau das ist es ja. Ich weiß, dass weder das, noch eine Adoption in Frage gekommen wäre. Und dennoch war die Abtreibung ein schrecklicher Fehler.“
Ich musterte sie stumm. Ich wollte etwas sagen. Etwas Intelligentes und möglichst Weises. Hier war meine Chance, sie zu trösten und etwas Bedeutendes zu tun, doch mit einem Mal änderte sich einfach alles, als sie lächelte und sagte:
„Und Dich habe ich auch noch da mitreingezogen. Dich gezwungen, was zu tun, das gegen Deine Prinzipien verstößt.“
„Aber das…das war was ganz anderes.“, sagte ich schnell, „Ich meine, ich verurteile Dich und Deine Handlungen nicht.“
„Schon gut.“, ihre Handfläche berührte meine Wange. Abrupt erinnerte ich mich, wie ich diesen Morgen verschlafen vor dem Spiegel gestanden war und mit mir darum gerungen habe, ob ich mich rasieren solle. Hätte ich es doch nur getan, dachte ich jetzt.
„Tut mir leid, dass ich herkam.“, sagte sie indes, „Ich kann halt nur mit Dir darüber reden.“
„Schon gut.“, antwortete ich und bevor ich mich versah, war der Kuss, den sie mir plötzlich auf den Mund gedrückt hatte, auch schon wieder vorbei.
„Ich leg mich jetzt mal hin.“, sagte sie und es fiel mir schwerer, als irgendetwas je zuvor, vom Bett aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Doch ich tat es und setzte mich schließlich vor der Tür zu Boden und verharrte an dieser Stelle fast zwei Stunden lang.
Ich spielte in später Nacht mit dem Gedanken, reinzugehen und sie beim Schlafen zu beobachten, doch ich getraute mich nicht und schließlich legte ich mich tatsächlich unten aufs Sofa.
Am nächsten Morgen, als ich aufstand, war Sabrina bereits wieder verschwunden und ich erinnerte mich nicht einmal mehr, wie es sich angefühlt hatte, als sie mich geküsst hat.

11 Ay
Im McTürkisch herrscht derweil alltägliche Normalität. Auch am Samstag ist nicht viel mehr als sonst los. Hie und da kommen mal ein paar Junge mehr und schnappen sich einen Kebab für unterwegs, aber sonst ist alles beim Alten. Außer, dass ich meinen Sitzplatz gewechselt habe. Denn jetzt, wo ich Asram im Hamam begegnet bin, muss ich ganz besonders gut aufpassen, dass er mich nicht dabei erwischt, wie ich ihn beobachtete. Darum sitze ich jetzt ein wenig abseits in einer Ecke. Hier muss ich mich vorbeugen, wenn ich ihn in meinem Blickfeld haben will.
Wie immer sitzt auch jetzt die eingehüllte, schwangere Muslimin mit ihren Büchern, die sie versteckt hält, an ihrem Platz an der schmalen Theke gegenüber.
Zora trägt heute ein rotes, enges Oberteil, das ihre sportliche Figur betont. Auf der einen Seite ist das Teil kurzärmelig und auf der anderen Schulterfrei. Dazu trägt sie schwarze Leggins. Die meiste Zeit kaut Zora nervös auf ihren Fingernägeln rum und schaut in den Fernseher über dem Durchgang zur Küche.
Barbül wirkt ebenfalls gereizt und meint auf einmal zu ihr, dass sie sich nicht so nervös aufführen solle.
„Was ist los mit Dir?“, fragt er, „Du benimmst Dich wie ein Junkie.“
Zora wirft ihm einen zornigen Blick zu.
„So?“, sie strafft ihren Körper, „So sieht für Dich ein Junkie aus?“
„Das meinte ich ja nicht! Ich meinte, wie Du Dich aufführst!“
„Wie führe ich mich denn auf?“, schreit sie zurück.
„Wie eine Irre!“, kräht Barbül.
„Dann bin ich halt eine Irre!“, gibt sie lauthals retour, „Dann bist Du aber ein schwerfälliger Langweiler!“
Barbül flucht irgendetwas auf Türkisch und verzieht sich daraufhin in die Küche, während er mit dem Handtuch herumwedelt.
Zora seufzt laut und steckt sich schließlich eine Zigarette an.
„Sklaventreiber.“, zischt sie leise und geht daraufhin zur schwangeren Muslimin hinüber. Sie flüstert ihr etwas zu. Die Frau guckt sie schüchtern an, ich meine zu sehen, dass sie lächelt.
Jetzt dreht sich Zora zu mir.
„so! Du bist auch wieder mal da!“, sie bläst Rauch aus und nimmt einen neuerlichen, tiefen Zug.
„Willst Du eine Zigarette?“
„Nein, danke.“, sage ich und werfe einen Blick über die Strasse. Asram sitzt am Tresen bei einem Tee und liest in einem Buch.
Zora setzt sich zu mir und guckt ebenfalls hinüber.
„Ah, Du spielst mit dem Gedanken zur Konkurrenz zu wechseln.“, scherzt sie.
„Ach was.“, entgegne ich, „Ich denke nur nach.“
„Worüber? Du siehst, hier ist nicht viel los, also weihe mich doch ein.“
„Glaubst du, es gibt Terroristen in der Schweiz?“, frage ich unüberlegt, „Ich meine, welche, die hier einen Anschlag planen.“
„Warum sollten Sie das tun?“, fragt Zora.
„Ich weiß nicht. Die Schweiz ist ein westliches Land. Eine Demokratie. Kapitalismus und so.“
„Ja, aber, es ist die Schweiz. Und selbst, wenn die Terroristen das tun wollten, sind wir sicher.“
„Warum?“
„Weil sie uns sowieso mit Schweden verwechseln und zuerst dort was hochgehen lassen würden.“
Sie lacht laut, ich höre Barbül, wie er ebenfalls lacht.
„Der war gut!“, ruft er uns aus der Küche zu, „Aber was ist, wenn Sie zuerst in Schweden einen Anschlag planen?“
„Keine Angst.“, erwidert Zora, „Die Schweiz ist für die das gleiche wie Schweden. Ich meine, Schweiz ist ein Teil Schwedens. Unsere kleine Ecke kennen die doch gar nicht.“
„Ich fürchte.“, werfe ich ein, „Terroristen kennen sich vor allem in Technik, Biologie und Geografie gut aus.“
„Wahrscheinlich hast Du Recht, trotzdem, ich glaube, es gibt attraktivere Ziele als die Schweiz für Terroristen.“
„Außer, sie wollen an der EM was hochgehen lassen!“, ruft Barbül, „Vergesst die EM nicht. Österreich oder Schweiz, da könnten sie sich auch für uns entscheiden.“, ruft Babül.
Als ich einen Blick über die Strasse werfe, erkenne ich, dass Asram weg ist.
„Ich möchte zahlen.“, sage ich.

Mein Bier kostet mich drei Franken fünfzig.
Auf der Strasse schaue ich mich nach Asram um. Weder beim Türken gegenüber, noch auf der Strasse kann ich ihn ausmachen.
„Verdammt.“, fluche ich, „So ein Mist.“
„Hoppla.“
Zwei kräftige Hände packen mich von hinten an den Schultern.
„Der Hamam-Neuling, was für ein Zufall!“
Ich dreh mich um und gucke Asram ins Gesicht.
„Asram. Tatsächlich, das ist ja ein Zufall.“
„Zwei zufällige Treffen in zwei Tagen! Du bist doch nicht homosexuell und in mich verliebt? Denn dann solltest Du Dir besser keine Hoffnungen machen.“
„Nein.“, ich schmunzle, „Keineswegs.“
Asram kramt eine Taschenuhr aus seinem Hemd und wirft einen Blick auf das Ziffernblatt, „Hmm“, macht er, „Wollen wir was trinken. Ich kann Ihnen den Türken da empfehlen.“
„Ok.“, sage ich.

Der Türke von Gegenüber, in dem Asram immer verkehrt und den ich jetzt zum ersten Mal betrete, wurde bei seiner Gründung nach dem Mond, also auf Türkisch „Ay“ benannt, wie mir Asram erklärt. Und tatsächlich ist der Mond großflächig auf die dunkelblaue Decke über uns gemalt.
„Hunger?“, fragt mich Asram, nachdem wir uns an einen Tisch gesetzt haben, an dem mich niemand aus dem McTürkisch sehen kann.
„Nein, ich nehme nur ne Cola.“
„Eine Cola, kommt sofort.“
Asram steht auf und geht zur Bar. Er sagt etwas zum jungen Mann hinter der Theke und zeigt auf mich. Schließlich kehrt er mit einer Cola und einem Dürüm zurück.
„Cola für Dich, Dürüm für mich.“
„Woher kennst Du den Laden?“, frage ich.
„Der Bruder des Besitzers hat mit mir beim Schlüsselservice gearbeitet. Jetzt kriege ich hier alles ein bisschen günstiger.“
„Wow, das ist ja toll.“, sage ich.

Das Ay ist wesentlich besser besucht, als das McTürkisch. Es gehen hier weniger Türken, sondern vor allem auch Schweizer und Deutsche ein und aus. Der Restaurantteil ist darum auch viel größer, als im McTürkisch und gleichfalls klassischer gestaltet. Es gibt Servierer und Serviererinnen, die sich normal und zurückhaltend benehmen können und wenn man hier schön zu Abend oder zu Mittag essen will, ist das ebenfalls möglich. Es wirkt einfach alles sehr viel professioneller als im McTürkisch.

Asram trägt heute ein weißes Baumwollhemd und dunkelbraune Hosen. Die Strickmütze auf seinem Kopf lässt ihn irgendwie weise erscheinen.
Ne Weile lang fragt mich Asram über mein Studium aus, ich versuche ihm befriedigende Antworten zu liefern. Er ist sehr neugierig und will unbedingt wissen, wie so ein Politstudium aussieht.
Nach einer Weile setzen sich ein paar Männer zu uns, die Asram zu kennen scheint. Sie beginnen sich ausgelassen an unserem Gespräch zu beteiligen. Auf einmal wird über Frauen und Sport geredet. Asram und ich halten uns beide im Hintergrund. Im Schwung der Runde geben die die Männer Getränke aus. Zuerst bestellt einer für alle Efes, ein türkisches Bier. Danach werden zwei Runden Raki geordert. Raki, wird mir erklärt, werde aus der Wurzel der Anis produziert. Er hat eine klare Farbe und wird von ein paar Leuten Löwenmilch genannt, die, wie einer sagt, vorbeugend gegen Krankheiten helfen soll. Zum Raki trinken wir ein Salgam. Einen Sirup aus Roter Beete, der dem Kater vorbeugen soll, wie sie mir versichern. Asram trinkt allerdings nur Apfeltee. Er ist der einzige, der sich weigert mitzutrinken. Doch alle akzeptieren das anstandslos, so als hätten sie von ihm nichts anderes erwartet.

Als die vier Männer wieder gegangen sind, bleiben ich und Asram noch zu zweit sitzen. Es ist jetzt kurz vor sechs und Asram bestellt sich eine Pizza und bringt mir einen Dürüm und ein weiteres Glas Salgam mit. Ich gebe zu, dass ich inzwischen ein wenig angetrunken bin. Daher kommt auch der Mut, der mich zur nächsten Frage verleitet, als wir beim Essen sind.

„Du hast mir doch erzählt, dass Du aus Afrika kommst und Deine Familie dort umgebracht worden ist. Ich weiß nicht, ob ich das fragen darf, aber…“
„Du möchtest wissen, was genau passiert ist, richtig?“, er lächelt unscheinbar und legt Messer und Gabel weg.
Nachdem er den letzten Bissen runtergeschluckt hat, sagt er: „Wir sind überfallen worden. Das ganze Dorf. Die Rebellen zerrten uns aus den Hütten und schlugen mit den Macheten auf uns ein. Ich warf mich vor meiner Familie auf die Knie und flehte zu dem Rebellen, der eine Sonnenbrille und ein „Hello-Amerika-Shirt“ trug, er solle meine Familie verschonen. Sie seien unschuldig und würden sich den Rebellen nicht in den Weg stellen.“
Asram legt sein Besteck in den Teller und schiebt ihn von sich.
„Wir sind mitten auf den Platz gezerrt worden. Die paar Bewohner, die noch am Leben waren, mussten dem ganzen Schauspiel zusehen. Er sagte allen, dass ich ihn gebeten hätte, meine Familie zu verschonen. Dann erschlug er zuerst meinen Sohn und vergewaltigte danach vor den Augen aller meine Frau.“, ich beobachte, wie er leer schluckt. Seine Augen starren durch mich hindurch. Seine Hände liegen gefaltet in seinem Schoss.
„Ich und meine Frau sind als einzige vom ganzen Dorf am Leben gelassen worden. Sie hat nach diesem Tag kein Wort mehr geredet. Wenn sie mich angesehen hat, habe ich ihre ganze Wut und ihren ganzen Hass auf mir gespürt. Sie hat mich verantwortlich gemacht, für das, was passiert ist. Und als ich losgehen wollte, um einen sicheren Platz für uns zu suchen, da hat sie sich geweigert, mir zu folgen. Ich konnte nicht mit ihr Reden. Bei der erstbesten Gelegenheit, die sich ihr bot, hat sie sich dann das Leben genommen.“
Ich lege meinen Dürüm auf den Tisch. Asram betrachtet unser kaum angerührtes Essen und meint:
„Was für eine Geschichte hast Du denn erwartet, Rolf?“
Ich schüttle meinen Kopf, weil ich mich so schmutzig fühle. Meine Stimme klingt erstickt, als ich sage, dass ich es nicht wisse.
„Schon gut.“, meint Asram schließlich, „Es ist schon gut.“

Jetzt, wo er schon angefangen hat, erzählt er mir alles und ich höre ihm zu.
Seine jüngste Kindheit hat er mit fünf Geschwistern und seiner Mutter in aller ärmsten Verhältnissen verbracht. Später gründeten Moslems eine Schule in der Nähe, zu der Asram von seiner Mutter als erstes Kind geschickt wurde. In dieser Schule hat er nicht nur lesen, schreiben und rechnen gelernt, man brachte ihm auch den Koran bei.
Einer der Lehrer war ein Iraner, der sein Leben lang durch die Welt gereist ist. Er pflegte, den Kindern allerlei Geschichten von seinen Reisen zu erzählen. Er hatte jedes Land auf der Erde kennen gelernt, doch sein liebstes Land, so sagte er immer wieder, war die Schweiz. So sauber, sei kein anderes Land, hatte er den Kindern erzählt. Er beschrieb den Kindern die Berge und den Schnee. Und er versuchte ihnen zu erklären, wie Schokolade schmeckt.
Von ihm hat Asram von Kindheit an Deutsch gelernt. Irgendwann hatte sich Asram das Ziel gesetzt, die Schweiz eines Tages zu besuchen.
Als Erwachsener wurde Asram Lehrer, und versuchte Kindern in seinem Ort das beizubringen, was man ihm beigebracht hat. Zu dieser Zeit brach der Bürgerkrieg in seinem Gebiet aus.

„Und jetzt bist Du tatsächlich hier.“, ich muss lächeln.
„Ja, das bin ich.
„Und wie schmeckt Dir die Schokolade?“
„Ich hab sie noch nicht probiert.“
„Warum denn das?“
Er zuckt mit den Schultern.
„Ich hab mir solange vorgestellt, wie Schokolade schmecken könnte. Ich habe die Befürchtung, sie könnte mich jetzt enttäuschen.“
„Und das Land, ist es so, wie Du es Dir damals vorgestellt hast?“
Er kichert und schaut zur Theke.
„Es hat Berge. Und den Schnee habe ich inzwischen auch gesehen.“
„Aber?“
„Aber ganz viele Sachen sind mir immer noch fremd. Darum besuche ich so oft das Hamam und darum pflege ich die Rituale des Islam. Das alles gibt mir Halt und Sicherheit.“

Als wir das Ay verlassen, ist es inzwischen acht Uhr geworden. Ich bin müde und erschöpft. Ich muss Asram versprechen, dass wir wieder mal was trinken gehen.

Zuhause angekommen bin ich durcheinander. Ist das, was er da erlebt hat, die Erklärung für seine terroristischen Aktivitäten? Hat das alles in ihm soviel Wut heraufbeschworen? Oder ist da noch mehr? Ist es tatsächlich ein rassischer, ein genetischer Hintergrund, ist der Islam schuld daran?
Ich weiß es nicht. Zuhause lege ich mich ins Bett, kann aber nicht einschlafen. Also setze ich mich vor den Fernseher. Es kommt der dritte Teil der Rambotrilogie, in der John Rambo einem afghanischen Wüstenstamm im Kampf gegen böse Russen hilft.
Ich muss lachen.

12 … ist alles erlaubt
Das Jahr 2001 war nicht nur das Jahr meines Studienbeginns, es war auch das Jahr, in welchem der Terrorismus globalisiert wurde.
Am elften September flogen Flugzeuge durch Amerika und stießen dabei gegen die Twin-Towers und ins CIA-Hauptgebäude.
Zum ersten Mal ist an diesem Tag klar geworden, dass auch die Schweiz vor ähnlichen Anschlägen nicht sicher ist.
Der Basler Große Rat hatte Ende 2001 eine ganz eigene Methode gefunden, mit der er gegen die neue Bedrohung vorgehen wollte. Er zog in Erwägung, allen Ausländern im Kanton, unabhängig von Religion und Hautfarbe, das Stimmrecht zu geben.
Auf diese Weise würden die Ausländer besser integriert, meinten der Migrationsdelegierte Thomas Kessler und Werner Schatz. Für unsere Partei kam so etwas natürlich nicht in Frage und SVP-Präsidentin Zanolari redete Klartext:
„Falls man Ausländern das Stimmrecht gibt, haben wir bald einen Taliban als Regierungsrat.“, natürlich reagierten die Linken prompt mit Protest, aber die SVP ließ sich noch nie den Mund verbieten und unbeeindruckt stellte sie weiter klar, „Der Islam ist der Nährboden des Islamismus, anderswo gedeiht diese Giftpflanze nicht“ und sie erklärte auch den Standpunkt der SVP, nämlich den, dass die meisten eingewanderten Afghanen nichts weiter als „als angebliche Flüchtlinge verkleidete Abgesandte von Osama Bin Laden“ sind.
Dieses Mal gab es allerdings noch eine Partei, die mit den Worten der SVP nichts anfangen konnte. Diese Partei war Sabrina.

Wir waren zusammen was trinken gegangen und sie hat mir von einem Streit mit Roland erzählt, der sie sogar dazu gebracht hatte, sich zu überlegen, ob es nicht Zeit für eine Trennung wäre.
Ich hörte ihr zu, ohne Partei zu ergreifen. Schließlich musste ich kurz aufs WC verschwinden, wo ich dann freudig vor mich hinsang. Vielleicht war ja heute mein Tag, der Tag aller Tage. Würden sich die beiden trennen, würde Sabrina womöglich noch mehr Zeit mit mir verbringen und würde unsere Liebe so schließlich unbestreitbar?
Vielleicht war ja dieses Gerede von möglicher Trennung, ihre Art mir mitzuteilen: Tu was, ergreif endlich die Initiative, ich bin bereit für Dich.
Vielleicht war ich ja aber auch nur total bescheuert.

Nachdem ich mir reichlich Wasser ins Gesicht geschüttet hatte und glaubte, wieder zu Sinnen gekommen zu sein, kehrte ich zu Sabrina zurück. Die Sonne warf ihre Strahlen gezielt durch die Fenster des Restaurants auf ihren himmlischen Körper.
Gesäumt in dem hellen Sonnenlicht, das auf sie fiel, sah sie wie eine Fee aus. Allerdings nicht eine dieser zerbrechlichen Feen aus dem Märchen. Sie war eine starke Fee, die ihre Kraft aus einem unerschöpflichen Willen bezog.
Sabrina trug an jenem Tag einen eleganten, langen Rock und ein hübsches, weißes Shirt. Den sportlichen Kapuzenpullover hatte sie über ihre Tasche gelegt.
„Und erleichtert?“, fragte sie mich schelmisch grinsend.
„Klar.“, gab ich zurück und setzte mich neben sie auf die Bank.
Sabrina hatte während meiner Abwesenheit in einer Zeitung geblättert, welche jetzt offen vor ihr lag.
„Diese Zanolari“, begann sie, „Sag mal, ist die noch ganz dicht?“
„Warum?“, fragte ich.
„Also bitte, ich meine, ich bin auch keine große Freundin von Ausländern. Du weißt ja, dass ich auch so meine Erfahrungen gemacht habe, aber die Frau geht wirklich zu weit. Man kann doch nicht allen afghanischen Flüchtlingen vorwerfen, Terroristen zu sein.“
„Das macht sie ja gar nicht.“, widersprach ich, „Das einzige, was sie sagt, ist, dass der größte Teil dieser Scheinflüchtlinge Islamisten sind. Man muss schon einsehen, dass der Koran nun halt mal die Schrift ist, auf der diese Terroristen ihre ganzen Überzeugungen aufbauen. In Afghanistan hat sich dieser ganze Hass auf den Westen und die Demokratie unter der Bevölkerung verbreitet. Die Anhänger Bin Ladens stellen doch keine Minderheit mehr dar.“
„So ein Seich. Du übertreibst in dieser Sache maßlos. Die meisten Afghanen haben unter der Schreckensherrschaft der Taliban gelitten. Die Terroristen kommen aus den Talibankreisen, nicht aus der Bevölkerung.“

Wie immer, wenn wir diskutierten, verlor Sabrina jeglichen Humor und begann leidenschaftlich für ihre Überzeugungen zu kämpfen. Allerdings bestand ich in dieser Sache ebenfalls auf meinen Standpunkt und unsere Debatte wurde so hitzig, dass wir von einem Kellner zu mehr Ruhe angehalten werden mussten.

„Ok, klar, sorry.“, entschuldigten wir uns kleinlaut.
Und kaum war der Kellner wieder verschwunden, schlug mir Sabrina lachend ihre Faust gegen die Schulter.
„Und ich hab doch Recht!“
„Ach was.“, sagte ich und schubste sie zur Seite, „Du bist ja schon ein richtiger Sozi.“
„Das bedeutet Krieg!“, rief sie und stürzte sich auf mich, so dass ich rückwärts auf die Bank fiel und Sabrina plötzlich lachend auf mir lag. Ihr Gesicht war dem meinen ganz nah. Ihre Hände hatten meine Arme umschlossen. Ich roch ihren Eukalyptusatem. Und als ob mich dieser irgendwie beschwipst machen würde, hob ich meinen Kopf ein Stück an und küsste sie direkt auf den Mund. Mit der Zunge leckte ich dabei sanft über ihre verschlossenen Lippen. Ich konnte beobachten, wie ihre Augen sich aufsperrten und auf einmal saß sie wieder aufrecht da. Zwischen uns schien plötzlich eine unüberwindbare Distanz zu herrschen. Sie musterte mich stumm mit einer Mischung aus Erstaunen und Schrecken auf ihrem Gesicht. Flüchtig kaute sie auf ihrer Unterlippe. Meine Gedanken rasten, ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Meine Hand probierte die Distanz zwischen uns zu überwinden, indem sie nach der ihren griff. Doch Sabrina zog ihre schleunigst weg.
Ein paar Leute von den anderen Tischen schauten verstohlen zu uns rüber. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust.

„Was?“, sagte ich nach einer kleinen Ewigkeit.
Sie lächelte mich auf eine schier mütterliche Art und Weise an und sagte:
„Ich bin immer noch mit Roland zusammen, Rolf.“
„Aber Du willst Dich trennen.“
„Das habe ich nie gesagt!“, sie schmunzelte.
„Aber Du überlegst es Dir.“, meinte ich kleinlaut.
„Wir haben eine Phase. Eine Schwierige. Aber ich werde die Beziehung zu Roland nicht einfach abbrechen. Und selbst wenn…“
Ihre Augen musterten mich voller Mitleid.
„Was?“
„Rolf, ich bin nicht in Dich verliebt. Unsere Beziehung ist eine ganz andere, als die zwischen mir und Roland.“
„Ok.“, sagte ich und stand auf.
„Rolf, hör mal.“
„Nein. Ich muss, äh, weg.“
„Rolf.“, ihre Stimme klang ein bisschen genervt.
„Ich will Dich nicht aufhalten.“, sagte ich und lief so schnell ich konnte davon.

Aus der Distanz betrachtet muss ich zugeben, dass es eigentlich einem Wunder gleich kommt, dass diese Dreierkonstellation überhaupt so viele Jahre überstanden hat. Vielleicht wäre sogar noch was zu retten gewesen, hätte ich mich nur ein bisschen beherrschen können.
Aber nach diesem Fauxpas mit dem Kuss benahm ich mich mit einem Mal, wie ein Irrer, der Amok läuft.
Abends rief ich sie an und weil sie nicht abnahm, hinterließ ich ihr verzweifelte Nachrichten, schickte ihr tonnenweise SMS und Email-Nachrichten. Mit jedem weiteren Versuch wurden meine Nachrichten noch dramatischer und hysterischer. Ich ließ sie wissen, dass ich nicht ohne sie leben könne, ich mir was antun würde, sie mit mir reden müsse, dann entschuldigte ich mich wieder für das alles und wollte nur wissen, ob sie mir verzeihe.
So ging es mehrere Tage lang. Bei Roland ließ ich mich zu der Zeit nicht mehr blicken.
Dann rief ich sie nach ein paar weiteren Tagen aus einer Telefonzelle aus an, so konnte sie nämlich die Nummer auf ihrem Display nicht mit mir in Verbindung bringen und deshalb nahm sie auch ab.
„Müller.“, meldete sie sich.
„Sabrina, ich bin’s. Ich wollte nur kurz mit Dir reden.“
„Rolf.“, ihre Stimme klang erschöpft, sie seufzte tief, „hör mir mal gut zu, Rolf.“, ihre Stimme wurde hart, „Ich will nicht, dass Du mich die ganze Zeit anrufst. Ich hab ein Leben, einen Freund und Kollegen. Ich bin weder Deine Mami noch Deine Freundin. Das hast Du zu akzeptieren. Wenn ich mich nicht melde, dann ist das mein gutes Recht.“; ich wollte ihr widersprechen, was erwidern, doch das ließ sie gar nicht zu, „Falls ich mich wieder melden will, werde ich das schon tun, Ok? Also benimm Dich nicht wie ein kleines Kind. Ich werde mich mal wieder melden, aber lass das mit diesen peinlichen Nachrichten und Betteleien. Und das mit diesen Drohungen, dass Du Dir was antun willst, ach, lass das einfach. Auf so was reagiere ich erst recht nicht.“
Daraufhin brach sie das Gespräch ab und ich fühlte mich, ich weiß nicht, wie fühlt man sich wohl nach so einer Standpauke.
Wie ein Haufen Scheiße, halt.

Ich tat, was sie mir aufgetragen hatte, und meldete mich nicht mehr.
Als erstes versuchte ich sie zu vergessen, was mir allerdings nicht gelingen wollte, vor allem nicht, weil ich Roland ja nicht ewig aus dem Weg gehen konnte. Immerhin galten wir immer noch als das Dreamteam der jungen SVP. Sabrina sah ich die nächsten Wochen zum Glück nicht wieder. Hie und da ließ ich ihr von Roland einen Gruß ausrichten und fragte ihn, wie es ihr so ginge.
„Ach, sie hat viel zu tun, mit der Arbeit und dem Reiten und so.“, meinte er.
Dabei fragte ich mich, ob er eigentlich von der ganzen Geschichte zwischen mir und Sabrina erfahren hatte. Hatte sie sich bei ihm über mich beklagt? Oder sogar mit ihm über mein peinliches Benehmen gelacht?
Nachdem ein Monat vergangen war, schrieb ich ihr eine Email. Ein normaler Text, mit der Frage, wie es ihr gehe und dass ich mich freuen würde, mal wieder was von ihr zu hören.
Es kam keine Antwort. Ein halbes Jahr verging und irgendwann war ich sicher, dass sie sich nie mehr melden würde.
Meine einstige Liebe zu ihr verwandelte sich in eine pubertäre Wut und in Hass. Ich konnte sie geradezu vor mir sehen, wie sie über meine Nachrichten lachte, wahrscheinlich mit Roland zusammen. Doch meine Wut richtete sich nur gegen sie. Roland stand zwischen uns und wenn sie mich schon an ihn verriet, dann sollte er zumindest die ganze Wahrheit erfahren.

Nach dem nächsten Parteitreffen, bat ich ihn mit mir in eine Kneipe zu kommen. Ich wolle mit ihm was besprechen, sagte ich.
Während wir was tranken, tauschten wir zuerst üblichen Tratsch über Parteikollegen aus. Erst nach einer Weile wollte Roland von mir wissen, was ich ihm denn jetzt eigentlich habe erzählen wollen.
Ich beichtete ihm einfach alles. Ich erzählte ihm von ihrer Schwangerschaft, der Abtreibung und wie sie mich dazu gezwungen hatte, ihn zu belügen.
Roland hörte mir schweigend zu, seine Mine war eisern und zeigte keine Gefühlsregung.
„Ok.“, sagte er, als ich zum Ende gekommen war, „Du hast Sabrina also dabei geholfen, mein Kind zu töten.“, er nickte vor sich hin, blinzelte mit den Augen die Tischplatte an, „Was erwartest Du jetzt? Soll ich Dir das einfach so verzeihen?“
„Nein, keineswegs. Ich habe damals falsch gehandelt. Ich meine, ich mag Euch beide, das weißt Du und es ist mir damals ganz schön schwer gefallen. Ich bin mir sicher, ich hab mich damals falsch entschieden. Tut mir leid.“
Er guckte mich mit einem gleichgültigen Blick an. Seine Hand strich über seinen Mund.
„Mein Kind. Einfach so umgebracht.“, sein Lächeln war das eines Verrückten, „Ja, das war so ziemlich falsch, ziemlich falsch.“
Er stand auf, ohne noch was hinzuzufügen verließ er die Kneipe. Ich blieb sitzen und bestellte mir einen Whiskey. In jener Nacht betrank ich mich und fiel daheim zufrieden ins Bett.

Als ich am nächsten Morgen verkatert aufwachte, dachte ich im ersten Moment, ich hätte das alles nur geträumt.
„Das war nur ein dummer, dummer Traum.“, sagte ich mir, als ich aufstand.
Mein Spiegelbild griente mich im Badezimmer an.
„Das war kein Traum.“, sagte es zu mir, „Du blöder Esel hast ihm gesagt, dass sie sein Kind abgetrieben hat. Sie wird Dir niemals verzeihen.“
Mein Spiegelbild lachte und ich rannte zurück zum Bett, zog mich an und sprang aufs nächste Tram.
Vom Zug aus, wählte ich ihre Handynummer, doch es meldete sich nur wieder ihre Combox.
„Oh Gott, oh Gott.“, flüsterte ich.
Schließlich fuhr ich zu dem Heim, in dem sie arbeitete, rannte zur Anmeldung und fragte nach ihr.
Die Frau am Sekretariat war ein Mütterchen kurz vor der Pensionierung und erklärte mir ausschweifend, wie ich zur Wohngruppe käme, in der Sabrina arbeitete.

Als ich dort oben klingelte, öffnete ein Mann mit Vollbart die Tür.
„Ist Sabrina da?“, fragte ich und er nickte lächelnd.
„Ich hol sie.“, sagte er mit tiefer, sanfter Stimme.
Sabrina trug lange Jeanshosen und einen Pullover mit zurückgekrempelten Ärmeln. Als sie mich sah, verfinsterte sich ihre Mine abrupt.
„Was willst Du?“, sagte sie.
„Mich entschuldigen. Herrje, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, ich habe gestern…“
„Ich weiß es. Was meinst Du, wo Roland gestern nach Deinem Geständnis hin ist. Und jetzt verpiss Dich, ich will Dich nicht mehr sehen und nichts mehr von Dir hören. Du bist nur ein kleines, gestörtes Arschloch, das wirklich ganz dringend psychiatrische Hilfe braucht.“
„Hör mal, es tut mir leid. Ich bin halt wütend gewesen, immerhin hast Du mir versprochen, Du würdest Dich mal…“
„Ach klar, es ist meine Schuld! In Deiner kleinen Dreckswelt sind ja immer die anderen Schuld.“
„Es war ja nur die Wahrheit. Wir haben einen Fehler gemacht. Überleg mal, in welche Lage Du mich damals gebracht hast, ich bin immer für Dich…“
„Ja, weil Du geil auf mich gewesen bist. Du hast davon geträumt, mir an die Wäsche zu gehen. Ich bin für Dich ne verdammte Wichsfantasie gewesen?“
„Weiß es Roland?“
„Was?“, zischte sie.
„Das wegen uns?“
Sie lachte auf, „Dass Du mir wie ein Gestörter nachstellst?
Warum sollte er das wissen? Meinst Du, Du bist so wichtig in meinem Leben, dass ich das mit allen teile. Rolf, Du bist kein Teil mehr von meinem Leben. Ich hab weder Lust noch den Drang über Dich mit irgendjemandem zu reden und jetzt mach, dass Du vom Acker kommst!“
Stumm starrte ich sie an.
Dann schloss sie schließlich die Tür.

13 Erwischt
Seit einer Weile treffe ich mich regelmäßig mit Asram im Ay. Er redet meistens von seiner Kindheit. Von dem Mann, der ihm von seinen vielen Reisen erzählt hat. Asram war das Kind gewesen, das diesem Mann am allerliebsten zugehört hatte. Der alte Mann hat den Kindern nie Fotos oder Bilder der Städte und Orte gezeigt. Er hat von den Kindern verlangt, dass sie sich die Plätze in ihrer Fantasie selber vorstellten. So reiste Asram als Kind nach Paris und sah den Eifelturm oder fuhr mit einem Fahrrad die Chinesische Mauer entlang.
Die Gruppe bestand meist aus fünf oder sechs Kindern, die im Halbkreis um den alten Mann herumsaßen. Staunend hörten sie ihm zu und einige waren der Meinung, dass der Alte sie nur anschwindle.
Asram hörte ihm am liebsten zu, wenn er von der Schweiz berichtete.
Beim Erzählen von der Schweiz verlor der alte Mann alle Sachlichkeit und geriet ins Schwärmen. Er verlor sich in seiner Liebe zu dem kleinen, sauberen Land mit den vielen Bergen. Er beschrieb den Kindern, wie die Bauern im Wallis lebten, mit denen er Käse und Butter hergestellt hatte. Nur die größeren Städte wie Zürich oder Bern hatte er gemieden.
Wenn der alte Mann vom Skifahren erzählte und wie er sich das erste Mal die langen Bretter an die Füße geschnürt hatte, mussten immer alle ganz laut lachen.
Viele Jahre später hatte Asram die Geschichten an seine Schüler weitererzählt. Bis heute weiß Asram nicht, was aus dem alten Iraner geworden ist. Er war eines Tages einfach wieder weiter gereist und hatte ein neues Land, ein neues Fleckchen Erde besucht.
Asram stellt sich gerne vor, wie der alte Mann immer noch von Ort zu Ort reist und nach Plätzen sucht, die er noch nicht gesehen hat.
Die Arbeit mit den Kinder war für Asram nie einfach gewesen. Viele von ihnen hatten nicht verstanden, wofür sie die Schule eigentlich besuchen sollten. Es gab ja so viel anderes, scheinbar wichtigeres, was getan werden musste.
An jedem Tag galt es neuerlich, Essen und Geld zu beschaffen, damit man überleben konnte. Man lebte immerhin in Armut und Armut bedeutete, ständig ums Überleben kämpfen zu müssen.
Und da war plötzlich dieser Ort, an dem Asram von ihnen verlangte, dass sie sich hinsetzten und ihm einfach zuhören sollten. Hier war nicht ihre körperliche Kraft, sondern ihr Kopf und ihre Intelligenz gefragt.
Wenn Asram mal ein wenig Zeit für sich fand, versuchte er sich selber Deutsch beizubringen. Er liebte diese fremde Sprache.

Von seiner eigenen Familie redet Asram nur selten. Manchmal erwähnt er seinen Sohn oder seine Frau nebenbei in irgendeinem Satz. Doch es scheint mir, als wolle er sich nicht mit dem Gedanken an sie befassen. Das einzige, was ich weiß, ist, dass er es liebte mit seinem Sohn gemeinsam zu beten.
„Kinder beten viel besser, als Erwachsene.“, sagte er an einem Abend zu mir.

Heute erzählt mir Asram, wie der gewöhnliche Alltag in seinem Dorf aussah. Er sagt, dass, obwohl sie eine Schule besaßen, ihr Leben nicht mal ansatzweise mit dem unseren vergleichbar gewesen sei. Der Reichtum und Luxus, von dem die Schweiz umgeben wird, hätte sich Asram früher nicht ansatzweise vorstellen können.
„Ich bin ein Lehrer gewesen, der kaum etwas gewusst hat.“, sagt er und lacht, „Wenn man wie ich plötzlich zum ersten Mal hier her kommt, hat man das Gefühl, die ganze Welt bewege sich. Du kannst förmlich spüren, wie sich der Erdball unter deinen Füssen dreht. Die Zeit scheint hier auf einmal ein Eigenleben zu entwickeln und einen umher zu jagen. Es wird einem schwindlig von all dieser Bewegung, die hier herrscht. Tut man seine Augen auf, will man sie gleich wieder schließen, weil sie plötzlich so viel, viel zu viel zu sehen bekommen. Zu viele Farben, Zu viele Gegenstände und Gebäude und Menschen. Die Geräusche erschlagen einen fast. Alles schlägt auf einmal auf einen ein. Während den ersten Tagen wollte ich nur eine ruhige Nische finden, ich der ich mich vor all diesen Reizen verstecken könnte. Der Kopf kann sich nur langsam an so eine andere Welt gewöhnen. Das hat nichts mit Religion oder Kultur zu tun, Rolf, das ist Biologie, das Gehirn kann sich nicht so schnell anpassen.“, er guckt mich an und scheint zu erkennen, dass ich ihn nicht ganz verstehe, „Würdest Du dorthin kommen, woher ich komme, hättest wahrscheinlich das Gefühl, die Zeit stünde still und Du würdest nach etwas suchen, das Deinem Gehirn die Stimulation verschafft, die es sich gewohnt ist.“, er lacht mich an, „Als wärst Du in einem Klosterzimmer gefangen. Ganz frei von allen Reizen.“
Mein Blick schweift von ihm ab und fällt aus dem Fenster raus. Auf einmal entdecke ich etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe. Ich zucke unweigerlich zusammen, doch es ist zu spät.
Zora lächelt mich durch das Fenster an und betritt daraufhin das Ay.
Sie sieht heute ganz anders aus, als sonst. Sie trägt eine dünne Jacke und hat sich eine Tasche umgehängt. Mit schnellen Schritten nähert sie sich uns und bleibt neben mir und Asram stehen.
„Hallo.“, sagt dieser überrascht, doch Zora hat nur Augen für mich. Diese funkeln mich vorwurfsvoll an.
„So, so, ich habe es doch geahnt. Habe ich Dir nicht immer gesagt, dass ich nicht verstehe, warum Du gerade zu uns kommst? Jetzt ist es also passiert. Du gehst fremd.“
Sie setzt sich neben Asram, der sofort zur Seite rutscht, hin.
„Ich darf doch.“, sagt sie und ich starre sie unverhohlen an.
„Du gehst fremd…“, sagt Asram staunend, „Sollte ich Euch besser alleine lassen?“
„Nein!“, sie lacht plötzlich schallend auf, „Nicht so fremd, Du Dummerchen!“, sie lacht weiter, „Ich arbeite da drüben im McTürkisch. Der liebe Rolf ist Stammgast bei uns. Na ja, das gehört jetzt wohl der Vergangenheit an.“
„Was, da drüben?“, Asram lacht auf, „Dann warst Du ja die ganze Zeit die Strasse gegenüber!“, ruft er mir ins Gesicht, obwohl ich kaum einen halben Meter von ihm entfernt sitze, „Das ist so was von verrückt, bei Allah! Man könnte ja meinen, er hätte persönlich die Finger im Spiel gehabt.“
„Oder…“, sie kramte eine Zigarette raus, „Der liebe Rolf stellt Dir nach.“, sie steckt sich die Zigarette in den Mund und fuchtelt mit einem Streichholz herum, „Sag mal bist Du schwul, Rolf?“, fragt sie ernst, mit dem Glimmstängel im Mundwinkel.
Ich wünschte mir, ich könnte sie ausschaffen lassen, einfach aus diesem Land verweisen. Ausländer, denke ich, verdammte Ausländer.
„Ja, ich bin schwul.“, sage ich schließlich, „Ich liebe Dich, Asram, und möchte ein Kind von Dir.“
Asram lacht schallend auf und Zora steckt sich ihre Zigarette an.

In den folgenden Minuten muss ich feststellen, dass sich Zora und Asram bestens verstehen. Man könnte meinen, ich sitze gar nicht mehr hier, so wie sich die beiden miteinander unterhalten. Darum schwelge ich ein wenig in meinen eigenen Gedanken. Bis jetzt habe ich wirklich immer Glück gehabt. Alles ist gut gelaufen. Ich habe tatsächlich Asrams Vertrauen für mich gewonnen. Jetzt geht es darum, dass ich mehr über ihn und seine Pläne herausfinde. Das Schlüsselwort heißt, Indizien. Ich muss Indizien finden, die auf seine Pläne hinweisen. Erst dann kann ich zur Polizei gehen. Vorher werden die mich nicht ernst nehmen.
Ich gucke wieder den beiden zu. Wie sie lachen und frage mich dabei, ob das Auftauchen Zoras ein Problem darstellt. Asram sieht keineswegs so aus, als habe es ihn Misstrauisch gemacht, zu erfahren, dass ich im McTürkisch verkehrt habe. Nebenbei schnappe ich auf, dass die beiden jetzt über Kebab und türkisches Essen reden. Zora erzählt Asram vom ganz eigenen Charme des McTürkisch, dass dieses es aber natürlich nicht mit so einem Tempel wie dem Ay aufnehmen könne.
„Nicht, Rolf?“, fragt sie auf einmal und ich nicke geistesgegenwärtig.
„Ach, bei so einer Bedienung muss das doch ein toller Laden sein.“, wirft Asram charmant ein.
Mein Blick schweift zum McTürkisch ab. Es ist Abend. Ein Junkie streunt vorbei. Barbül ist nicht zu sehen. Überrascht beobachte ich auf einmal, wie die schwangere Muslimin hinter die Theke schleicht und dort was herumfingert.
„Hey.“, sage ich laut, „Zora, was macht die Frau da? Ich glaube, die beklaut Euch.“
Zora dreht sich um und wirft einen Blick über die Strasse.
„Ach was. Susi macht nur ihren Job.“
„Ihren Job?“
„Ja klar, ach, das weißt Du halt nicht. Susi putzt bei uns. Sie hält den Laden in Schuss. Susi erhält für ihre Arbeit zwar nur einen Hungerlohn, darf sich dafür aber so viel sie will unten aufhalten und hat oben ein kleines Zimmerchen zur Verfügung gekriegt.
„Sie wohnt im McTürkisch?“
„Ja, also eine Etage drüber. Sagte ich doch gerade. Stell Dir vor, da kann man auch ein Bett reinstellen und schlafen.“
Asram lächelt amüsiert.
„Sie heißt also Susi.“, murre ich.
„Ja, Sie ist Irakerin. Nette Frau, wirklich, ich hab sie echt mögen gelernt. Sie hatte aber viel Pech, ist schwanger und findet keine rechte Wohnung. Seit Monaten sucht sie jetzt schon nach einer Bleibe, wo sie mit ihrem Kleinen leben kann.“
„Na ja, kostet halt alles Miete.“
„Daran liegts doch nicht. Sie arbeitet ja genug. Die ganze Nacht durch geht sie putzen. Ne günstige Wohnung oder ein größeres Zimmer könnte sie sich finanziell schon leisten. Ich glaube, das liegt an was anderem.“
„Was tut sie denn den ganzen Tag lang? Sie könnte dann doch…“
„Sie lernt. Deutsch und solche Sachen. Schreibt Bewerbungen. Sie will was aus sich machen. Für sich und ihr Kleines ne richtige Existenz aufbauen. Aber probier das mal in ihrer Lage. Die Leute starren sie so an, dass sie sich in ihrer Haut inzwischen wie ein Tier vorkommt. Sie ist völlig verschüchtert. Dabei wäre sie hochintelligent, wirklich. Zuhause hat sie Literatur studiert und Preise für ihre Erzählungen erhalten. Jetzt schreibt sie hie und da an ihrem Manuskript weiter, wenn sie mal etwas Zeit hat. Aber irgendwie…sie schläft ja kaum noch und essen tut sie auch viel zu wenig. Manchmal hat sie panische Angst, vor die Tür zu gehen. Ihr Selbstvertrauen nimmt von Tag zu Tag mehr ab. Wenn sie so weiter macht, bringt sie sich und das Baby bald um.“
„Dann sollte sie vielleicht heimgehen.“, sage ich, ohne nachzudenken.
„Das ist nicht lustig.“, meint Zora.
„Tut mir leid.“, überraschenderweise tut es mir wirklich leid.
„Ich werde mich mal umhören, vielleicht finde ich ja jemanden, der nach einer Untermieterin sucht.“, sagt Asram.
Ich schließe mich an, „Ja, ich frag auch mal rum. Wenn sie so viel vorzuweisen hat, wie Du sagst, dürfte das doch ein Klacks sein, ne Wohnung für sie zu finden.“
„Jungs, Ihr seid wirklich große Klasse!“

Na gut, denke ich, wenn Susi tatsächlich so eine vorbildliche Ausländerin ist, wieso sollte ich ihr also nicht unter die Arme greifen. Immer wird behauptet, ich sei ein Rassist. Ich beweise Euch allen das Gegenteil. Wenn sich jemand anständig aufführt und seinen Teil leistet, will ich der Erste sein, der dieser Person hilft. Und das werde ich auch tun.
Es wäre doch gelacht, wenn ich ihr bei ihrer Wohnungssuche nicht helfen könnte.
 
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