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23 Seiten

Give Blood Teil 1

Romane/Serien · Spannendes
© Tintentod
James wartete am Bahnhof. Elf Stunden würde die Zugfahrt dauern, wenn alles gut lief. Es lief selten alles gut.
Eine Reisebestätigung gespeichert auf der ID bedeutete einen sicheren Platz im Zug. Einen Platz in einem abgeschlossenen Abteil, in dem man ruhig einschlafen konnte und keine Angst haben musste, ausgeraubt zu werden. James hatte diese Fahrt nur über seine Beziehungen bekommen und trotzdem hatte sie ihm eine Stange Geld gekostet.
Diese Züge fuhren für alle, aber die sicheren Abteile bekam nicht jeder, schon gar nicht in so kurzer Zeit. Verdammt viel Geld, aber immerhin war er auf dem Weg nach Hause.
Nimm den Zug, hatte sein Dad am Telefon gesagt, und pass auf dich auf, mein Junge.
Der Zug führte auf die andere Seite des toten Landes, zu den Kuppelstädten, in denen das Leben nicht einfacher, aber ein wenig angenehmer war als in den restlichen Städten, die es noch gab. James hatte mit seinem Koffer und seinem Mantel am Bahnhof übernachtet, um den Zug zu bekommen. Es war hart gewesen, stundenlang gegen die Müdigkeit anzukämpfen.
Die letzte große menschliche Errungenschaft war die Magnetbahn, die die Städte und die Vororte noch miteinander verband. Das Pfeifen der Triebwerke hörte man schon lange in den Häuserschluchten, noch bevor er an dem Doppelgleis einfuhr.
Urplötzlich war James umringt von einer ungeduldigen Menschenmenge, wurde gestoßen und stieß zurück und arbeitete sich langsam zum Einstieg vor. Er hielt seine ID vor das Lesegerät, wurde durch die Schleuse gelassen und machte sich sofort auf die Suche nach seiner reservierten Kabine. Um ihn herum waren Chaos, Wut und Panik. Auf dem Bahnsteig gab es Prügeleien und wütende Diskussionen, wenn wieder jemandem mit einer gefälschten ID der Zutritt verwehrt wurde. Längst gab es andere Wege; Männer kletterten durch zerbrochene Fenster hinein, manipulierten die Schleusen. Schüsse fielen, die Menge duckte sich wie ein einziges großes Tier, kam wieder hoch und die Panik hatte noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht. Ein Mann reichte ein Kleinkind zum zerbrochenen Fenster des Zuges herein, ein anderer Mann nahm es entgegen, hielt es im Arm, während er Wortfetzen nach draußen rief. James, endlich in seinem sicheren Abteil, saß wie erstarrt da. Er war schon lange nicht mehr mit diesem Zug gefahren, denn es war nicht nötig gewesen. Er hockte auf seinem Platz, die Arme um seinen Koffer gelegt, starrte in das blindwütige Chaos hinein, das sich im Zug fortsetzte. Um ihn herum füllte sich der Zug mit Reisenden, die zwar nicht zu den homeboys gehörten, aber mit denen James nichts zu tun haben wollte. Als die Türen sich ohne Vorwarnung schlossen, der Zug sich in Bewegung setzte, war der Abschnitt des Zuges angefüllt mit stark geschminkten Frauen und Mädchen, die kurze Röcke und sonst nicht viel mehr trugen, mit Männern, die zu telefonieren versuchten, ihr Hab und Gut mit sicher herumtrugen oder so müde waren, dass sie sich in den Gang setzten und einschliefen. Außerdem waren da noch ein paar Jugendliche, die Gesichter tätowiert. Der Zug fuhr schnell, nicht so schnell, wie er früher gewesen war, denn niemand hatte jemals die Schäden an den Magnetbahnen behoben, und niemand dachte darüber nach, wie lange diese Verbindung zwischen den Städten noch bestehen würde. Alles zerfiel, es war ersichtlich an den Häusern und den Straßen außerhalb der Kuppelstädte. Die meisten Fenster des Zuges waren mit Stahlblechen verschweißt, verhinderten die Blicke nach draußen. Der Mann mit dem Baby unter dem zerbrochenen Fenster zündete sich eine Zigarette an, pustete dem Kind den Qualm ins Gesicht, als es zu plärren begann und durch den Rauch schlief es wieder ein. Es war um die Schläfen herum blau angelaufen und James versuchte, nicht mehr in die Richtung zu sehen. Früher hatte man die Abteilwände verdunkeln können, aber diese Funktion hatte sich wie vieles andere irgendwann verabschiedet. James war dankbar, dass er wenigstens sein Abteil mit seiner ID verriegeln konnte.
Der Zug hielt sehr schnell im nächsten Bahnhof, die meisten Reisenden stiegen aus, und obwohl sie keine IDs für die Lesegeräte benutzten, betraten Gruppen von homeboys das Abteil. Sie kamen durch die Tür nahe James’ Kabine und auch durch die Verbindungsschleusen der anderen Abteils herein. James wich ihren neugierigen Blicken aus, schwitzte plötzlich in seinem Mantel. Als die erste Gruppe an ihm vorbei war, schob er seinen Koffer unter den Sitz und hoffte, dass sein Dad recht gehabt hatte, als er sagte, dass die meisten der Bahnhöfe in den unsicheren Gegenden geschlossen worden waren.
Ich hab diese homeboys satt, dachte er. Er hatte immer wieder mit ihnen zu tun, auf seine Art und Weise, und er blieb wachsam trotz der verriegelten Kabine. Er wusste, dass die Sperren mit den richtigen elektronischen Gerätschaften zu knacken waren und er würde keinem homeboy einen Grund dazu geben, sich seine Kabine auszusuchen.
Es war noch immer laut in dem Zug und es machte sich die übliche Gewalt breit, der man überall begegnete und die auch in einem Zug nicht aufhörte. Jemand wurde verprügelt, zwei Männer brüllten sich an. Und überall die homeboys.
James war hundemüde und fühlte sich außerstande irgendeine Reaktion zu zeigen, als er sah, dass einige Sitzreihen im ungesicherten Bereich ein paar der homeboys auf einen Reisenden einschlugen. Sie trieben ihn aus seinem Sitz, jagten ihn mit Tritten und Schlägen in den Gang und reichten ihn nach hinten durch. Alles johlte und grölte. Der Mann blutete aus der Nase, hatte seine Brille verloren, versuchte zu flüchten, wurde aber immer wieder hin- und hergetrieben. Die homeboys machten das, was sie in ihren Bezirken auch taten – sie hatten ihren Spaß. Aus einem Abteil dahinter versuchte eine in schwarz gekleidete Person zu fliehen, wurde von der Meute in die Zange genommen und bekam heftige Schläge auf den kahlen Kopf ab. Er war etwa in James Alter, stolperte über ausgestreckte Beine, kassierte Tritte, kam wieder hoch und fand schließlich eine Zuflucht in einer Nische neben der automatischen Tür. Die homeboys lachten wie aufgezogen, rannten durch den Zug auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Sie taten so etwas einfach nur, um sich die Zeit zu vertreiben.
Weiter hinten im Zug schrie eine Frau auf, James zuckte zusammen. Zwei homeboys rannten an ihm vorbei den Gang herunter, einer zischte: „Wir haben die Fotze“, sprang im Laufen hoch und schlug die Faust an die Aluminiumverkleidete Decke. James wollte es nicht sehen, aber er wurde Zeuge des Vorfalls, denn die Frau, eine von den Huren, hatte sich in den Gang fallengelassen, versuchte unter die Sitze in Sicherheit zu kriechen. Sie schrie statt zu atmen. Der Boss der homeboys, ein großer dicker Kerl in schwarzem Leder und mit Tätowierungen rund um Hals und Nacken nagelte sie von hinten, während sie über dem Sitz hing, von den anderen festgehalten und bedrängt wurde. Er war schnell fertig in ihr, aber danach kamen die anderen. Irgendwann schrie sie nicht mehr und unter den stetigen Zuggeräuschen war nur das fleischige feuchte Klatschen und das Keuchen der Männer zu hören. Als sie endlich ihr Interesse an ihr verloren, teilten sie sich die Flaschen mit Selbstgebranntem, von dem vermutlich jeder andere blind geworden wäre. Beim Komasaufen wurden sie endlich etwas ruhiger.
Die Beleuchtung fiel aus, kam erst nach einigen Minuten flackernd zurück. James hatte eine Taschenlampe in seinem Koffer, aber er würde den Teufel tun, ihn vor den Augen der anderen zu öffnen. Das Fenster auf seiner Seite war ebenfalls mit einer Metallplatte abgedeckt, aber am unteren Rand waren einige Zentimeter ausgelassen worden und wenn er tief genug in den Sitz rutschte, konnte er auf die vorbeiziehende Landschaft sehen. Sie ratterten gerade durch ein totes Industriegebiet. Kleine Gestalten standen an den Magnetgleisen und warfen Steine gegen den vorbeifahrenden Zug.
Alles geht vor die Hunde, dachte James, ist ein Wunder, dass wir alle nicht schon seit Jahrzehnten tot sind. Wir bringen uns lieber gegenseitig um, als endlich einen Neuanfang zu versuchen. Selbst in den Kuppelstädten spüren es die Leute, dass bald alles vorbei sein wird. Hätte Dad sonst angerufen? Er hätte sich selbst darum gekümmert.
Die betrunkenen homeboys hatten sich in die vorderen Sitze verzogen, tranken den Selbstgebrannten und lachten haltlos über alles, was sie sich zuriefen. Die Frau im zerrissenen Kleid, ohne Schuhe und kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten, taumelte den Gang hinunter, ihr Gesicht war blutig geschlagen, ihr Körper voller Bisswunden. Ihre Oberschenkel waren blaugrün angelaufen. Keiner der Reisenden sah sie an. Sie kämpfte sich weiter, mühsam orientierte sie sich mit den halb zugeschwollenen Augen und verschwand in den hinteren Teil des Zuges. James wandte nicht einmal den Kopf, als sie an ihm vorbeikam. Die homeboys würden bald aussteigen, wie die meisten. Scum ging niemals über seinen Bezirk hinaus.
James dachte wieder an die Kuppelstadt, in der seine Eltern in einem winzigen Haus lebten, sich glücklich schätzten, dort sein zu dürfen und keine Ahnung hatten von dem, was draußen vor sich ging und wie James seinen Lebensunterhalt verdiente. Dort mochte es noch sicher sein, aber wie lange noch?
Der Junge, den die homeboys verprügelt hatten, hockte noch immer in der Nische auf dem Fußboden, wischte sich das Blut von der Nase, die wie ein Wasserfall lief. Seine Augenbrauen waren aufgeplatzt, auf seinem grauen rasierten Schädel waren Kratzer und Abschürfungen. James wollte nicht zu ihm herübersehen, aber wandte er den Blick vom Fenster, hatte er ihn direkt in seinem Blickfeld. Sie hatten nichts gemeinsam, so viel stand fest. Es faszinierte James, ihn zu beobachten, denn er gehörte zu der Sorte Scum, dem er immer wieder begegnete. Wenn er Glück hatte, hatte er noch ein oder zwei Jahre, bevor ihn jemand abservierte oder er es selbst erledigte.
Hör auf ihn anzustarren, dachte James, das würdest du mit den homeboys auch nicht tun.
Er drehte sich zum Fenster zurück, ignorierte das Ziehen in seinen Beinen. Das lange Herumsitzen war er nicht gewöhnt.
Noch immer durchquerten sie die Industrieruinen, in der vereinzelte Feuer brannten. Und diese Feuer brannten nicht, um Bewohner warm zu halten. Dort brannten Gebäude und es interessierte niemanden. Eine Feuerwehr gab es in diesen Gegenden schon lange nicht mehr.
Niemand fuhr gerne in den Zügen, mit Ausnahme wahrscheinlich der psychopatischen homeboys und Serienkillern, den Huren, die zwischen den Sitzen ihr Geld verdienten und den Lokführern, die froh waren, noch einen Job zu haben. Niemand setzte sich freiwillig in einen Zug zusammen mit diesen Monstern, aber es war die einzige Verbindung zur anderen Seite des Niemandlandes. Bis zu seiner Ankunft in der Kuppelstadt würde er die Sicherheit seiner Kabine nicht verlassen, er würde niemandem zur Hilfe kommen und genauso würden es alle anderen halten. Wenn sie schlau waren.
Er sah eine Bewegung im Gang, seine Augen huschten in die Richtung, ohne den Kopf vom Fenster zu wenden. Einer der homeboys, ein kräftiger Kerl mit langem schwarzen Haar, taumelte an ihm vorbei durch den Gang, warf die leere Flasche nach dem Jungen, den sie geschlagen hatten, und der konnte sich gerade noch zur Seite fallen lassen und dem Geschoss ausweichen. Glas regnete auf ihn herab, aber er sah weder auf noch machte er Anstalten, die Splitter loszuwerden. Seine Nase blutete noch immer.
Ein harter Schlag ging durch den Zug, einzelne Wagons sprangen hoch und fanden wieder in die Führung zurück. Das Licht flackerte, erlosch und kam wieder, allerdings nur mit halber Kraft. Einige der Reisenden seufzten, setzten sich zurecht, starrten an die Decke. Der nächste Schlag, verbunden mit einem metallischen Kreischen, war noch heftiger, James wurde aus seinem Sitz geschleudert, sein Koffer rutschte über den Kabinenboden. Irgendwo begann ein Kind zu kreischen und der Anführer der homeboys brüllte um Ruhe. James hatte sich den Kopf gestoßen, schob den Koffer unter seine Füße und wünschte, er könnte sich anschnallen für den Rest der Fahrt.
„Verfluchte Scheiße“, brüllte der homeboy, „wenn diese Geisteskranken den Zug verunglücken lassen, mach ich euch alle kalt!“
Alle im Zug wussten, dass das keine leere Drohung war und beim wütenden Klang seiner Stimme machte sich der Junge in der Ecke noch etwas kleiner. James erwischte sich wieder dabei, dass er ihn beobachtete. Er mochte Glück gehabt haben, der Wut der homeboys entkommen zu sein, dass sie das Interesse an ihm verloren hatten, aber früher oder später würden sie sich an ihn erinnern. Noch waren die meisten dabei, sich besinnungslos zu saufen, aber niemand konnte sagen, was passierte, wenn sie vor dem Sperrgebiet aus dem Zug mussten. Der Junge dort unten in der Ecke würde vermutlich mit ihnen aussteigen und mit ihnen die meisten Reisenden. Die Sicherheitskräfte am Haltepunkt vor der Wüste kümmerten sich nicht um den Scum, der den Zug unberechtigt benutzte, obwohl sie es tun sollten. Wenn man Glück hatte, säuberten sie den Zug etwas und ließen ihn weiterfahren.
Die arme Sau wird’s erwischen, dachte James, beobachtete, wie er sich mit dem Saum seines Shirts unter der schwarzen Jacke das Blut aus dem Gesicht wischte, mit den Fingerspitzen die Kitschen in seinem rasierten Schädel betastete; ganz vorsichtig und mit schiefgelegtem Kopf. Den Rücken hatte er an die Metalltür gelehnt, ein Bein untergeschlagen, das ihm sicher schon eingeschlafen war, so lange wie er schon darauf saß. Den Blick hielt er gesenkt, es war immer klug, sich klein und unsichtbar zu machen. Seine tastenden Fingerspitzen fanden eine besonders tiefe Scharte und er zuckte zusammen. Wieder flackerte das Licht. Die Röhren über ihren Köpfen summten laut auf, wurden grellweiß, bevor sie wieder die normale Stärke annahmen.
Noch ein paar Mal, dachte James, und die brennen alle durch.
Er zuckte zusammen, als er wieder zu dem Jungen hinübersah. Er hatte einen Splitter aus der Wunde gezogen, hielt ihn vor seinem Gesicht und betrachtete ihn interessiert zwischen seinen blutigen Fingern. Aus der Kopfwunde floss frisches Blut, lief ihm hinter dem linken Ohr am Hals herab. Er warf den Glassplitter mit einer müden Bewegung von sich. Sein Blick traf sich sekundenlang mit dem neugierigen Blick von James, als er den geschundenen Schädel hob, seine Augen waren blau und drückten nur unzureichend aus, wie müde, krank und abgekämpft er war. Sein Blick war verschleiert von dem Zeug, was er sich in die Venen gepumpt hatte. James wandte den Blick schnell ab, starrte vor sich auf die Reihen der Sicherheitsabteile.
Junkie, dachte er, überall Junkies und homeboys.
Er bewegte die Füße um festzustellen, ob der Koffer noch da war. Bis der Zug das nächste Mal hielt, schaffte er es noch wach zu bleiben und nicht mehr zur Tür zu sehen. Nur im Augenwinkel sah er, dass er Recht gehabt hatte. Anstatt sich weiter um seine blutenden Wunden zu kümmern, zog der Junge sich den nächsten Trip rein, benutzte dazu einen Pen, den er irgendwo in den Tiefen seiner Jacke versteckt hatte. Der Haufen homeboys machte sich bereit für den Ausstieg, tranken eine letzte Runde, grölten, warfen Flaschen und hämmerten gegen die Wände und Kabinen. Ihr Boss grinste selbstgefällig, als der Junge ihnen hastig Platz machte, sich in eine leere Sitzreihe verzog und sich so klein wie möglich machte. Dabei war er weder klein noch schmächtig, er hatte breite Schultern und muskulöse Arme, die aus den zerrissenen Jackenärmeln herausschauten. Er trug löcherige Jeans und seine Schuhe waren etwas Besonderes. James Blick fiel auf sie, während er beobachtete, wer den Zug verließ. Es waren grobe Lederschuhe, halbhoch über die Knöchel mit Stahlkappen und Metallschnallen. Keiner der scums oder der homeboys hatte solche Schuhe – sie mussten sie glatt an ihm übersehen haben, dass er sie noch immer trug. Sie sahen militärisch aus.
Der Zug wurde langsamer, rollte aus, hielt an. Es dauerte einige Sekunden, bis die automatischen Türen aufsprangen, ein saugendes gummiartiges Geräusch machten. Noch vor wenigen Jahren hätte eine laute Stimme den Namen der Stadt und des Haltepunktes angesagt, aber nun war da nichts, nur die Stimmen der Menschen, ein Durcheinander der verschiedenen Dialekte und Gang-Slangs. Niemand stieg zu. Die homeboys drängten sich gegenseitig durch die Tür, sahen sich auf dem verrotteten Bahnsteig um, kamen aus allen Abteilen zusammen. Es waren mehr als zwanzig. James beobachtete das Verschwinden der homeboys, behielt den Anführer im Auge, der in der offenen Schleuse stand. Gerade, als er sich endlich vom Zug entfernte, schoss der Junge mit dem rasierten Schädel und den verletzten Augenbrauen aus der Sitzreihe hoch, pfiff durch die Zähne und zeigte ihm mit hoch erhobenen Armen beide Mittelfinger. Der homeboy reagierte sofort, ließ einen gebrüllten Befehl hören und sprang zurück in den Zug.
Der ist lebensmüde, dachte James hingerissen, die werden ihn nach draußen zerren und ihm den Hals umdrehen.
Er wollte wegsehen, weil es das Beste war, was man in einer solchen Situation tun konnte, aber er war so gefesselt von dem, was sich da anbahnte, dass er nicht anders konnte.
Der Junge hatte entweder unglaubliches Glück oder sein Timing war so perfekt, dass er genau abschätzen konnte, wann der Anführer der homeboys in den Zug zurückgesprungen kam und wann sich die automatischen Türen hinter ihm schlossen. So etwas wie eine Lichtschranke gab es nicht; waren die Türen einmal in Bewegung, waren sie durch nichts mehr aufzuhalten. Der Anführer der homeboys war getrennt von seinen Jungs, die auf dem Bahnsteig neben dem Zug herliefen, der schnell beschleunigte und sie hinter sich ließ. Er hatte kein Problem damit, dass er allein war, er griff den Jungen ohne zu zögern an, rammte ihn mit seinem Gewicht gegen die Rückwand des Abteils. Sie kämpften keuchend und zischend, ohne unnötige Worte. Sie starrten sich in die Augen, beide gleich groß, aber in verschiedenen Gewichtsklassen. Der homeboy holte erneut aus und schlug zu, knallte den Kopf des Jungen an die Wand, dass dieser ein Stück tiefer rutschte, als hätten die Beine unter ihm nachgegeben.
Der homeboy würde von dem Jungen nicht viel übrig lassen. Der Junge kam mit einer schnellen Bewegung wieder nach oben, schnellte mit der rechten Schulter vor und verschaffte sich Luft. Der homeboy atmete pfeifend, seine Fäuste schlugen nicht mehr zu, er tastete an seine Seite, senkte langsam den Kopf. Der Junge beobachtete ihn mit schief gelegtem Kopf und ausdruckslosem Gesicht, ließ etwas in seiner Tasche verschwinden, von dem James wusste, dass es ein Messer war. Aus der Wunde sprudelte Blut. Der Anführer der homeboys hatte einen angestochenen Lungenflügel, der nach Sekunden kollabierte, ihn ersticken und verbluten ließ, noch bevor er zu Boden ging, dort zuckend liegen blieb. Der Junge triumphierte nicht. Er zitterte am ganzen Körper, ging in die Sitzreihe zurück, wo er sich zusammenrollte, die Hände über den Kopf zusammenlegte.
James wagte sich nicht zu rühren, konnte den Blick nicht von dem Toten nehmen, von dem vielen Blut. Solche Dinge hatte er schon oft gesehen, aber er konnte nicht behaupten, dass er sich daran gewöhnte. Der Junge vor ihm in der ungesicherten Sitzreihe atmete noch immer keuchend. Es klang nach dem Atemwegsinfekt, den die meisten hatten, die nicht das Glück hatten, in den sauberen gefilterten Kuppelstädten leben zu dürfen. Wieder ging ein metallisches Stöhnen durch den Zug, das Licht erlosch und kam erst nach Minuten wieder zurück. Jemand rief aus dem vorderen Teil des Wagens: „Ist noch jemand hier, der bis zur Endstation fährt?“
Es war eine zitternde hohe Stimme, nicht zu erkennen, ob männlich oder weiblich. James wollte antworten, aber eine wütende verwaschene Stimme hinter ihm sagte: „Halts Maul, verstanden?“
Im flackernden Licht sah James einen Mann in einem gesicherten Abteil auftauchen, neben sich ein junges Mädchen, die verängstigt aussah. Wenn sie den Massenfick der homeboys beobachtet hatte, hatte sie allen Grund, Angst zu haben.
„Wir fahren weiter“, rief der Mann, „das Licht sollte uns keine Sorgen bereiten.“

Oh Gott, ich will endlich ein paar Stunden schlafen, dachte James, schloss endlich für einen Moment die Augen, dämmerte sofort weg.
Sie hatten längst die letzten bewohnten Gebiete verlassen, auf der anderen Seite des toten Landes würden sie bald die ersten kleinen Kuppelstädte sehen können. Wenn der Wind in die richtige Richtung blies und den Dreck von ihnen wegtrieb.
Das flackernde Licht bereitete ihm keine Sorgen, wohl aber das Kreischen der Magnetschiene und der unglaubliche Schlag, der durch den ganzen Zug ging, der sie alle aus ihren Sitzen hob und die plötzliche Stille danach. Noch einen Moment das Gefühl von Bewegung, dann Stillstand. Das Licht erlosch, ebenso wie das Summen der Klimaanlage, und zu James Entsetzen, lösten sich ebenfalls die elektronischen Sicherungen seiner Kabine.

Stillstand.
Der Strom kam nicht zurück. Es war eigentlich unmöglich, denn die Züge verfügten über unabhängige Stromquellen, aber bisher war es wohl auch noch nicht vorgekommen, dass ein Zug auf der Strecke einfach stehen blieb. James wagte sich nicht zu bewegen. Ein wenig Licht, das letzte Tageslicht, fiel durch die Spalten und Ritzen der Fenster, holte die ersten Passagiere aus dem Dämmerlicht, die durch den Gang wanderten. Es waren outskirts, aber keine homeboys, nur Männer in schlechter Kleidung und mit ängstlichen Gesichtern. Männer, die irgendwo Arbeit suchten, halb verhungert und krank waren, sich in die Züge schmuggelten in der Hoffnung, es würde in den anderen Siedlungen etwas besser für sie laufen. Ein alter Mann weinte, sein schluchzen tauchte neben James auf, verschwand wieder, kam zurück. Er humpelte in eine Sitzreihe, ließ sich dort nieder.
„Hier bei der Tür liegt jemand“, sagte eine Stimme. James bewegte sich unwohl. Als er in die Dämmerung sprach, klang seine Stimme verfälscht.
„Vielleicht hat er sich den Kopf gestoßen.“
Wem machst du da etwas vor? fragte er sich, wie lange sollen sie glauben, es wäre ein Unfall gewesen? Bis das Licht wiederkommt und alle das Blut sehen?
„Ist ihre Kabine noch gesichert?“ James drückte seine Tür auf, trat auf den Gang und gesellte sich zu den anderen. Seinen Koffer ließ er im Abteil. Nur keine Aufmerksamkeit darauf lenken.
Es waren vier Männer, eine Frau. Den Jungen hatte er nicht mitgezählt, denn er hatte sich noch nicht aus der Lücke zwischen den Sitzen herausbewegt, sich nicht gerührt.
„Was sollen wir tun? Die Türen öffnen und nachsehen, was passiert ist? Werden wir hier nicht ersticken, wenn wir die Türen nicht öffnen?“
„Niemand rührt die Türen an.“ Der Mann mit seiner Tochter, die er nicht von seiner Seite weichen ließ, hatte sich über den toten homeboy gebeugt.
„Wir stecken in der Wüste fest“, sagte er, „nicht weit weg von den letzte homeboy-Siedlungen. Keine gute Idee, ihnen die Türen zu öffnen.“
Er räusperte sich.
„Linn, du bleibst bei mir. Geh nicht zu dem Toten.“
„Das ist einer von den homeboys.“
Er zog sie von dem Toten weg, sagte in die Runde: „Ich habe früher für die Transportgesellschaft gearbeitet. Ich bin wochenlang mit den Zügen unterwegs gewesen. Es kann nicht lange dauern, bis sie uns finden auf der Strecke.“ Wieder räusperte er sich, verzog dabei das Gesicht. „Ich bin Bob Matthews. Das ist Linn, meine Tochter.“
„Diese Züge sind nicht sicher.“ Der alte Mann weinte noch immer. „Es passiert so viel in diesen Zügen und niemand kümmert sich darum.“
„Wann werden wir gerettet?“ fragte ein anderer. Er war ein dünner Mann mit nervösen Augen.
„Halt dein Maul, dummes Stück Scheiße. Warum sollte dich jemand retten?“ Der Junge tauchte hinter ihnen auf, saß plötzlich auf der Rückenlehne einer Bankreihe, sah gleichgültig umher. Sein Gesicht und sein Hals waren mit getrocknetem Blut verklebt, auf seinem Schädel und an seinen Schläfen zeigten sich bereits ausgeprägte Hämatome. Die letzten Erinnerungen an den homeboy.
„Wer...“, fragte der Mann, den der Junge beleidigt hatte, das Gesicht panisch verzogen. Sie alle glaubten, es wäre noch ein lebender homeboy unter ihnen.
„Das ist Cy“, sagte Linn. Ihr Vater drehte sich zu ihr herum. Sie sprach den Namen wie sigh aus und es klang verächtlich. „Ich hab gehört, wie die homeboys ihn so genannt haben.“
„Ist er einer von ihnen?“
„Nein“, sagte James, „das heißt, ich glaube nicht.“
Cy machte eine schnelle Bewegung in seine Richtung, als wolle er nach ihm schlagen und er zuckte zurück.
„Vielleicht wärt ihr froh, wenn ich ein homeboy wäre.“
Er kletterte über die Rückenlehnen, von den anderen weg, bis er am Ende des Abteils angekommen war.
„Dieser Spinner ist nicht wichtig“, sagte Matthews, „wir sollten uns darauf konzentrieren, was wir unternehmen, um von hier wegzukommen.“
Sie setzten sich am anderen Ende des Abteils in einer Gruppe zusammen, manche auf dem Fußboden, die anderen in den Sitzreihen. Matthews übernahm das Kommando, niemand machte es ihm streitig und sie diskutierten über seine Vorschläge. Selbst Weyland, der alte ängstliche Kerl, vergaß das weinen und sagte, er mache sich Sorgen darüber, dass sie alle verdursten könnten.
„Das wird nicht passieren“, sagte Matthews, sah in die Runde der Gesichter um sich herum, „wir müssen nur nach vorn in die Zugkanzel. Jetzt, wo die Lüftung ausgefallen ist, werden wir hier drin der Wüste ausgesetzt sein. Das heißt, es wird abwechselnd sehr heiß und sehr kalt werden. Aber auch das ist nicht das Problem. Schließlich wird man merken, wenn unser Zug nicht ankommt und sie werden einen Trupp losschicken.“
„Entschuldigung“, sagte der Mann neben James. Er hatte sich die ganze Zeit stumm zurückgehalten, als hoffe er, dass ihn das alles nicht selbst betreffen würde.
„Ich frage mich gerade, wo die anderen sind. Wir können doch nicht die einzigen sein, die noch im Zug waren. Und wo ist der Zugführer? Der hätte doch mal nach seinen Passagieren sehen müssen, oder?“
James sah ihn fragend an. Er sagte es nicht laut, aber wäre er an der Stelle des Zugführers, würde er sich in erster Linie um sich selbst kümmern, nicht um seine Passagiere.
Er stellte sich mit seinem Namen vor, sagte: „Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich schlage vor, wir gehen einfach mal nachsehen, was mit dem Zugführer los ist.“
Er zog seinen Mantel aus, legte ihn zurück in seine Kabine, wo er den Koffer vor den Blicken der anderen abdeckte.
„Möchte noch jemand mitkommen?“
Sie bahnten sich einen Weg durch den Zug, James und Matthews und Vinnie, der sich ihnen anschloss, weil er sagte, er wolle ebenfalls nach dem rechten sehen.
„Was ist mit mir?“ fragte Linn, „kann ich mitkommen?“ Ihr Vater nickte in die Richtung der Sicherheitskabine.
„Du bleibst hier. Wir sind schnell zurück.“
„Wie schnell?“ erwiderte Linn.
„Wenn wir in einer halben Stunde nicht zurück sind, kann vielleicht einer der Herren nach uns sehen kommen. Aber es wird nicht nötig sein.“ Der verunsicherte Mann, den Cy angeschnauzt hatte und sich als Sam Simmons vorgestellt hatte, setzte sich neben sie, deutete mit dem erhobenen Daumen in Matthews Richtung.
Linn zog die Beine an sich heran, sie trug Chinos und Sportschuhe, ihr Haar war halblang und dunkelblond. In dem weiten Pullover ließ sie nicht viel Figur erkennen, gut ausgesucht für eine Reise auf unsicherem Gebiet. Sie sah auf ihre Uhr, dann auf Weyland und Simmons und murmelte: „Meine Kackuhr ist stehen geblieben.“

Matthews ging als erster durch die aneinander gekoppelten Wagen, sie bewegten sich vorsichtig, wunderten sich über herumliegende Gepäckstücke, über ein zerbrochenes Fenster. James warf einen Blick hindurch, blinzelte und sagte zu den beiden Männern: „Es wird schnell dunkel.“
Matthews öffnete die hydraulische Tür, murmelte vor sich hin, dass es eigentlich unmöglich sei, diese Verbindungstüren ohne weiteres zu öffnen.
„Was ist mit dem homeboy passiert?“ flüsterte Vinnie in James Richtung. Ihre Augen hatten sich schnell an das Dämmerlicht gewöhnt, sie konnten den Hindernissen ausweichen, die Türen öffnen und kamen ohne Probleme bis vor die letzte Tür – die Tür zur Fahrzeugkanzel.
„Warum soll ich wissen, was mit dem homeboy passiert ist?“
„Er liegt direkt vor deiner Kabine, Schlaukopf.“
„Ich hab nichts gesehen.“
„Ja, klar.“ Vinnie verzog das Gesicht. Er schien zwischen dreißig und vierzig Jahre alt zu sein, aber etwas an ihm, an seinem Äußeren, erweckte den Eindruck, als sei er viel älter. Möglicherweise hatte er mehr durchgemacht als er hatte ertragen können.
„Soll ich raten?“ Er machte eine Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Ich kann eine ziemlich gute Vermutung abgeben, mit wem er sich angelegt hat.“
Matthews brachte die letzte Tür nicht auf. Er hatte vergeblich nach dem Lokführer gerufen und gegen die Tür getreten, war schnell außer Atem und hielt sich eine Hand auf die Brust gepresst. Die Stahltür zur Lokkanzel war zerschrammt, aber intakt und Matthews vermutete, dass sich von innen etwas verkantet haben musste.
„Versuchen wir es von außen“, sagte James, „werfen wir einfach einen Blick durch die Fenster.“
Vinnie sagte: „Ich bin dabei.“
„Nein“, sagte Matthews. Er fuhr sich mit einer Hand durch den grauen Bart. Mit vereinten Kräften bearbeiteten sie die Tür, schlugen gegen das elektronische Schloss in der Hoffnung, es würde einfach aufspringen. James murmelte: „Das wird nicht funktionieren. Warum versuchen wir nicht...“
Und in dem Augenblick machte die Hydraulik ein saugendes Geräusch und die Tür schob sich zur Seite. Sie hatten freien Blick in die Kabine, auf die gesprungene Fensterscheibe, den leeren Fahrersitz.
Was ist hier passiert? dachte James. Zum ersten Mal fühlte er in seinem Inneren eine Unruhe, eine Ahnung, dass hier etwas von Grund auf falsch lief. Matthews deutete auf verschließbare Konsolen neben sich.
„Hier sind für gewöhnlich die Vorräte drin“, sagte er, machte eine Runde durch die Kabine, sah durch die abgetönten Scheiben hinaus in die Wüste. Das Licht war fast verschwunden.
„Keine Anzeichen, was hier passiert ist“, sagte er. Er klang enttäuscht und erleichtert zugleich. Vinnie öffnete die Konsolentüren, fand dort abgepackte Lebensmittel und Kanister mit Trinkwasser.
„Hey“, sagte er, „zumindest das sieht gut aus.“
Er klemmte sich so viel auf den Arm, wie er tragen konnte.
Die spitzen grellen Schreie, die durch den Zug hallten, ließen sie erstarren. Zunächst rätselten sie darüber, wo die Schreie herkamen, dann rannte Matthews los, durch die Kabinen und die offen stehenden Verbindungstüren. James drängte sich an Vinnie vorbei, rannte Matthews nach und versuchte sich nicht vorzustellen, was Linn so zum schreien brachte.
Wir hätten sie nicht bei Cy lassen dürfen, dachte er.
Sie erreichten die Kabine, Linn kam ihnen entgegengelaufen, wild mit den Armen rudernd.
„Was ist los?“ Matthews hielt sie an den Schultern fest, schüttelte sie, als sie nicht antwortete. Aber das brauchte sie gar nicht – die drei homeboys, die im Gang standen, als seien sie gerade hirnlos vom Himmel gefallen, waren nicht zu übersehen.
„Sie sind plötzlich aufgetaucht“, sagte Linn, drehte sich im Arm ihres Vaters um, „und mir ist nichts besseres eingefallen, um euch wieder herzukriegen. Aber du hättest nicht rennen dürfen, Dad.“
„Deine Stimme war nicht zu überhören. Was wollen sie?“
„Frag sie“, erwiderte Linn.
Die homeboys waren kaum zwanzig, langhaarig und in Leder gekleidet, sie standen nahe beieinander und der eine sagte mit verwaschener Stimme: „Was issn hier passiert?“
„Wir sind stehen geblieben“, fragte Matthews, „der Zug ist stehen geblieben. Wir denken, dass wir verunglückt sind.“ Er versuchte, es wasserdicht zu machen.
„Verunglückt?“ Der homeboy sah sich um, zog sich die Lederhose am Bund zurecht, die ihm den Hintern heruntergerutscht war. „Dann würde es brennen, oder? Oder der Zug wäre umgekippt.“
„Du bist so ein dummes Arschloch“, sagte der homeboy neben ihm, „wir haben davon nix mitgekriegt, wir haben gesoffen und sind eingeschlafen. Wo sind die anderen?“
„Das wissen wir nicht.“
Matthews starrte zu ihnen hinüber, versuchte sich zu entscheiden, ob er ihnen trauen konnte. Aber was blieb ihm anderes übrig? Wieder hatte er vor Augen, wie die Horde homeboys über die Frau hergefallen waren. Wenn die drei sich beteiligt hatten, egal, ob sie dabei betrunken gewesen waren oder nicht, würde er dafür sorgen, dass sie seiner Tochter nicht zu nahe kamen. Zur Not würde er die drei mit ihren eigenen langen gotteslästerlichen Haaren aneinanderfesseln, um sie unter Kontrolle zu halten.
„Ihr seid homeboys“, sagte er, lauter als nötig, „wir stecken hier alle fest, bis wir Hilfe bekommen, also solltest ihr euch einmal im Leben zusammenreißen. Wenn ihr es nicht tut, werdet ihr genauso enden wie euer Freund. Den haben wir abserviert.“
Einer der homeboys, der jüngste von ihnen, mit einem halbrasierten Schädel und einer breiten Narbe im Gesicht, ging zu dem Toten hinüber, drehte ihn auf den Rücken und hockte neben ihm, starrte ihm ins Gesicht. Er lachte in sich hinein, stach dem Toten mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. Dabei klang er wie ein fröhlicher kleiner Junge.
„Es ist Black“, sagte er zu den anderen, „mausetot. Da hat ihm jemand die Luft rausgelassen.“ Er hob grinsend den Kopf. „Wer von euch Experten ist denn nahe genug an ihn rangekommen?“
Niemand sprach. Weyland räusperte sich den Hals frei und sagte: „Er war keiner von euch?“
Er lachte wieder. Trotz seiner Narbe war er ein hübscher Junge, stellte sich später als Leo vor, und James dachte bei sich, während er das ganze beobachtete, dass er niemandem trauen konnte.
„Black war ein homeboy, aber keiner aus unserer Gang. Mir ist es scheißegal, ob der alte Furz lebt oder tot ist.“
„Ich habe Durst“, sagte Linn. Sie war einige Schritte hinter ihren Vater getreten, stand neben Vinnie und hielt die Arme vor der Brust verschränkt.
„Kein Problem“, sagte Vinnie eifrig, „wir müssen nur die restlichen Vorräte herholen.“
Dann zogen sie es vor, in den vorderen Wagen des Zuges zu ziehen, anstatt die restlichen Vorräte durch den halben Zug zu tragen. Nur der tote Black blieb zurück, starrte mit glasig-trockenen Augen an die Decke. James hielt seinen Koffer unter dem Mantel verborgen, sagte zu den anderen, sie sollten alle herumliegenden Gegenstände einsammeln und mitnehmen. Sie konnten alles gebrauchen.
Cy ging neben ihm her, kaum erkennbar in der zunehmenden Dunkelheit. Er hatte sich fast unbemerkt der kleinen Gruppe wieder angeschlossen, aber bislang hatte er mit niemandem ein Wort gesprochen. Die vordere Kabine bot ihnen allen genug Platz, jeder suchte sich eine Ecke, ein Stück Wand für seine Sachen, wobei die drei homeboys sich etwas abseits hielten. Linn blieb neben ihrem Vater, der es wie selbstverständlich übernahm, die Vorräte und das Wasser einzuteilen. Niemand protestierte dagegen. Weyland begann seinen fürchterlichen Husten zu pflegen, entschuldigte sich deswegen.
„Ich suche meine Frau“, sagte er, „sie ist vor fünf Jahren in einem Zug verschwunden. Während der Fahrt. Sie wollte den Waschraum aufsuchen und ist nicht zurückgekommen. Seitdem suche ich sie. Diese Züge machen mir Angst. Manchmal glaube ich, ich hätte sie irgendwo auf dem Bahnsteig gesehen oder ihr Gesicht spiegelt sich irgendwo, aber dann war es doch nur ihr Geist. Oder meine Erinnerung an sie. Aber ich gebe nicht auf. Ich suche sie weiter. In diesen verdammten Zügen.“
Inzwischen war es stockdunkel und draußen in der Wüste begann der Wind zu heulen. James benutzte seinen Koffer und seinen zusammengerollten Mantel als Kopfstütze, hatte sich eine der vorderen mit Stoff bezogenen Bänke als Lager ausgesucht. Er war nicht sicher, ob er überhaupt schlafen könnte, aber er hatte sich den Platz zwischen Matthews und Vinnie ausgesucht, fühlte sich dort einigermaßen sicher. Cy hatte sich in einer Ecke auf dem Fußboden zusammengerollt, den Kopf zur Wand gedreht und war allem Anschein nach sofort eingeschlafen. Die beiden Männer, die sich flüsternd miteinander unterhielten und noch immer herauszufinden versuchten, ob man den homeboys trauen konnte oder nicht, hatten sich als John Gordo und Sam Simmons vorgestellt und sie schienen geborene Mitläufer zu sein. Beide hatten kaum einen Ton gesagt.
„Dad“, flüsterte Linn, „suchen sie schon nach uns?“
„Sicher“, sagte Matthews, „aber sie werden warten, bis es wieder Tag wird. Du wirst schon sehen, dass sie morgen früh mit einem Ersatzzug kommen und dann bringe ich dich nach Hause.“
„Okay“, sagte Linn. Sie tat so, als würde sie schlafen und belauschte die geflüsterten Gespräche zwischen Gordo und Simmons. Vinnie setzte sich halb auf, stieß dabei James mit dem Knie an und entschuldigte sich.
„Ist er auch einer von denen?“
„Was?“
„Cy. Gehört der auch zu den homeboys?“
„Selbst wenn, er spielt in einer anderen Liga.“
„Ich hab vorhin gesehen, dass er sich was rein gezogen hat.“
„Er ist mit Sicherheit nicht der einzige.“
„Und meine Uhr ist stehen geblieben.“
James suchte seine Uhr aus der Hosentasche und stellte fest, dass seine ebenfalls nicht mehr lief.

Es schien ewig zu dauern, bis es wieder hell wurde. Endlich zeigte sich die erste Morgenröte der Wüste, und Linn war die erste, die sich nach vorn in die Kabine schlich, um aus dem Panoramafenster zu sehen. Der Schienenstrang vor ihr war leer bis zum Horizont und sie machte sich keine Hoffnung, schnell gerettet zu werden. Wie immer hatte ihr Vater nur versucht, nett zu ihr zu sein und ihr nicht die hässliche Wahrheit zu sagen.
Linn, es gibt schon seit fünfzehn Jahren keine Reparaturzüge mehr, deshalb kann uns niemand retten kommen.
Sie ließ ihn häufig in dem Glauben, dass sie von all dem drum herum nichts mitbekam. Sie hatte den Gangbang sehr wohl mitbekommen und hatte auch gesehen, dass die drei anwesenden homeboys daran beteiligt gewesen waren. Den mit der Narbe im Gesicht hatte sie wieder erkannt. Sie alle hatten sich bei der Frau bedient, der eine länger, der andere kürzer, und es war eine ganz klare Lüge, dass sie nichts mit Black zu tun gehabt hatten.
Ich muss dafür sorgen, dass sie mich in Ruhe lassen, dachte sie, wünschte die Sonne Stück für Stück den Horizont hinauf, Dad wird mich nicht beschützen können, wenn er wieder versuchen wird, alle Zügel in der Hand zu behalten.
Sie hörte etwas hinter sich, drehte sich herum. Es war der schlaksige Mann, der sich als Simmons vorgestellt hatte. Er sah ihr erschrockenes Gesicht, hob vorsichtig die Hände.
„Keine Angst“, sagte er, „ich war nur auf der Suche nach... ich dachte, hier wäre eine Toilette beim Zugführer. Aber ich geh lieber nach hinten in den Zug. Verdammt kalt geworden in der Nacht, was?“
Sie sagte nichts.
„Entschuldige, ich bin wirklich harmlos. Ich bin stockschwul, Okay? Du brauchst keine Angst zu haben.“
Sie drückte sich an ihm vorbei, verließ die Kanzel.

Alle waren wach, liefen umher und Matthews begann Wasser und ein paar Lebensmittel zu verteilen. Vinnie trank sein Wasser, verschwand zum pinkeln und vermeldete, dass er nicht stundenlang herumsitzen und auf Rettung warten würde.
„Ich geh raus und werde nachsehen, was überhaupt passiert ist“, sagte er.
„Niemand verlässt den Zug“, sagte Matthews sofort, „niemand weiß, was dort draußen lauert.“
„Was soll denn da lauern?“
„Homeboys jedenfalls nicht“, sagte Leo.
„Jeder weiß, dass die Wüste den homeboys gehört.“
„Da bist du aber einer verschissenen Lüge aufgesessen, du Fickgesicht.“
Vinnie erhob sich.
„Weshalb sollten wir dir glauben?“
„Woher soll ich wissen, dass ihr uns nicht abstecht wie den alten Black, während wir schlafen?“
„Niemand wird irgendetwas tun“, rief Matthews, „wir harren aus und warten auf Hilfe. Wenn allerdings jemand zu Fuß losziehen möchte, kann er das gerne tun. Da werde ich niemanden aufhalten.“
„Eben hast du noch gesagt, du lässt niemanden aus dem Zug“, sagte einer der anderen homeboys und grinste herausfordernd. Matthews grinste humorlos zurück.
„Damit meinte ich, dass ich euch gerne rauslasse und die Tür hinter euch verriegeln werde. Klar?“

Weyland hatte eine unruhige Nacht verbracht, durchwühlte gerade eine Tasche, die er in der Gepäckablage gefunden hatte und sagte: „Donnerwetter.“
In der Tasche, die geöffnet vor ihm stand, lagen ein paar Magazine und grüne Geldbündel, ordentlich zu dicken Bündeln zusammengerollt. Er wagte sie nicht zu berühren.
„Ist das Geld?“ fragte er.
In jedem Gesicht war die Neugierde zu lesen, wer sich als erster als Eigentümer der Tasche melden würde, aber niemand machte den Anfang.
„Wer fährt mit soviel Bargeld herum?“ fragte Vinnie, „das kann doch nur geklaut sein.“
„Ich hatte noch kein Wasser“, sagte Cy. Linn wollte ihm einen Becher reichen, aber ihr Vater drückte sie zur Seite, sanft aber bestimmt.
„Nimm das Wasser und halte dich von uns fern“, sagte er, „bleib bei den anderen homeboys, verstanden?“
Simmons sagte: „Geklaut oder nicht, wer lässt die Tasche im Zug liegen?“
„Hab ich irgendeinen Scheiß verpasst?“ Das Blut war aus seinem Gesicht verschwunden, die Wunden auf seinem Schädel waren verkrustet und nur die Hämatome sahen frisch aus in ihrer ganzen Farbskala. Wie er so dastand, wirkte er klein und dünn und niemand, der ihn so sah, hätte ihm den Kampf mit Black zugetraut.
Er täuscht uns, dachte James, er ist nie das, was wir glauben.
„Er ist keiner von uns.“ Pruitt, der zweite homeboy, hatte eine Stimme, die nach Aufmerksamkeit verlangte. Sie alle, bis auf Cy, drehten sich zu ihm herum und niemand bemerkte, wie schnell die Sonne aufgegangen war.
„Ich würde es nicht wagen, uns als die Krone der Menschheit zu bezeichnen, aber es gibt noch immer Typen, die eine Stufe tiefer stehen als wir. Er gehört zu ihnen. Er ist ein Cy.“
Das war es, was Linn gehört hatte, aber sie hatte geglaubt, es sei sein Name gewesen. Sie rückte weiter von ihrem Vater ab, tastete sich in eine Bankreihe zurück und beobachtete die Szene. Sie musste dringend pinkeln gehen, ihr Unterleib fühlte sich an, als würde alles platzen wollen, aber der Weg war versperrt. Und sie wollte nichts von dem verpassen, was da vor sich ging.
„Was soll das sein? Davon hab ich noch nie was gehört.“
„Das sind Typen, die von allen gemieden werden. Niemand kann ihnen trauen. Wenn wir mal einen erwischen, machen ihr den normalerweise kalt.“
„Woran wollt ihr so jemanden erkennen?“ fragte James.
Cy, dessen wirklichen Namen niemand kannte, versuchte zu flüchten, noch bevor die drei homeboys lossprangen, aber bevor er sich auch nur wenige Meter fortbewegen konnte, hielten ihn mehrere Hände fest, Leo brachte ihn zu Fall und kniete sich auf seinen Rücken, hebelte seine Arme nach hinten.
„An so was erkennen wir sie“, sagte Pruitt, riss die Jacke nach oben und legte den Rücken frei.

Niemand hatte so etwas bisher gesehen, nicht einmal Vinnie, der lange Jahre Soldat gewesen war. Sie starrten auf den von Narben und alten Verletzungen übersäten Rücken, versuchten sich nicht vorzustellen, wie man jemandem so etwas beibrachte, bis Matthews sagte, sie sollten ihn loslassen. Er zog seine Jacke aus, mit einmal war es sehr heiß geworden. Cy mühte sich auf die Füße, hielt den Blick gesenkt und verließ das Abteil.
„Oh Mann“, flüsterte Vinnie, „was hinterlässt eine solche Narbe?“
„Das will ich gar nicht wissen“, sagte James, „aber ich glaube nicht, dass das die Wahrheit gewesen ist. Die homeboys lügen.“
Linn drängte sich an ihnen vorbei, machte nur noch kleine vorsichtige Schritte, weil ihre Blase sich sonst spontan entleert hätte, konzentrierte sich mit einem Tunnelblick auf das Halten des Wassers, bis sie glaubte, weit genug weg zu sein. In der WC-Kabine stank es gewaltig, deshalb versteckte sie sich in einer Nische. Mit dem Gesicht zur Decke gewandt, zerrte ihre Hose auf und bis auf die Knie hinunter und hockte sich hin. Das Wasser lief zwischen ihren Schuhen hinweg, in einem dünnen Rinnsal, der rasch auf dem schiefen Boden ablief.
Das war verdammt knapp, dachte sie, noch zwei Sekunden länger und ich hätte vor allen in einer nassen stinkenden Hose dagestanden.
Als sie die Hose wieder hochzog, sich unbehaglich und erleichtert umsah, entdeckte sie Cy einige Kabinen von sich entfernt, starrte zu ihm hinüber und begriff erst nach einiger Zeit, dass er sie nicht beobachtete. Er war mit sich selbst beschäftigt, hantierte mit seinen Drogenutensilien herum. Linn wagte sich nicht zu bewegen, ängstlich zögernd, ob er auf sie aufmerksam werden würde, wenn sie sich bewegte.
Geh schon, beweg dich, dachte sie, zurück zu den anderen.
Sie war wie gelähmt, stand in der langsam abtrocknenden Pfütze des eigenes Urins, der Geruch stieg ihr immer stärker in die Nase; aber der Gedanke, der sie schnell und leise wie eine Katze verschwinden ließ, war der an die Tasche voller Geld, die jemand verloren und ein anderer gefunden hatte. Sie war zu neugierig, ob man das Geld untereinander aufteilen würde.
„Wo hast du gesteckt?“ fragte ihr Vater, zog sie zu sich, das Gesicht wieder zu dieser sorgenvollen Miene verzogen, die er nur selten ablegte. Es war überflüssig, etwas dagegen unternehmen zu wollen.
„Ich war mich erleichtern“, sagte sie.
Vinnie, dessen seltsame Haare immer weiter von seinem Schädel abstanden, hatte die Tasche mit dem Geld an sich genommen und weigerte sich, die anderen zählen zu lassen.
„Warum zählen wir nicht nach, wie viel es ist?“ fragte Pruitt und bekam sofort zu hören, dass jeder das verdammte Geld zählen würde, ausgenommen der homeboys.
„Niemand zählt es“, sagte Matthews, „wenn wir nicht wissen, wie viel es ist, streiten wir uns nicht darüber, wie viel jeder bekommt.“
„Und wer hat ihm erlaubt, darauf aufzupassen?“
„Traust du mir nicht?“ Vinnie funkelte zu Pruitt hinüber.
„Ich traue niemandem.“
„Genau deshalb.“
„Habt ihr das bemerkt?“ fragte James. Er stand in der Tür zur Zugkanzel, drehte sich zu den anderen herum. „Wie schnell die Sonne aufgegangen ist. Es ist verdammt schnell heiß geworden.“
„Wir sind in der Wüste“, sagte Weyland. Er hatte sich das speckige Hemd an den Ärmeln aufgerollt, zeigte dürre ausgetrocknete Streichholzarme. James hatte noch nie solche Arme an einer noch lebenden Person gesehen.
„Es ist nicht nur die Wüste. Wie spät ist es?“
Sie alle sahen auf ihre Uhren und sie alle stellten fest, dass sie stehen geblieben waren. Nicht alle zur gleichen Zeit, seltsamerweise fand sich kein Muster, wie die Uhren stehen geblieben waren.
„Die Batterie ist nicht leer“, sagte James, nahm seine Uhr und klopfte sie hart gegen die Wand, „dann wäre die Anzeige weg. Die Ziffern sind einfach stehen geblieben.“
Es wurde mit jeder Minute heißer in dem Zug, und sie verzogen sich müde und schwitzend in eines der Abteile, in dem die Fenster zerbrochen waren, in der Hoffnung, ein Luftstrom würde Kühlung bringen. James beobachtete, dass sich zwei Gruppen bildeten und merkwürdigerweise hielt sich John Gordo, der Mann mit dem scheußlichen karierten Hemd, der ständig auf seine Schuhspitzen hinuntersah, plötzlich an die homeboys. Er plauderte mit ihnen, soweit diese Typen überhaupt einen Sinn und die Fähigkeit dazu hatten, erzählte von den Jobs, die er schon gemacht hatte und wo er schon überall gewesen war. Sie reagierten weder feindselig noch aggressiv, aber sie waren auch nicht dämlich. Sie warteten ab, was Gordo eigentlich von ihnen wollte. Die Luft in dem Abteil war nicht besser, es zog heiße trockene Luft durch die Fenster und das Licht war so grell, dass sie es vermieden nach draußen zu sehen.
„Dort flimmert alles“, sagte Linn. Der Schweiß lief ihr zwischen den Brüsten und an den Schenkeln herab, tropfte aus ihrem Haar. Sie hatte fürchterlichen Durst, aber sie sagte nichts.
Eine Weile schlafen, dachte sie, die heißen Stunden verschlafen.
Der Metallfußboden war schmutzig aber kühl, sie legte sich hin und schloss die Augen. Jemand erzählte einen Witz, aber niemand lachte wirklich darüber.
„Wo ist Cy?“ fragte James.
Simmons lachte, als sei diese Bemerkung der wahre Witz, wedelte sich mit einem Bandama Luft zu.
„Ich habe keine Bedenken deswegen, dass er nicht hier ist“, sagte er.
„Er könnte aus dem Zug gefallen sein.“
„Ja, sicher“, sagte Simmons.
Linn verfolgte es mit geschlossenen Augen und sie sagte nichts. Was nützte es, wenn sie den anderen verriet, dass sie Cy gesehen hatte, wie er sich Drogen reingedrückt und dann besinnungslos weggedämmert war, zusammengekauert in einer Bankreihe.
„Weshalb kommt niemand?“ fragte Weyland. Die drei homeboys und Überläufer Gordo hockten etwas abseits zusammen. Matthews und Vinnie flüsterten miteinander, immer einen Blick auf die schlafende Linn.
„Die müssen wir im Auge behalten“, sagte Matthews, „wenn wir nur irgendwelche Waffen hätten, dann wäre es einfacher, sie in Schach zu halten. Sie sind scharf auf die Knete.“
„Noch ein paar Tage und wir sind alle scharf auf das Wasser“, sagte Vinnie, „dann wischen wir uns mit dem Geld den Hintern ab.“
„Es kann gar nicht so lange dauern, bis Hilfe kommt.“
James rückte zu ihnen auf.
„Wenn an den Stationen alles in Ordnung wäre, wären sie längst hier“, sagte er.

Die Zeit tropfte dahin, irgendwann sprach niemand mehr, die Luft bewegte sich nicht mehr in der Wüste und legte sich heiß und schwer auf sie nieder. Als James aufwachte, den Kopf von seinem Arm hob, sah er im Augenwinkel, dass Sam Simmons mit beiden Händen im Schritt eingeschlafen war, sich der dritte homeboy, der sich seinen Namen CADOC auf den Halsansatz tätowiert hatte, in eine der Bankreihen gelegt hatte und schnarchte. James vergaß augenblicklich die Hitze und seine hämmernden Kopfschmerzen. Cy hockte auf der Rückenlehne über dem schlafenden homeboy und beobachtete ihn.
Das Messer, dachte James, er braucht sich bloß fallen zu lassen und dem homeboy das Messer in den Hals zu jagen. Wie lange hockt er schon da oben und überlegt, ob er es tun soll? Wir hätten eine Sorge weniger, aber seine beiden buddies könnten Amok laufen. Ich werde mich keinem rasenden homeboy in den Weg stellen.
Cy zeigte seinen verträumten Gesichtsausdruck, noch immer high von den Drogen, hatte sich aber so weit unter Kontrolle, dass er nicht von der Rückenlehne fiel.
James erhob sich. Seine Bewegung ließ Cy zusammenfahren.
Hab ich dich erwischt, du Arschloch, dachte James.
Cy ließ sich von der Lehne rutschen, wechselte die Abteilseite, weg von den homeboys. James setzte sich neben ihn.
„Das tut mir leid“, sagte er, „es war unnötig.“
„Wovon redest du?“
„Dass wir deinen Rücken gesehen haben.“
„Das hat nichts zu bedeuten“, sagte Cy. Er schlang die Arme um seinen Körper, als sei ihm kalt.
„Was hattest du mit den homeboys zu tun? Sind da noch Rechnungen offen?“
„Was geht dich das an?“
„Ich bin nicht scharf drauf, hier irgendwas eskalieren zu lassen. Wir sollten den toten homeboy aus dem Zug schaffen. Bei der Hitze wird er schon stinken.“
„Ich hab keine Rechnung offen.“ Er folgte James durch die Abteile, bis er an dem angetrockneten Blutfleck stehen blieb.
„Wo ist er?“ fragte James.
Cy machte eine übertriebene suchende Bewegung, wandte sich genervt ab und setzte sich in das Sicherheitsabteil, das James angemietet hatte. Er zog die Beine an sich heran und reagierte nicht mehr, als James suchend hin und herlief.
„Er wird kaum aufgestanden und hinausmarschiert sein. Und ich weiß, dass keiner von uns ihn weggeschafft hat.“
„Woher willst du das wissen?“
James drehte sich zu ihm herum, wütend darüber, hier festzusitzen, keine Lösung zu finden und einfach abwarten zu müssen. Er wollte nicht darüber diskutieren, vor allem nicht mit einem verdammten Junkie. Statt auf die Frage zu antworten, erwiderte er: „Wie ist dein richtiger Name? Cy ist ein Schimpfwort der homeboys und nicht dein Name.“
„Ich hab ihn nach draußen geworfen“, sagte Cy, kratzte geistesabwesend an seinem verschorften Kopf herum, sprach mehr zu dem verbarrikadierten Fenster als zu James.
„Den Toten? Wie willst du das geschafft haben?“
„Ich hab ihn durch eines der offenen Fenster rausgeworfen, als alle geschlafen haben.“
„Der Kerl hat das doppelte von dir gewogen. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich deinen Namen kennen würde.“
„Hauptsache, der fette stinkende Bastard ist weg.“
Wir alle stinken mittlerweile, dachte James, und das spielt kaum eine Rolle.
Er war müde und durstig, ging zur Gruppe zurück und bemühte sich, den toten homeboy zu vergessen.
„James“, rief Matthews, „wir diskutieren noch immer darüber, was wir mit dem Geld machen sollen.“
„Verteilt es ruhig“, sagte James.
„Heißt das, wir können deinen Anteil unter uns aufteilen?“ fragte Vinnie grinsend. Sie hatten sich um die Tasche geschart, einen Kreis darum gebildet und jeder schien eifersüchtig darüber zu wachen, dass kein anderer der Tasche zu nahe kam. James hatte Mühe, in dem beginnenden Dämmerlicht den Inhalt der Tasche zu erkennen und erst später dachte er irritiert: Wieso wird es schon wieder dunkel?
 
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Diese Geschichte spielt in ferner Zukunft. Alle Menschen leben unter Glaskuppeln, denn die Luft ist verseucht. Mitten in der Wüste bekommt der Zug einen Defekt. Die unterschiedlichsten Fahrgäste müssen mit einem Male gemeinsam auf Hilfe warten. Die Kiminalität ist hoch, zudem wird eine Tasche mit Geld gefunden.
Wirklich ein ganz hervorragender Anfang. Mit deinem brillanten Schreibstil bringst du uns rasch sämtliche Protagonisten nahe und man ist völlig im Geschehnis drin. Ich bin gespannt ob die nächsten Kapitel auch so gut sein werden.


Jochen (13.04.2009)

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