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29 Seiten

Ouray, Colorado - Teil 8

Romane/Serien · Spannendes
© Tintentod
Genau zu dem Zeitpunkt, als Rick glücklich mit Bier und Schmerzmitteln abgefüllt auf Sammy Joes Couch einschlief, als Sophie und Dom in dem sehr rustikalen Hotel eincheckten und über das erleichterte Gesicht der Besitzerin grinsten, als sie sagten, sie hätten zwei Einzelzimmer gebucht, da erfuhren Herbert und Overturf von dem Überfall.
Eine Ladenbesitzerin in der Straße hatte es teilweise beobachtet, sich nichts böses dabei gedacht, es nur verfolgt, während sie ihre Kundschaft bediente und dann hatte sie Rick mit blutigem Gesicht an der Ecke stehen sehen. Sie hatte einen Meter von dem teuren Seidenstoff mit dem Rosenmuster abgeschnitten und als sie wieder aus dem Fenster gesehen hatte, war der Man mit den gefärbten Haaren und dem Blut im Gesicht fort gewesen.
„Ich habe überlegt, ob ich so etwas melden sollte“, sagte sie, „so etwas sollte nicht passieren in unserer Stadt. Das verscheucht die Touristen. Vielleicht war das einer von den Touristen, wer weiß, ich hoffe, ich bin nicht zu spät, aber ich konnte nicht früher, das Geschäft lief heute wie verrückt.“
Overturf blieb bewundernswert ruhig und freundlich, er machte ein Gesicht, als wolle er die pflichtvergessene Mrs. Cole zu einem Kaffee einladen, plauderte noch mit ihr und brachte sie zur Tür. Erst, als sie gegangen war und noch mal durch das Fenster hereinwinkte, machte er sich Luft und Herbert wäre am liebsten geflüchtet.
„Was hat das zu bedeuten? Irgendjemand hat ihn vermöbelt? Und wo steckt er jetzt? Verdammt noch mal, ich will wissen, was er schon wieder angestellt hat. Wer war dran, ihn zu überwachen?“
„Da muss ich nicht mal auf den Dienstplan sehen“, sagte Herbert säuerlich, „David.“
Overturf wusste von den fragwürdigen Freunden seines Deputys, aber solange er ihm wieder nichts nachweisen konnte, blieb David im Amt und er konnte nichts unternehmen, ohne sich eine Klage einzuhandeln.
„Vielleicht hat Scanlon dieses eine Mal nichts angestellt“, murmelte er, überhörte Herberts „Ach?“ rollte sich mit seinem Bürostuhl an das Funkgerät und rief David über Funk. Er war dabei so freundlich, dass David den Braten riechen musste, es sei denn, er war vollkommen verblödet.

Rick wachte mit einem furchtbar säuerlichen Geschmack im Mund auf, hatte den Brechreiz schon ganz oben in der Kehle sitzen und schaffte es gerade noch bis ins Bad. Er erbrach das Bier und die aufgelösten Schmerzkiller, dann würgte er noch einige Male und spuckte Galle. Mit der halben Rolle Toilettenpapier wischte er sich den Mund ab, spülte endlos und beging dann den Fehler, sich im Spiegel über dem Waschbecken zu betrachten. Seine Gesichtsfarbe hätte einer Leiche gut gestanden, das Blut war abgewaschen, aber die Wunden waren noch da. Seine Augenbraue bestand nur noch aus rohem Fleisch und schwarzen Fäden, er hatte eine dicke Abschürfung am Kinn, als hätte er eine stumpfe Klinge benutzt. Die roten Stellen und blauen Flecke taten weh; alles tat ihm weh.
Aber was ihn wirklich beunruhigte, was die Tatsache, dass er sich Sorgen darüber machte, dass Sophie ihn so sehen könnte.
Sie wird ausflippen.
Sie ist doch gar nicht hier.
Bei so was versteht sie keinen Spaß.
Aber sie ist doch gar nicht hier, Junge, sie wird dich nicht sehen.
Was, wenn doch?
Dash klopfte mit den Knöcheln gegen die Badezimmertür und wollte hören, dass alles in Ordnung sei, er habe Kotzgeräusche gehört und wollte nur sichergehen, dass er sich nicht komplett weggespült habe.
„Die wichtigsten Teile von mir sind noch hier“, antwortete Rick, beobachtete im Spiegel, wie mühsam die Worte aus seinem Mund kamen.
Er hatte Angst und er war wütend, aber er würde den Teufel tun und das irgendjemanden wissen lassen. Noch hatte er keinen klaren Plan, was er anstellen könnte, aber er konnte grobe Umrisse ausmachen.
Er kam aus dem Bad, ging an Dash vorbei, der einen Schritt zurück machte, sich jeden Kommentar verkniff und damit gut fuhr. Rick zog sich um, entledigte sich endlich des blutigen Hemdes und zog eines der Sweatshirts über den bloßen Oberkörper. Der Ärmel war weit genug, um den Gipsarm durchstecken zu können. An seiner Jeans war noch immer Pferdescheiße, daran ließ sich nichts ändern.
„Was hast du vor?“
„Nichts besonderes.“
„Soll ich mitkommen?“
„Wenn ich dich dabei haben wollte, hätte ich dich gefragt.“
Dash zuckte ergeben mit den Schultern, warf sich auf das zerwühlte Bett und starrte mit auf der Brust gefalteten Händen zur Zimmerdecke. Rick hatte Mühe, sich die Schuhe zuzumachen, konnte sich kaum tief genug herunterbeugen, geschweige denn atmen. Mit einem pfeifenden Keuchen kam er wieder hoch, seine Kopfwunde pochte munter und als er aufstand, wurde ihm schwarz vor Augen und er musste sich abstützen. Dash biss sich auf die Zunge und fragte nicht, ob er nicht lieber mitkommen sollte.
„Ich...“, begann Rick, nachdem er diesen schwachen Moment überstanden hatte, „ich bin unterwegs. Wenn du Sammy Joe noch triffst, sag ihr, sie soll sich keine Sorgen machen, am besten sagst du ihr gar nicht erst, was los ist. Wenn sie’s schon weiß – egal. Danke für deine Hilfe.“
„Gern“, sagte Dash und sah zur Decke.
Das Haus war richtig still, nachdem Rick die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, Dash holte sich das restliche Bier und trank im Schlafzimmer weiter. Er sah wieder an die rissige Decke; die Furchen und Risse zogen sich über die Fläche wie ausgetrocknete Flüsse, es gab keine Berge und keine Täler, nur weißes flaches Land und die Überreste von Flüssen an der Decke. Er versuchte sich vorzustellen, dass an dieser Zimmerdecke Menschen leben könnten, sehr kleine Menschen, die nichts von der restlichen Welt wussten und nur an ihrer Zimmerdecke lebten, bei den Flüssen.
Dash dachte, dass sie alle vielleicht auch von jemand viel größerem beobachtet wurden; dass sie alle selbst nur Fliegenschiss an einer Zimmerdecke waren.
Seine Probleme schrumpften bei solchen Überlegungen in sich zusammen, aber sie verschwanden nicht, leider. Irgendwann tauchten sie wieder auf und waren genauso groß wie zuvor. Als Sammy Joe nach Hause kam, fand sie Dash auf ihrem Bett schlafend vor, grübelte, wie er reingekommen sein könnte und sah sich um, ob Rick auch da war. Sie weckte Dash, nachdem sie Rick nicht gefunden hatte.
„Was machst du hier?“
„Ich weiß genau, was ich dir sagen soll“, erwiderte Dash mühsam, „ich soll dir sagen, dass du dir keine Sorgen machen sollst.“
„Worum soll ich mir keine Sorgen machen? Dash?“
Er war müde und wollte weiterschlafen, ob es nun Sammy Joes Bett war oder nicht, aber sie ließ ihn nicht und das ärgerte ihn.
„Rick ging’s gut genug, dass er schon wieder rumlaufen konnte“, brummte er und drehte sich von ihr weg, „also brauchst du dich gar nicht über die paar Kratzer aufzuregen. Das meinten wir damit.“
Kratzer und ihm geht’s gut genug zum rumlaufen?
„Dash, wenn du mir nicht sofort erzählst, was passiert ist, bringe ich dich um.“
„Dann kann ich dir erst recht nichts mehr erzählen.“
Sie puffte ihn mit der Faust an, riss ihm die Decke weg und drohte ihm mit einer kalten Dusche, bis Dash endlich so weit wach wurde, dass er von der Schlägerei berichten konnte. Sammy Joe konnte nur daran denken, dass sie Rick nicht aus dem Knast geholt hatte, um ihn vermöbeln zu lassen.
„Und wo wollte er hin?“
„Das hat er nicht gesagt.“
„Rück zur Seite.“
Sie warf zwei leere Bierdosen aus dem Bett und streckte sich neben Dash aus.
„Ich wollte schon immer mal mit dir im Bett liegen“, sagte Dash und grinste sie wie ein kleiner Junge an.
„Du hättest es nur sagen müssen.“
„Hab ich ja, aber du hast mich immer ausgelacht.“
„Armer Junge.“
Sie griff rüber zu seiner Seite, zog ihn neckend an seinem kurzen Haar und nahm sich fest vor, sich keine Sorgen zu machen.

Ich muss hinter Julias Sache kommen.
Dieser Gedanke beherrschte ihn, steuerte ihn durch die Straßen, in denen es langsam dunkel wurde. Es war eine verdammte Schande, dass er diese Bilder in seinem Kopf nicht steuern konnte, dass er ihnen nicht befehlen konnte, ihm zu zeigen, was er sehen wollte.
Es ist so verdammt wichtig. Julias Sache. Sie ist ängstlich, wird aber von sich aus nie etwas darüber erzählen. Ich muss die groben Details sehen, um sie zu ködern.
Lass es ruhig angehen, keine Hektik, buddy, du wirst schon sehen, was es zu sehen gibt.
„Die Zeit rennt mir davon“, murmelte er, sah im vorübergehen sein ramponiertes Gesicht in den Schaufensterscheiben. Die Schmerzen konnte man ihm noch immer ansehen, er hatte ganz vergessen, Dr. Patel etwas von seinen verkühlten Nieren zu erzählen und jetzt hatte er nicht mal die Zeit, sich mit ein paar Bieren ins warme Bett zu legen und alles in Ruhe auszupinkeln.
Rick hatte die Nachrichten gesehen.
Man bereitete sich darauf vor, dass morgen die Straße wieder frei war. Sheriff Overturf würde seine Drohung wahr machen und ihn vor Gericht zerren und Rick hatte seinen Anruf noch nicht gemacht, obwohl es an der Zeit gewesen wäre.
Das muss warten, ich brauch mehr Zeit, um mir David und seine Gesellen vorzunehmen. Ich will nur die offene Rechnung begleichen, bevor ich verschwinde.
Das trieb ihn zu Julias kleinem Geheimnis zurück; er schien es fast greifen zu können, aber der Gedanke sprang nicht über, so sehr er es auch versuchte.
„Verdammt“, schrie er mitten unter den Passanten, rieb sich die Stirn und sehr vorsichtig die Augen. Von seiner Umwelt nahm er gerade so viel wahr, dass er nicht in ein Auto lief, kam an einer Telefonzelle vorbei, beachtete sie zunächst nicht, machte dann kehrt und trabte zurück.
Ouray war eine saubere Stadt – in der Zelle war kein Grafitti zu sehen, das Telefonbuch lag ordentlich, wie es sich gehörte, auf der Ablage und es waren keine Seiten herausgerissen. Er blätterte bei D herum, bis er Dustman gefunden hatte. Einige Geschäfte und Firmen liefen unter den Familiennamen, aber ganz so, wie Rick es sich gedacht hatte, hatten David und der Rest der Familie jeder eine eigene Telefonnummer. Er notierte sich die eine Nummer als D auf seiner Zigarettenschachtel. Über die Hauptnummer erreichte er eine spanisch sprechende Haushälterin, der er auf spanisch antwortete und von der er nach zehn Minuten wusste, wie viel Brüder und Schwestern sie hatte und wann sie nach Ouray gekommen war. Es war einfach, sie zu überreden, ihn mal eben mit Julia zu verbinden. Er musste es lange klingeln lassen, dann hatte er sie am Apparat.
„Hi Julia“, sagte er und wartete.
Sie horchte am anderen Ende, klickerte mit irgendetwas nervös herum, als das Geräusch verstummte, fragte sie misstrauisch: „Wer ist denn da?“
„Rick Scanlon. Können wir uns unterhalten?“
„Was gibt es denn?“
In Gedanken zählte er in spanisch bis fünf und antwortete: „Das weißt du doch, Julia. Wo treffen wir uns?“
Nicht im Deli, dachte er, nicht, nachdem sie dort wie eine Bekloppte zur Tür rausgerannt ist.
„Vor dem Kino“, sagte sie, „wann kannst du da sein?“
„In einer halben Stunde.“
Er konnte in zehn Minuten vor dem Kino sein, in dem nur ein einziger Film lief, das zweimal am Tag und mit gleich bleibend mäßigem Erfolg. Über dem Eingang stand der Name des Kinos in großen schwarzen Buchstaben an der Hauswand - ROYAL – und darunter, an dem kleinen Balkon, war die weiße Holztäfelung mit den Schienen angebracht, in die der Pächter die Buchstaben für den Filmtitel einschieben konnte. Die Buchstaben schienen ihm für längere Titel ausgegangen zu sein; jedenfalls stand Rick auf der anderen Straßenseite und besah sich die Buchstaben und konnte sich beim besten Willen keinen Filmtitel zusammenbekommen. Es lenkte ihn ab, aber nur für einen kurzen Augenblick. Gerade fiel ihm ein, dass es ein ausländischer Film sein könnte, aber niemand würde sich einen ausländischen Film mit diesen dämlichen Untertiteln ansehen, bei denen man nie mit dem Lesen nachkam und dann auch noch die Handlung nicht auf die Reihe bekam. Rick erinnerte sich daran, wie Sophie ihn in eine Videothek geschleppt hatte, um einen Film für einen gemütlichen Abend zu zweit auszuleihen.
„Ich weiß, welchen wir nehmen“, hatte sie gesagt, „ich hoffe nur, dass sie ihn auch da haben.“
Die Videothek war so groß gewesen, dass es ihn gewundert hätte, wenn irgendetwas nicht da gewesen wäre.
„Hoffentlich benimmst du dich dann noch anständig.“
„Hey, ich rede von einem guten Film, nicht von einer animierten Wichsvorlage.“
Sie hatte ihm den Ellebogen in die Rippen gestoßen und am Counter nach dem Film gefragt. Rick erinnerte sich an das professionell ratlose Gesicht des Angestellten, der sich nur mit einer Gegenfrage hatte retten können.
„Wer hat denn da mitgespielt?“
„Bed and Breakfast. Rupert Graves.”
“Das sagt mir jetzt nichts.“
„Engländer. Muss ich ihnen auch noch Regisseur und Verleihfirma nennen, damit sie wissen, ob sie ihn hier haben oder nicht?“
Natürlich hatten sie ihn nicht gehabt. Auf Ricks fragende Geste hin hatte Sophie sich an den Angestellten gewandt und mit ernster Stimme gesagt: „Okay. Haben sie einen Fickfilm, den sie mir empfehlen können?“
Es schien Jahrzehnte her zu sein, dass er das letzte Mal so gelacht hatte und so zufrieden gewesen war, eins mit sich und der Welt, mit dem Bauchnabel im Gleichgewicht, wie Sophie sagte. Nicht erst in Ouray war alles schief gegangen, Ouray war nur der vorläufige Höhepunkt.
Seit er New York verlassen hatte, trug er diese Wut mit sich herum, lief ins Chaos und fragte sich bei jedem Schritt, warum er noch nicht tot war.
Auf der anderen Straßenseite flog Julia förmlich auf das Kino zu, als käme sie zu spät zur Vorstellung, blieb im Eingang stehen und besah sich die ausgehängten Fotos in dem Glaskasten. Sie sah auf die Uhr und dann drehet sie sich einmal um die eigene Achse und sah sich suchend um. Es war so offensichtlich, dass sie auf jemanden wartete, dass sie sich auch hätte ein Schild um den Hals hängen können.
Rick kam von der Seite auf sie zu, dass sie ihn sehen konnte und sie nutzte die Chance, um noch nervöser zu werden.
„Sehen wir uns den Film an?“
„Du wolltest doch mit mir sprechen.“
„Du wolltest dich vor dem Kino treffen.“
Julia trug einen langen beigen Wollmantel mit dunklen Knöpfen, helle Schuhe und hatte sich einen Schal umgehängt, wäre die Situation anders gewesen, hätte er sich mit ihr den Film mit dem unbekannten Titel angesehen und es hätte ihn überhaupt nicht gestört, wenn es ein isländischer Film mit französischen Untertiteln gewesen wäre.
Ich brauche sie, dachte Rick, nicht so, wie sie vermuten würde, aber ich brauche sie.
„Haste deinen Wagen hier irgendwo stehen?“
„Eine Straße weiter. Was hast du mit deinem Gesicht angestellt? Oh nein, ist der Arm gebrochen?“
„Setzen wir uns rein.“
Das Pochen in seinen genähten Wunden war kein Vergleich zu den Hammerschlägen in seinen Nieren; mittlerweile brannte es beim Pinkeln so sehr, dass er am liebsten gar nichts mehr getrunken hätte und seine Blase drückte alle zehn Minuten, obwohl er dann nur ein paar schmerzhafte Tropfen ablassen konnte. Den Rücken konnte er nur noch beugen, wenn er die Luft anhielt. Davon erzählte er Julia nichts; er sagte über sein demoliertes Gesicht und seinen gebrochenen Arm nur, dass er eine Prügelei gehabt hätte, nicht die Erste und nicht die Letzte, aber das sei nicht der Grund, weshalb er mit ihr sprechen wollte.
Er machte ein ernstes gefasstes Gesicht, wie die Männer in den alten Filmen, wenn sie den Frauen etwas schlimmes zu sagen hatten und nicht genau wussten, wie sie sich ausdrücken sollten, um den Schock nicht zu groß werden zu lassen. Der Schock ist nicht kleiner, wenn man sagt ‚Ich habe eine schlechte Nachricht für sie’ anstatt von ‚Ihr Mann ist tot’; der Schock setzt sowieso erst ein, wenn man es aufgenommen und auch wirklich begriffen hat. Er versuchte, irgendwie seriös zu wirken, wusste nicht genau, wie er das anstellen sollte, ohne sich lächerlich vorzukommen.
Seine Gedanken fuhren plötzlich zweigleisig – er sagte Julia, dass sie ihn getroffen habe, mitten ins Herz, als er sie das erste Mal gesehen hatte und dass er an nichts anderes mehr denken konnte als an die Tatsache, was ihnen alles im Weg stand – auf der anderen Seite platzten Seifenblasen durch seinen Kopf, bei jedem Plopp zeigten sie Bilder, die er gar nicht schnell genug aufnehmen konnte.
Mascot und er auf einer Landstraße, wo sie den Daumen raus hielten und hofften, dass ein Viehtransporter anhielt und sie mitnahm. Es regnete wie bei der gottverdammten Sintflut und Mascot sang die ganze Zeit seine monotonen indianischen Lieder. Sophie tauchte aus der Wasserfläche auf, wischte sich das Haar zurück und spuckte einen Strahl Wasser aus, ihre Bluse und ihr Rock schwebten um sie herum. Das Make-up begann gerade zu zerlaufen in ihrem Gesicht, es war, als würde man ein Aquarell unter Wasser beobachten. Hollis stand betrunken auf der Motorhaube eines Chevies und sprang herunter. Mascot grinste breit und steckte sich die Zigarette in die Lücke, wo ihm der Eckzahn fehlte. Julia stand in ihren konservativsten Klamotten und Schuhen vor einem Ausschuss und erklärte, dass sie wirklich nicht wüsste, wie so etwas passieren konnte. Ein alter Mann lag in seinem Blut mitten auf der Straße, ein Wagen hatte ihn angefahren und vor den Blumenladen geschleudert, das Blut sprudelte förmlich aus seinem Kopf, dass Rick sich fragte, wie viel Blut in so einem vertrockneten alten Knochen überhaupt sein konnte. Julia schrieb an einem Stück, an einem Aufsatz, aber sie nannte es anders und sie war verzweifelt und in Panik, weil sie den Termin nicht halten konnte. Ich arbeite heute bis in die Puppen, sagte Sophie, sonst können wir den Termin nicht halten. Julia ging in die Bibliothek und suchte dort nach einem Buch, kopierte sich Seiten heraus und wieder zurück an ihrem Schreibtisch starrte sie eine Sekunde lang bewegungslos auf den Bildschirm und dann schrieb sie das Fotokopierte ab. Wort für Wort.

Keine Zeit verstreichen lassen.
Der Sheriff hat mich angerufen, nicht ich ihn, ich habe ihn vorgewarnt, dass ich in die Stadt komme und hier bin ich. Wenn es ihm nicht passt, soll er mich einsperren.
Auf dem Weg ins Büro des Sheriffs versuchte Dom, diese trotzige angriffslustige Haltung einzustudieren, als hätte er keinen wunden Punkt und als wäre der Ausflug nach Ouray ein Kinderspiel gewesen.
Zu seiner Enttäuschung war Overturf irgendwo in der Stadt unterwegs, aber der Deputy sagte, dass er warten könne.
„Waren sie mit ihm verabredet? Er vergisst schon mal seine Termine, das kommt vor.“
„Ich hatte keinen Termin, ich bin nur wegen Rick Scanlon hier.“
Deputy Herbert zog die Augenbrauen hoch, kam hinter dem Schreibtisch vor und reichte Dom die Hand, wobei er eine einladende Bewegung mit dem Kopf machte.
„Trinken sie einen Kaffee mit mir. Deputy Herbert. Sie müssen Carl Dominique sein.“
„Dom, wenn es ihnen nichts ausmacht. Haben sie Rick hier irgendwo sitzen?“
Dom sagte das mit einem freundlichen Augenzwinkern und er bekam erst eine Antwort von Herbert, als dieser zwei Kaffeebecher aufgefüllt hatte und sie zu seinem Schreibtisch balancierte.
„Holen sie sich einen Stuhl und setzen sie sich. Milch? Zucker?“
Dom verneinte.
„Wir mussten ihn laufen lassen. Keine handfesten Beweise gegen ihn. Mein Boss hätte ihn liebend gern hier behalten, aber es wird nichts daran ändern, dass er ihn nach Montrose bringen wird.“
Sie prosteten sich zu.
„Rick läuft also noch durch die Stadt.“
„Wir haben ihn im Auge.“
Viel kann er sowieso nicht anstellen mit einem Arm.
Das sagte er Ricks Freund aus New York allerdings nicht, das war Aufgabe seines Bosses, das überließ er ihm gerne.
„Es ist verflucht kniffelig, Rick im Auge zu behalten.“
„Ich weiß“, lachte Herbert, gluckste in seinen Kaffee und hätte Dom diese Episode erzählt, wenn Sheriff Overturf nicht hereingepoltert wäre und die Tür gegen die Wand geschlagen hätte. Dom drehte sich mit dem Bürostuhl herum, stoppte die Bewegung mit den Füßen ab und erhob sich zur Begrüßung.
Der Sheriff hatte schlechtes Wetter mitgebracht, es lagen dicke Schneeflocken auf seinen Schultern und auf seinem Hut, den er abnahm und bedächtig abklopfte.
„Hast du auch noch einen Kaffee für mich, Herb?“
Er hängte seinen Hut und die gefütterte Jacke auf.
„Ich dachte mir, dass sie herkommen würden.“
„Ich wollte sie nicht enttäuschen.“
„Leider habe ich kein Büro, in dem wir uns ungestört über Scanlon unterhalten könnten, ich hoffe, das stört sie nicht. Wir mussten ihn laufen lassen.“
„Haben sie noch ein Auge auf ihn oder ist er ihnen schon durch die Lappen gegangen?“
Sheriff Overturf stemmte die Hände in die Seiten, blähte den Brustkorb auf und für einen Moment machte er auf Dom den Eindruck, als wolle er sich zum platzen vorbereiten.
„Ich weiß, wo Scanlon im Moment steckt, keine Sorge. Wie kann ich ihnen helfen, Mr. Dominique?“
„Unterhalten wir uns darüber, was Rick hier angestellt hat.“
Herbert blieb an seinem Schreibtisch sitzen, während Dom dem Sheriff auf die andere Seite des Büros folgte.
„Sie können nicht von mir verlangen, dass ich ihren Freund laufen lasse.“
„Das verlange ich auch gar nicht.“ Dom war unbeeindruckt freundlich, wie jemand, der lächelnd einer Übermacht entgegentritt und ‚nein’ sagt; Herbert übernahm die Rolle des dankbaren Zeugen, nachdem sein Boss keine Anstalten machte, ihn auf Streife zu schicken. Nebenbei bediente er die Telefonzentrale, aber die meisten Gespräche leitete er einfach weiter.
„Sheriff, sie werden mit dieser Anklage nicht durchkommen.“
„Ich werde noch genügend Beweise liefern, dass er die Wagen geklaut hat und wenn ich so lange suchen muss, bis ich wenigstens einen Fingerabdruck gefunden habe.“
„Rick hat einen Schutzengel.“
„Meinen sie sich damit?“ Sheriff Overturf begann zu grinsen und Dom grinste zurück; Herbert wusste nicht, wer er länger anschauen sollte.
„Haben sie seine Akte vorliegen?“ fragte Dom.
„Habe ich.“
„Alle Anklagen gegen ihn sind schnell wieder fallengelassen worden, egal, was man ihm in den letzten Jahren zur Last gelegt hat.“
„Hat er einen guten Anwalt?“
„Anwälte sind keine Schutzengel. Er hat einen guten Freund, der ihm aus der Klemme hilft. Rick könnte Ed Koch vor laufender Kamera die Hosen runterziehen, es würde ihm nichts passieren. Dafür sind Schutzengel da.“
Auf Overturfs fragenden Blick hin fuhr Dom fort: „Ich bin es nicht und ich werde mich hüten, Namen zu nennen. Ich will sie nur warnen und es ihnen leichter machen, Rick einfach mit uns gehen zu lassen.“
„Er sagte mir, dass er nicht zurück nach New York kann, wegen dieser Schießerei, bei der sein Freund getötet wurde.“
„Er glaubt noch immer, dass diese Kugel für ihn bestimmt war. Wegen dieser Sache hat er New York verlassen, das ist richtig, aber vielleicht kann ich ihn überreden, wieder nach Hause zu kommen. Hat er ihnen davon erzählt?“
„Nicht viel.“
„Er ist noch immer nicht darüber hinweg, möglich, dass er es nie schafft. Wissen sie, Mascot und er waren die besten Freunde, sie waren wie eineiige Zwillinge aus zwei Müttern. Der eine wusste, was der andere dachte. Rick trank und Mascot rülpste. Sie waren gemeinsam unterwegs, ein perfekt eingespieltes Team. Mascot war nicht von dieser Welt. Niemand hat jemals seinen richtigen Namen oder seine Abstammung herausgefunden, niemand wusste, wo er wirklich hergekommen war. Er sprach nur spanisch und wenn er die Polizisten vollends verwirren wollte, antwortete er auf indianisch und versuchen sie da mal einen Dolmetscher aufzutreiben. Er war Mescalero Apache, wie er sagte, und sei als Kind aus dem Reservat in New Mexico davongelaufen. Auf seinem Weg durch Indiana hat er Rick aufgegabelt und die beiden sind gemeinsam weiter gezogen. Nichts konnte die beiden trennen.“
Norman Overturf erwiderte leutselig: „Der Tod schon, oder?“
„Wer weiß.“
Dom dachte daran, als er auf dem Weg durch New York Rick und Mascot an einer Straßenecke gesehen hatte, im Vorbeifahren und nur ganz flüchtig, in der Nähe des Barrios, wo sie sich ab und zu herumtrieben, herumstanden, rauchten und einfach nur die Zeit totschlugen. Erst, als er fast zu Hause war, hatte er begriffen, was er gesehen hatte und erinnerte sich schlagartig daran, dass Mascot tot war. Er selbst hatte den Bericht des Leichenbeschauers und die Fotos gesehen; er hatte es von Rick selbst erfahren. Tage später hatte er versucht, mit Hollis darüber zu reden.
„Es war jemand anderes.“
„Mascot kann man nicht mit irgendjemanden verwechseln.“
„Was sagt Rick dazu?“
„Er sagt gar nichts. Wenn ich Mascot erwähne, sieht er nur aus, als wolle er sterben.“
So etwas konnte Dom dem Sheriff nicht erzählen, denn mittlerweile wusste er selbst nicht mehr, ob er daran glauben konnte oder nicht. Bevor Rick verschwunden war, hatte er ihm eine Menge wirres Zeug erzählt, aber da war er so zugedröhnt gewesen, dass es kaum einen Sinn ergeben hatte.
„Ich bin nur hergekommen, um Rick zu sehen und um sie umzustimmen. Zumindest den Versuch müssen sie mir zugestehen.“
Overturf schien nicht dieser Ansicht. Er beugte sich Dom entgegen und schnarrte: „Ich werde ihn nicht laufen lassen, Mister. Hier mache ich die Regeln und wenn ich sage, er wird dafür brummen, was er sich hier geleistet hat, dann kann ich ihnen das in die Hand hinein versprechen.“
Dom erwiderte im schönsten Ostküstenakzent: „Versuchen sie’s.“

Während Dom die Lage beim Sheriff sondierte, erlag Sophie der Vorstellung, sie könnte durch Ouray laufen und wie zufällig Rick begegnen, aber sie wurde enttäuscht. Seit Stunden war sie auf den Beinen, sah sich die kleinen Geschäfte an, lief durch die Straßen und sondierte die Gesichter, denen sie begegnete.
Er muss hier doch auffallen, dachte sie, er ist kein Einheimischer und kein Skifahrer.
Sie wusste nicht, wen sie fragen sollte, deshalb fragte sie lieber niemanden und hoffte, dass Dom mit guten Nachrichten ins Hotel zurückkommen würde.
Gegen den stetigen Schneefall, der sie schmerzlich an ihre Heimat erinnerte, kaufte sie sich eine Baseballkappe, band ihr Haar zusammen und ließ es unter der Kappe als Pferdeschwanz herausschauen. In der Agentur hatte sie eine Kreativkappe, die sie aufsetzte, wenn ihr nichts einfallen wollte; diese hier würde ihre Finde-Rick-Kappe werden.
Der Gedanke, dass er möglicherweise nur wenige Meter von ihr entfernt war, machte sie ruhelos und zugleich hungrig. In den Broschüren hatte sie sich die beiden besten Restaurants angestrichen und bevor sie sich dort von Dom einladen ließ, wollte sie zumindest eines antesten.

Rick kannte Julias Geheimnis. Sie hatte niemanden ermordet und verbuddelt, sie war nicht auf Crack, ging nicht auf den Strich, um sich noch etwas nebenher zu verdienen, aber das, was sie getan hatte, lag wohl für ihre Familie ungefähr in dieser Preisklasse.
Sie hatte angebissen, den Köder geschluckt und zappelte an der Leine. Er erpresste sie damit nicht, er log ihr nur das Blaue vom Himmel herunter und tat so, als habe er Verständnis für das, was sie getan hatte.
Sie wollte wissen, wie er zu diesen Vermutungen käme, aber darauf hatte er ihr noch keine Antwort gegeben. Das brauchte er nur, um sie hinzuhalten.
Seit sie sich in ihrem Wagen sitzend unterhalten hatten, ging es ihm immer schlechter. Die Entzündung kroch zu seinen Nieren hinauf und immer höher, dass er schon meinte, sein Rippenfell wäre auch schon angeschlagen.
Nachdem er sich von Julia getrennt hatte, sie nach Hause gefahren war, hatte er sich ins Diner gesetzt, weil dort am meisten los war und ihn in der Menge niemand überfallen würde. Er starrte aus dem Fenster, trank einen Dr. Pepper nach dem anderen und schluckte Aspirin. Früher hatte er diese Kombination zum Frühstück eingeworfen, aber das war etwas, was Sophie ihm abgewöhnt hatte. Das Aspirin half gegen die Schmerzen, aber nicht gegen die Entzündung.
Du wirst noch Blut pinkeln, flüsterte Mascot und er murmelte: „Das tu ich schon.“
Draußen vor dem Diner huschten fremde Gesichter vorbei, kurz erhellt von dem Licht, das aus dem Diner heraus durch die Fenster fiel und Rick ließ sie vorbei gleiten, ohne sie zu beachten.
Nur ein Gesicht stach heraus, ließ sein Herz zwei Schläge aussetzen, dass er fast meinte, es würde nicht wieder loslegen – aber dann galoppierte es mit ihm davon, dass es weh tat und ihm das Blut in den Ohren rauschte. Sophie war ebenso wie die anderen Passanten schnell wieder in der Dunkelheit verschwunden, aber ihr Bild hatte sich in sein Hirn eingebrannt. Seine Nerven flatterten so furchtbar, dass er kaum ruhig sitzen bleiben konnte, sein Kopf wiederholte immer wieder das Bild, wie Sophie hinter der Fensterscheibe vorbeigegangen war, das Gesicht unter der Baseballkappe nur halb zu erkennen.
Sophie ist hier in Ouray, sie läuft durch das Kaff und sucht mich. Das heißt, dass Dom auch hier ist, aber wo steckt er? Wo will sie hin? Die beiden müssen irgendwo eingecheckt haben, in irgendeinem der Hotels. Wie kann Sophie nur so verdammt gut aussehen und an mir vorbeilaufen, als wäre es die fifth Avenue? Ich fühl mich so Scheiße, dass ich ihr nicht unter die Augen kommen will.
Seine Hände begannen zu zittern, als wäre in seinem Körper ein Erdbeben ausgebrochen, er konnte das Glas nicht mehr halten. Rick starrte auf den schwappenden Dr. Pepper, stellte ihn ab und der Gedanke beschlich ihn, dass die Leute es für einen Anfall halten könnten.
Er nahm noch eine Aspirin.
Die schluckte er ohne Flüssigkeit, weil er den bitteren trockenen Geschmack mochte.
Sophie ist hier, dachte er, verdammte Kacke. Wie soll ich das alles durchziehen, wenn sie mir jederzeit über den Weg laufen kann?
Dieser Gedanke hing lange in seinem Kopf, noch länger als der bittere Aspiringeschmack in seinem Mund. Er erschrak fast zu Tode, als ihm jemand von hinten auf die Schulter klopfte.
„Ouh“, machte Sammy Joe, „warum so schreckhaft?“
Sie setzte sich neben ihn, berührte seinen Arm, zuckte selbst zurück, als Rick wieder zusammenfuhr.
„Ich dachte nur, es wäre...“
„Ach, ich bin eine Idiotin.“ Sammy Joe schlug sich selbst vor die Stirn. „Ich wollte nur auf gute Stimmung machen, tut mir leid. Dash hat mir erzählt, was los war. Der Arm ist gebrochen, was?“
„Sophie ist hier.“
Sammy Joe verstummte, sah sich suchend um und ließ Ricks Arm los, als wolle sie keinen falschen Eindruck erwecken.
„Sie ist in Ouray, nicht hier im Diner.“
Rick sah sie nicht an, als er das sagte, er wagte es einfach nicht und Sammy Joe ihrerseits rückte etwas von ihm ab, erwiderte dann: „Ich hab’s mir anders vorgestellt, Rick. Ich wollte, dass es mit uns weitergeht, aber wenn Sophie hier ist, heißt das wohl, dass sie dich nicht aufgegeben hat. Was kann ich da schon machen.“
„Du solltest mit Aimee irgendwo untertauchen für die nächsten Tage.“
„Du hast doch nicht irgendwas Dummes vor, Rick. Du machst mir Angst, wenn du so redest.“
„Bleib einfach nur von mir weg.“
Sammy Joe wiederholte mit ungläubiger Stimme: „Von dir wegbleiben?“
„Sobald die Straße wieder frei ist, bin ich weg. So oder so.“
„Wie sieht sie aus?“ In Ihrer Stimme lag ein deutlicher Anflug von Eifersucht, dass Rick darüber grinsen musste, trotz allem.
„Sie ist klein und dünn. Sie kann meine Gedanken lesen. Ihre Eltern würden mich hassen, glaube ich.“
„Du bist auch nicht gerade der Traumschwiegersohn.“
„Ich versuch’s auch gar nicht. Versprich mir, dass du zu Hause bleibst.“
„Ich verspreche es.“
„Okay.“
Er sah, dass sie log, aber was konnte er dagegen machen. Er konnte nicht verhindern, dass Dom und Sophie durch die Stadt liefen und ihn suchten, er konnte nicht verhindern, dass Sammy Joe sich weiterhin komische Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft machte. Ebenso hätte er versuchen können, einen Pudding an die Wand zu nageln.
„Ich muss telefonieren“, sagte er.

Herbert begleitete Dom zur Tür.
„Er hat sich in dieser Sache verbissen“, sagte er, „aber eigentlich geht es gar nicht um Scanlon, es geht um seinen Privatkrieg mit dem alten Dustman. Deshalb lässt er nicht los. Er müsste sich von dem alten Kotzbrocken sonst sagen lassen, dass er seinen Job nicht anständig erledigt.“
„Er ist ein guter Sheriff. Aber gegen den Freund, der hinter Rick steht, hat er keine Chance.“
„Wenn Rick ihnen über den Weg läuft, wundern sie sich nicht. Overturf hätte es ihnen ruhig sagen können. Rick hat einen gebrochenen Arm.“

„Hi Julia.“
Er kannte ihre Nummer inzwischen auswendig, rief sie von einem Münztelefon aus an, drehte den Rücken gegen den Wind und hielt sich das freie Ohr zu.
Es sei wirklich dringend, dass sie sich irgendwo trafen, am besten direkt morgen früh und irgendwo, wo sie niemand überraschen würde.
„Ich weiß nicht“, zauderte sie.
„Ich muss dir ’ne Menge erklären und es ist besser, wenn uns dabei niemand stört. Du willst ja wohl nicht, dass ich zu dir nach Hause komme.“
Das hatte er in Erwägung gezogen, aber Julia tat ihm den Gefallen und erwiderte: „Wir haben oben an der Skipiste eine kleine Hütte, dort können wir ungestört reden. Ich werde dort auf dich warten.“
„Morgen gegen zehn.“
„Wie willst du dort hinkommen?“
„Ich kann mir doch ’n Motorschlitten ausleihen. Keine Sorge, ich find dich schon.“
Sie klang nicht begeistert oder aufgeregt, aber sie würde ihn nicht versetzen.
Rick hängte ein, drehte das Fläschchen auf und nahm ein Aspirin. Inzwischen war es dunkel geworden und bald würden die Geschäfte schließen, aber ein paar Stunden blieben ihm noch. Sein Kreislauf ging in die Knie, ihm wurde schlecht und kalter Schweiß brach ihm aus. Er kam mit Mühe und Not bis vor den Sport- und Freizeitladen.
Nur noch die dringenden Erledigungen, dachte er, dann kannst du dich ein paar Stunden ausruhen.
Er steckte sich zwei Kaugummi in den Mund und hoffte, dass der Zucker ihn wieder auf Trab bringen würde. Der Verkäufer jedenfalls schien schon den Notarzt holen zu wollen.
„Mann, das ist nur ’n Virus, den ich mir eingefangen hab“, erklärte Rick, „erst leg ich mich bei der Abfahrt aufs Maul“, er hob den Gipsarm, „und dann fang ich mir auch noch was aus der Hotelküche ein.“ Er hob resignierend die Schultern. „Aber... weswegen ich hier bin.“
Gute Verkäufer stellten keine dummen Fragen, weil sie wussten, dass darauf nur dumme Antworten kamen. Rick sagte, was er haben wollte und er bekam es kommentarlos.
„Wäre das alles?“
„Ne Polaroid brauch ich noch.“
„Gleich nebenan hat Simon Shuster ein Fotogeschäft, er müsste noch auf haben.“
Nichts von dem, was Rick bezahlte und in die Tüte packen ließ, fiel unter das Waffengesetz, aber Waffen waren es trotzdem. Simon Shuster verkaufte ihm eine Polaroid mit eingebautem Blitz und dazu zehn Filme.
„Das sind dann zweihundertvierzig Fotos.“
„Das wird gerade hinkommen“, sagte Rick.


Ein letztes Mal ging er zu Sammy Joes Haus, legte sich zu ihr ins Bett, ohne sich auszuziehen. Ihm war heiß und er fror, sein Unterleib brannte wie die Hölle und obwohl er todmüde war, konnte er nicht schlafen. Die Acetylsalicylsäure kämpfte gegen seine Magenwände an und umgekehrt; in seinem Körper war ein Krieg ausgebrochen.
Als er sich stöhnend aufsetzte, um nachzusehen, wie spät es war, stand eine Gestalt unbeweglich in der offenen Schlafzimmertür.
„Huh?“ machte er, hustete und dachte an Tante Ruth, die plötzlich in der Tür gestanden hatte. Das hier war nicht Tante Ruth, soviel war klar.
„Was willst du?“ flüsterte Rick auf spanisch, seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und trotzdem blieb die Gestalt dort, aber sie antwortete nicht.
„Was willst du von mir? Weshalb tauchst du immer wieder auf? Wenn du mir nicht mal einen Moment Ruhe gönnst, verliere ich noch den Verstand. Hörst du, buddy? Ich drehe durch, ich werde verrückt, mir wird das Hirn durchbrennen. Hörst du mich? Hörst du mir zu?“
Er kroch auf Händen und Knien zum Fußende des Bettes, über das Bettzeug und über eines von Sammy Joes ausgestreckten Beinen hinweg, um näher an die Gestalt im Türrahmen heranzukommen. Er wagte es nicht zu blinzeln, weil Mascot so ein Blinzeln zum Verschwinden nutzen würde, das machte er sonst auch immer so, aber dieses Mal würde Rick ihn festnageln.
„Du bist nicht wütend, dass es dich erwischt hat, das weiß ich. Ich wünschte, es hätte mich erwischt, aber ändern lässt sich das nicht mehr. Ich denke ständig an die guten Zeiten, als wir unterwegs waren und an die Zeiten in New York, aber immer, wenn ich dich sehe, denke ich daran, wie’s dich erwischt hat. Bleib in meinem Kopf, buddy, aber erschreck mich nicht ständig. Verschwinde endlich.“ Seine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern in dem dunklen Zimmer. „Ich komm schon allein zurecht. ich schaff das schon.“
Seine Augen wurden trocken und er blinzelte, ohne es zu wollen. Er senkte den Kopf, sah wieder auf und Mascot war verschwunden. In dieser schattenhaften Dunkelheit hätte er sich auch getäuscht haben, aber Rick hatte noch diesen Geruch in der Nase. Dieser Geruch, der immer da war, wenn Mascot kurz und flüchtig auftauchte, kein Parfum und kein Aftershave, sondern etwas Erdiges und Verbranntes.
So riecht New Mexico, dachte Rick, verbranntes Land und Kakteen. So riecht die Gegend, aus der er kam.
Endlich kam er für einige Stunden zur Ruhe, aber schlafen konnte er nicht.

Als sie am Morgen aufwachte, war er verschwunden. Hätte er noch neben ihr gelegen, hätte sie weitergeschlafen, aber so quälte sie sich hoch, machte in der Küche den Heizlüfter an und ließ einen starken Kaffee durchlaufen.
Seine Sachen waren fort.
Er hatte eine alte Sporttasche mitgenommen und Sammy Joe stellte das halbe Haus auf den Kopf, weil sie nach einem Abschiedsbrief suchte. Nach irgendetwas, was er als Erinnerung dagelassen hatte außer den Schmutzrändern in der Dusche. Sie hätte heulen können, weil sie nichts fand.
Der Geruch des Kaffees trieb sie zurück in die Küche, wo sie sich mit einem Küchentuch die Nase putzte und nach der Zuckerdose suchte. Sie stand nicht an ihrem üblichen Platz im Schrank neben der angebrochenen Packung Cornflakes, nach einigem Suchen fand sie die Dose schließlich auf der Fensterbank.
„Was hast du denn da zu suchen?“ murmelte sie.
Die Dose war aus hellgelbem Porzellan und noch von ihrer Mutter, der Rest des Geschirrs war schon lange zerbrochen oder verschwunden. Sammy Joe stand vor dem Fenster und betrachtete die Dose, die sie noch aus ihrer Kindheit kannte, erinnerte sich daran, wie ihr Vater daraus den Zucker für seinen Kaffee genommen hatte. Sie lächelte und gleichzeitig rannen ihr die Tränen über das Gesicht bei diesen Erinnerungen. Sie vermisste ihre Eltern, sie vermisste Rick, obwohl sie sich nicht einmal mehr sicher war, ob er sie überhaupt gemocht hatte.
Wenn, dachte sie, hätte er etwas für mich hier gelassen. Irgendetwas.
Sie putzte sich noch mal die Nase, schniefte seufzend und goss sich den Kaffee ein. Anstatt sich die Zuckerdose an den Tisch zu holen, ging sie mit ihrer Tasse zum Fenster. Der heiße Kaffee zauberte Dampfschwaden in die kalte Luft und das Glas beschlug. Zwei Löffel Zucker waren das Minimum. Gut für deine Zähne, hatte ihre Mutter stets spöttisch kommentiert.
Sie nahm sich zwei Löffel, zwei gut gehäufte Löffel, stieß in der Dose auf einen Widerstand, als sie ihn zurücksteckte. Alter Zucker neigte zum verklumpen, besonders in den feuchten Jahreszeiten, aber die Winter in Ouray waren Pulverschneewinter und der Zucker in der Dose war frisch aufgefüllt, weil Rick sich so oft bedient hatte.
Sie trank schürfend ihren Kaffee, stocherte dabei mit dem Löffel in der Dose herum und schaufelte den Fremdkörper schließlich an die Oberfläche. Mit zwei Fingern nahm sie es aus dem Zucker, wischte es ab und begann wieder zu weinen.

Am Abend gingen Dom und Sophie essen, hatten sich dazu das teure Restaurant am Ort ausgesucht, aber richtig genießen konnten sie es beide nicht. Sie kannten sich nur über Rick, es war das erste Mal, dass sie gemeinsam in einem Restaurant zusammen saßen. Dom zögerte eine ganze Weile, von der Prügelei und dem gebrochenen Arm zu erzählen, wollte das gute Essen nicht verderben, aber Sophie löcherte ihn immer wieder ,was sich beim Sheriff ergeben hatte und so sagte er widerwillig: „Er lässt nicht locker, er wird Rick vor Gericht bringen. Aber darüber mache ich mir überhaupt keine Sorgen.“
„Er weiß auch nicht, wo er steckt?“
„Die haben keine Ahnung. Der Deputy hat mir gesagt, dass ihn jemand aufgemischt hat. Sein Arm ist gebrochen.“
Sophie legte die Gabel beiseite, fragte mit scheinbar unbeeindruckter Stimme: „Der rechte oder der linke?“ und Dom prustete heraus: „Genau das war mein erster Gedanke. Der linke, natürlich. Wär’s der rechte gewesen...“
„Könnte er nichts mehr anstellen.“
Sophie hatte sich eine gute Flasche Wein bestellt, aber kaum etwas davon getrunken, orderte sich statt dessen einen Nachtisch, der mit hochprozentigem übergossen und am Tisch flambiert wurde. Sie machte „Houh“ und lächelte den Kellner versonnen an.
„Wir müssten Rick in einem Stück eingipsen, um zu verhindern, dass er weiter Unsinn macht.“
Die unwohle Stimmung verschwand, sie genossen das Essen, unterhielten sich, wobei sie immer wieder nur auf Rick zu sprechen kamen, Dom trank im Laufe des Abends die Flasche Wein weil er sie nicht zurückgehen lassen wollte.
„Müssen wir morgen früh raus?“
„Wir müssen Rick finden, Dom.“
„Meinst du, er steht auch früh auf?“
„Wenn er was vorhat, mit Sicherheit.“
Sophie hakte sich bei Dom unter, als sie sich auf den Weg zurück ins Hotel machten, sie stolperten kichernd durch den Schnee, hielten sich aneinander fest und starrten in den wolkenlosen Himmel, der von Sternen übersät war.
„So einen Himmel hab ich nicht mehr gesehen, seit ich aus Blue Hill weg bin“, sagte Sophie.
Dom schwankte bedrohlich, als er den Kopf in den Nacken legte.
„Man schrumpft, wenn man sich das so betrachtet.“
„Ob es ihm gut geht, trotz des gebrochenen Arms?“
„Jedenfalls sitzt er nicht im Knast.“
„Wir stehen morgen pünktlich auf, alter Mann, und dann suchen wir ihn.“
„Ich bin dabei.“

Dom fragte sich durch die Bars und bekam überall nur die Auskunft, ja, den kenne man, aber der habe sich in den letzten Tagen nicht mehr blicken lassen. Sophie hatte ebenso wenig Glück gehabt und sie dachte irgendwann, dass sie dann auch hätte ausschlafen können.
Im Diner gönnte sie sich einen Kaffee, wärmte sich die Finger, starrte vor sich hin und rührte endlich in ihrer Tasse herum. Die Bedienung fragte vorsichtig, ob sie nachgeschenkt haben wolle und ob der Kaffee kalt sei und Sophie meinte: „Mit dem Kaffee ist alles in Ordnung. Kümmern sie sich nicht um mich.“
„Wir haben noch Apfelkuchen an der Theke.“
„Darauf komme ich vielleicht zurück.“
Sie wollte keinen Apfelkuchen, aber sie wollte freundlich bleiben, möglicherweise ging sie als Touristin durch, als Ski fahrende Single, der im Diner nur kurz einen Kaffee trinken wollte – sie wünschte, sie wäre wirklich nur aus diesem Grund in Ouray.
Er verkriecht sich irgendwo, sonst hätten wir ihn längst aufgetrieben. Ich wette, er hat irgendetwas vor.
„Hallo?“
Fast hätte sie mit Nachdruck erwidert, dass sie den Kaffee auch kalt trinken würde, aber das Mädchen mit dem schwarz gefärbten Haar war nicht die Kellnerin.
„Ja?“
„Sophie?“
„Ja.“ Sie sah das Mädchen erwartungsvoll an, hätte gern gewusst, woher sie ihren Namen kannte.
„Darf ich mich zu ihnen setzen?“
„Klar. Woher kennen sie mich?“
„Oh, ich kenne sie nicht.“
Sie setzte sich zu Sophie, nahm auf dem Stuhl Platz und schob die Beine unter den Tisch.
„Ich bin Sammy Joe und Rick hat mir von ihnen erzählt.“
„Hat er?“
„Haben sie ihn schon getroffen?“
„Nein“, sagte Sophie gedehnt, „ich denke, er hat sich irgendwo verkrochen.“
„Er hat was vor.“
„So was habe ich befürchtet.“
Sie saßen sich gegenüber, hatten die Hände auf der Tischplatte und es schien, als würden sich zwei gute Freundinnen unterhalten.
„Woher kennst du ihn? Ist er bei dir untergekommen?“
Sammy Joe konnte den Blickkontakt nicht halten, ihre Gesichtsfarbe wurde deutlich dunkler.
„Sie werden bestimmt wütend auf ihn, wenn ich ihnen die Wahrheit sage.“
„Ich bin schon seit Monaten wütend auf ihn, so wütend wie Natleys Hure, wenn du mich fragst, aber was ändert das? Ich weiß, was er treibt, wenn er unterwegs ist. Er ist bei dir untergekrochen und so lange er sicher sein kann, dass du ihn in dein Bett lässt, bleibt er bei dir. Wenn er dich nicht mehr braucht, ist er sofort verschwunden. So läuft es immer.“
„Ihm lag was an mir.“ Trotz und Verletztsein lagen in Sammy Joes Stimme, sie nahm etwas aus ihrer Jackentasche, strich es auf dem Tisch glatt und schob es zu Sophie herüber. Diesen Beweis konnte sie nicht für sich behalten.
Sie war Rick nicht egal gewesen, er hatte sie wirklich gemocht, da konnten die anderen erzählen was sie wollten. Das Polaroid, was sie gefaltet in der Zuckerdose gefunden hatte, war unterbelichtet und verwackelt, einer dieser Schnappschüsse, die den Betrachter ungeduldig werden ließen, weil man nichts richtig erkennen konnte und starrte man noch so lange darauf. Rick vor dem dunklen Hintergrund der Küche, er saß am Tisch und sah in die Kamera, ernstes Gesicht, unrasiert und das Haar nur mit den Fingern gekämmt, was irgendwie eine Männerdomäne war, die Verletzungen im Gesicht waren deutlich zu erkennen. Sophie fand, dass sein Haar anders aussah, aber am meisten erschreckte sie die Tatsache, dass er so müde und abgemagert aussah, als würde der Tod bereits über seine Schulter schauen.
„Das hat er mir dagelassen. Hätte er das getan, wenn er nur einen billigen Platz zum schlafen gebraucht hätte? Und außerdem ist es meine Idee gewesen, ihn bei mir wohnen zu lassen.“
Irgendwann werden diese Wunden nicht mehr verheilen, dachte Sophie.
Sie schob die Tasse beiseite.
„Behalte ihn in Erinnerung, so, wie du ihn gemocht hast. Ich werde dir nichts von den alten Geschichten erzählen, weil das alles nicht wichtig für dich ist. Ich habe Fotos von uns, als alles noch in Ordnung war, die bedeuten mir ebensoviel wie dir dieses Polaroid etwas bedeutet. Das will ich dir gar nicht nehmen.“
„Zeigen sie mir die Fotos?“
„Wir sind hier, weil wir ihn nach Hause holen wollen und hoffentlich kommt er endlich zur Vernunft. Wenn wir ihn finden, bevor der Sheriff ihn hat, stecken wir ihn in das nächste Flugzeug und kommen so vielleicht um die Katastrophe herum.“
Sie öffnete ihren Timer, den sie immer dabei hatte, gefüllt mit allen Telefonnummern, Adressen und Terminen, Notizen, Ideen und Skizzen. Die Fotos steckten hinten hinter einer Lasche.
„Ich will nur, dass er wieder so wird, wie ich ihn kenne.“
Sammy Joe nahm die Fotos so vorsichtig entgegen, als könne sie sich die Finger daran verbrennen, ein unbehaglicher Schauer durchfuhr sie, Rick und Sophie gemeinsam auf den Bildern zu sehen. Es war Rick, ohne Zweifel, mit dunklem Haar, in seiner Lederjacke und mit einem gut gelaunten Blitzen in den Augen, das sie an ihm nicht kannte. Er sah größer und breiter aus auf diesem Foto, hielt Sophie mit beiden Armen fest umarmt, sie standen in einem Park, umgeben von grünen Bäumen und weiten Rasenflächen, im Hintergrund die begrenzende Skyline von Manhattan, wie aus einem Reiseprospekt. Sie sahen glücklich aus auf diesem Foto, zwei, die sich gefunden hatten und Sammy Joe war es unbegreiflich, warum Rick das aufgegeben hatte.
Die beiden anderen Fotos waren schwarz-weiß, zeigten Rick in Jeans und T-Shirt beim Wagenwaschen. Eine Zigarette hing in seinem Mundwinkel und unter den aufgekrempelten kurzen Ärmeln des Shirts stachen die Tätowierungen als dunkle Schatten und Bilder heraus.

Julia hätte ihren Wagen nehmen können, um zur Skihütte zu gelangen, aber sie nahm das Schneemobil, weil es gleichzeitig eine gute Gelegenheit war, es Elliott zurückzugeben. Sie hatte es sich nur ausgeliehen, es stand seit Tagen ungenutzt in der Garage und nahm Platz weg.
Ihr Verschwinden am frühen Morgen würde nicht auffallen, weil sie ihren Wagen vor dem Haus lassen konnte. Sie hatte sich x-mal umgezogen, sich entweder zu aufreizend oder zu burschikos gefühlt und hatte das Haus schließlich in einer schwarzen Thermohose und mit einem figurbetonten weißen Pullover verlassen. Ihren Mantel konnte sie auf dem Schneemobil nicht tragen, sie nahm eine Skijacke aus dem Schrank, die sie seit Jahren nicht getragen hatte, ebenso wie die anderen Sachen, die sich nicht mitgenommen hatte, als sie nach Harvard gegangen war.
Über ihre Gefühle war sie sich nicht klar, es brachte alles durcheinander, was Rick ihr gestanden hatte. Mittlerweile wusste sie nicht einmal, ob sie Rick überhaupt mochte, gleichzeitig malte sie sich schon aus, wie es sein würde, mit ihm zu schlafen. Jedenfalls anders als mit Elliott, der es nie lassen konnte, um ihre Erlaubnis zu fragen oder sich zu vergewissern, dass sie es mochte, was er gerade tat.
Wie anders, fragte sie sich, wollte es dann doch nicht bis zum letzten kommen lassen, aber im nächsten Moment dachte sie sich, warum eigentlich nicht? Wir benutzen ein Kondom und was sollte uns daran hindern?
Das Schneemobil war für die Straßenbenutzung nicht ausgelegt, sie benutzte die Felder und Wiesen, kreuzte ein paar verschneite Zufahrten, machte Bogen um Wälder, fuhr Hügel hinauf und Abhänge hinunter. Sie fuhr längst nicht so schnell, wie sie gekonnt hätte, denn sie hatte es nicht eilig.
Er kannte ihr heikles Geheimnis, das wusste sie, obwohl er es nicht ausgesprochen hatte und sie würde eine Menge tun, um es unter Verschluss zu halten. Was konnte es schaden, wenn man dabei noch etwas Spaß hatte.

Rick ließ sich von Dash wie zufällig an der Straße aufgabeln, als er auf dem Weg in die Stadt war. Er hatte bei Manda übernachtet statt bei seinen Eltern und wollte nur kurz die Klamotten wechseln gehen, als er Rick an der Straße sitzen sah und anhielt.
„Soll ich dich mitnehmen?“
„Dich hab ich gesucht.“
In der Nacht hatte er Fieber gehabt, aber am Morgen, als er sich weggeschlichen hatte, hatte er sich besser gefühlt.
„Du siehst Scheiße aus, Rick, wenn ich dir das so sagen darf.“
„Ich kann dich nicht dran hindern.“
Rick rutschte tief in den Sitz, stützte die Knie an das Armaturenbrett, warf nur gelegentlich einen Blick durch das Fenster nach draußen, hielt den Gipsarm auf seinem Schoß wie ein Wickelkind.
„Du kannst mir einen dicken Gefallen tun, Dash.“
„Was immer du willst“, rief Dash launig. Anstatt auf die Straße zu achten, fummelte er am Radio herum, summte und wippte zu einem Song, den er im Kopf hatte.
„Verrate mir, wo ich die drei Scheißkerle finde, die mich vermöbelt haben.“
„Was immer du willst, außer dieser Sache.“
Dash hatte noch immer gute Laune, aber sein Grinsen war zu verbissen, was er Rick zeigte. Er fand das nicht lustig.
„Dash, es ist wichtig. Ich bekomm’s auch so raus, aber es würde zu lange dauern, das ist das erste Mal, dass ich mich an einen Zeitplan halten muss. Overturf schafft mich aus der Stadt, sobald die Straße frei ist.“
„Du willst vorher noch was erledigen. Du könntest auch ’ne Karte schicken.“
„Jap“, machte Rick, wollte nicht lachen, weil ihm dann wieder alles wehtun würde, aber das Lachen zu unterdrücken tat mindestens genauso weh. Dashs Schultern zuckten unkontrolliert, als er loskicherte, steuerte den wagen mit einer Hand weiter und meinte mühsam gefasst: „Du bist dabei, dich tief in die Scheiße zu reiten. So tief, dass man nicht mal mehr deinen Blondschopf sehen kann.“
„Du kannst ’n Tritt haben, Dash, und den darfst du dann behalten.“
Was soll’s, dachte Dash, ich wünschte, ich könnte dabei sein, wenn den Arschlöchern der Scheitel neu gezogen wird.
Die drei hatten gute Jobs, einer arbeitete in der Bank von Ouray, die beiden anderen waren im Autohaus angestellt und hatten den Dreh raus, die teuren Wagen plus Extras an den Mann zu bringen. Allerdings hatte einer von ihnen ein paar Tage gefehlt, weil er sich bei einem Sportunfall die Hoden gequetscht hatte, wie er angab.
Rick notierte sich die Namen seiner Peiniger, den Rest behielt er im Kopf.
„Brauchst du sonst noch Hilfe? Ich könnte dir bei irgendwas zur Hand gehen, egal, was es ist.“
„Das muss ich allein machen.“
„Du hast nur einen Arm.“
„Das hab ich schon einkalkuliert.“
„Die drei sind...“
„Ich krall sie mir einzeln. Wenn du dich einmischst, bleibt der Dreck an dir hängen.“
Dash zuckte mit den Schultern, grinste verständnisvoll, um Rick dann an der nächste Ecke aus dem Wagen zu lassen.
„Wenn wir uns nicht mehr sehen, Killer, tu nichts, was ich nicht auch tun würde.“
Rick trug Sophies Bild in sich, hätte gerne an nichts anderes mehr gedacht als an sie, aber die Wut war übermächtig in ihm und verdrängte alles andere.
Er hatte wirklich nicht viel Zeit, dachte daran, was José ihm gesagt hatte, dass man Aktionen, welcher Art auch immer, niemals bis ins letzte durchplanen durfte, ohne sich Hintertürchen offen zu halten, denn egal, wie sehr man alles einplante, was schief gehen konnte, man konnte nie an alles denken. Feuerzeuge funktionierten nicht, Autos sprangen nicht an, Passanten kamen unverhofft um die Ecke, es begann zu regnen. Murphys Law, hatte José gesagt, ist ein verdammter Abklatsch dagegen.
Also hatte Rick den Plan auf drei Stufen reduziert. Rauslocken – umhauen – auf zum nächsten.

Dom traf Sophie vor dem Holzspielzeugladen, sie liefen sich praktisch in die Arme und Sophie sagte seufzend: „Wir laufen uns ständig über den Weg, aber Rick taucht nirgends auf. Es wäre einfacher, ihn in den Vororten von New Jersey zu finden.“
„Der Sheriff ist ihm auf den Fersen. Ich muss mich jetzt einen Moment ausruhen, wie wär’s, wenn wir ein Bier trinken gehen?“
„Keinen Alkohol, bis nicht die Sonne untergegangen ist.“
„Das halte ich für eine altmodische Einstellung, Sophie.“
„Schon gut, ich komme mit und trinke eine Coke.“
Sie landeten in Bob’s Bar, die Rick an Boston erinnert hatte und Bob hinter der Theke rief ihnen entgegen: „Reichlich früh, Herrschaften.“
Er hielt die Fernbedienung in der Hand und klickte sich durch die Kanäle.
„Es ist ein Notfall“, erwiderte Dom, „ein Bier und eine Coke, wäre das möglich?“
„Ich bin kein Unmensch.“
Er servierte an der Bar, wandte sich wieder dem Fernseher zu und Sophie murmelte: „Was stellt er wohl gerade an?“
„Vielleicht hat er sich nur irgendwo verkrochen und leckt seine Wunden. Ich bevorzuge es, mir diese Variante vorzustellen.“
„Eine unrealistische Variante, Dom. Ebenso gut könntest du annehmen, dass er hier hereingetanzt kommt und dir dein Geld zurückgibt.“
„Das Geld ist mir doch egal.“
Sophies Stimme wurde einen Takt schärfer, als sie sagte: „Es sollte dir aber nicht egal sein.“
„Wir sind doch beide hier, um ihn zu finden, also sollten wir uns allein darum kümmern.“
„Ich glaube inzwischen nicht mehr, dass wir ihn finden werden. Er ist hier irgendwo in der Stadt, aber er geht in Deckung, das sieht ihm ähnlich, wenn er etwas ausbrütet.“
„Der Sheriff wird ihn finden“, sagte Dom mit Nachdruck, „und dann ist unsere Sache hier gelaufen.“
„Rick hat eine kleine Freundin hier.“
„Ich weiß.“
Dom machte ein zerknirschtes Gesicht, hatte dann das dringende Gefühl, es zu erklären.
„Der Deputy hat mir erzählt, dass sie ihm ein Alibi verschafft hat, um ihn aus dem Knast zu holen.“
„Sie hat gelogen für ihn.“
„Natürlich hat sie das. Ab und zu schafft Rick es, dass man für ihn lügt.“
Sophie wandte sich ab, um unbemerkt gegen die Tränen anzukämpfen, schniefte und schluckte und erwiderte mit belegter Stimme, ohne Dom anzusehen: „Es macht mir nichts aus, ich bin nicht eifersüchtig, ich dachte, ich wäre wütend auf ihn, aber so, wie’s aussieht, bin ich einfach nur starr vor Angst. Ich hatte die ganze Zeit so viel Angst um ihn, dass ich jetzt nicht mehr weiß, wie ich das überhaupt durch gestanden habe. Jetzt sind wir hier und kommen trotzdem nicht an ihn heran.“
„Was willst du tun, Sophie? Es aufgeben?“
Dom wartete auf ihre Antwort, wandte sich dabei dem Barkeeper zu, der sich noch ein Bier zu bestellen, und entdeckte dabei, dass der Mann sie beobachtete.
„Ich muss ihnen was sagen“, gestand Bob, als er ein neues Glas zapfte und Dom antwortete: „Dass sie uns belauscht haben?“
Er verzog keine Miene. „Ich bin Barkeeper und mir erzählt jeder seine Geschichte. Ich höre zu und vergesse alles wieder, das ist ein Teil meines Jobs und für den werde ich bezahlt. Ich habe gehört, dass sie Scanlon suchen. Den suchen sie doch, oder?“
Dom nickte. „Reden sie weiter.“
„Er war hier. Da an der kurzen Seite hat er gesessen und gesoffen wie ein Loch. Ein paar Tage vorher hatte er sich von Deputy Herbert einen Warnschuss vor den Bug abgeholt. Ich glaube, er sagte, er käme aus Boston.“
„Hat er ihnen verraten, wo er hin wollte?“
Bob überlegte einige Sekunden. Im Fernseher hinter ihm wurde gerade die Nachricht verkündet, dass die letzten Überreste der Lawine endlich von der Straße geräumt waren und somit der Verkehr über den Skyrocket Creek wieder freigegeben war.
„Da kann ich ihnen nicht weiterhelfen. Ich habe hier nur einen Mann sitzen sehen, der genug getrunken hat, dass man ihm die Sorgen ansehen konnte.“
„Die Sorgen wird er haben, wenn wir ihn nicht vor dem Sheriff finden.“

Im Drugstore deckte Rick sich mit Aufputschern und Wachmachern ein, die er kriegen konnte, spülte diese wilde Kombination mit einer Coke und einer Menge Vomex herunter, um auch alles drin behalten zu können.
Vico aus der Bank hatte er bereits erledigt und das war nicht schwer gewesen. Der Überraschungsmoment war auf seiner Seite und während Vico noch ein freundlichen ‚Wir können doch darüber reden, Mann’ anzubringen versuchte, hatte Rick bereits mit der Stablampe zugeschlagen, ohne darauf überhaupt einzugehen. Die Stablampe war das Instrument, was ihm mit einer Hand noch geblieben war, außer einem Gummiknüppel, den er aber im Sportgeschäft vergeblich gesucht hatte. Er hatte Vico damit erledigt, ein paar Fotos gemacht, sie sorgfältig weggesteckt und hatte ihn dann einfach dort liegengelassen. Rick hatte Blutspritzer an Armen und Händen, zog die Jackenärmel darüber und wusch sich erstmal in einer öffentlichen Toilette.
Sein Mund war trocken durch die Medikamente und hatte die ganze Zeit das unangenehme Gefühl, sich in die Hosen zu pissen.
Noch die beiden, dann kann ich mich wieder drauf konzentrieren.
Was ist mit David?
Das Beste zum Schluss, buddy.
Er wird dich umbringen.
Dazu muss er mich erstmal erwischen.
Rick mied den Blick in den Spiegel, zog Leder- und Daunenjacke an, hatte dabei arge Probleme mit dem Gipsarm, hängte sich die große Sporttasche wieder über die Schulter und marschierte los in Richtung Autohaus.
Er sondierte die Lage, musste nicht lange warten, bis er einen der beiden Schläger allein im Verkaufsraum erwischte. In einiger Entfernung zeigte er dem Kerl den Finger und spazierte wieder nach draußen. Durch die Glasfassade sah er, dass Aaron mit zwei A, wie Dash gesagt hatte, ihm im Laufschritt folgte, dabei den Knoten seiner Krawatte lockerte und zum Spurt ansetzte. Rick bog in die Straße zum Parkplatz der Angestellten ein, drehte sich dort um und erwartete seinen Gegner. Aaron war der, dem er in die Eier getreten hatte und er war ein harter Brocken.

Dash hatte helfen wollen und durfte nicht, das ließ ihn eine ganze Weile an sein Universum der ungenutzten Gelegenheiten denken und so beschloss er mehr oder minder spontan, doch etwas zu unternehmen. Rick war verschwunden, aber Dash wusste, wo er zuschlagen würde und verschanzte sich auf der Feuerleiter, die an der Fassade des Hauses gegenüber dem Autohaus angebracht war, wo Aaron und Jackson arbeiteten.
Dort oben hockte er und musste nicht lange warten; er hatte freien Blick auf den Parkplatz und sah dem kurzen und blutigen Kampf zu. Aaron hatte keine Chance. Er traf Rick einige Male hart am Körper, aber das schüttelte Rick ab wie nichts – und gegen die Schläge der Stabtaschenlampe hatte er nichts auszurichten. Er tat gut daran, zu Boden zu gehen und liegen zubleiben. Rick keuchte nach Luft, musste seine zitternden Hände abstützen, um die Fotos nicht zu verwackeln, hatte dann kaum noch genug Kraft, um von dem Parkplatz zu verschwinden. Er hockte auf dem Boden, rang nach Luft und entdeckte einen dieser von ihm verhassten japanischen Kleinwagen mit dem Nummernschild JACK-27.
Bist du zu müde zum laufen, dachte er, nimm den Wagen.
Er machte den Honda auf, startete den Motor und ließ ihn vom Parkplatz auf die Straße vor die Verkaufsräume rollen. Er wartete, kontrollierte, ob er alles wieder in der Sporttasche verstaut hatte und hupte schließlich ein paar Mal, weil er auf Jackson nicht ewig warten konnte.
Das ungläubige Gesicht des Autoverkäufers und Freizeitschlägers allein war die Sache schon wert – Rick winkte ihm grinsend und fuhr im Schritttempo davon.
Jackson sollte noch die Chance haben, ihm nachzulaufen. Er zeigte sich in guter körperlicher Verfassung, folgte seinem davon rollenden Honda bis zu der Stelle, wo Sophie und Dom mit dem Hubschrauber gelandet waren, bei den ersten Häusern von Ouray, in Richtung Skyrocket Creek, der wieder frei war.
Jackson griff Rick ohne zu zögern an, schnaufend und keuchend, sie verkeilten sich ineinander und bevor er begriff, was los war, hatte er einen langen glatten Schnitt im Unterarm, der weit auseinanderklaffte, aber nur wenig blutete.
„Hah?“ brachte Jackson hervor, hatte das Messer in Ricks Hand überhaupt nicht gesehen, diese Wunde ließ seinen Kampfgeist erlahmen. Rick sammelte zwei Atemzüge lang Kraft und legte Jackson schlafen. Als er die Fotos schoss und die Polaroids zum trocknen auf die Motorhaube des Hondas legte, hörte er Dashs Wagen. Motorengeräusche waren für ihn so individuell wie menschliche Stimmen.
Er sah sich mühsam um, entdeckte den Jeep, der von der Straße herunterfuhr und auf ihn zukam. Der Wagen ruckte, als wäre er vom Gas gerutscht.
„Hey“, rief Dash, sprang aus dem Wagen und fuchtelte mit den Armen, „das ist das härteste, was ich je gesehen habe, verdammte Scheiße. Du hast sie fertig gemacht. Du hast sie umgehauen. Erzähl mir nicht, dass du das mit jedem machst, der dir dumm kommt.“
„Fahr nach Hause, Dash“. Rick konnte nicht einmal mehr deutlich sprechen, er hustete und hielt sich dabei die Seite.
„Du wirst mich doch jetzt nicht mehr los, Mann. Was hast du mit David vor? Das gleiche?“
Rick packte die Polaroids ein, zog den Reißverschluss der Tasche zu und wollte erwidern, dass Dash endlich verschwinden solle, aber seine Kräfte verließen ihn. Die Beine gaben unter ihm nach, er dachte, er könne sich noch halten, gar kein Problem, Jungs, aber er fiel neben dem Honda in sich zusammen. Ihm wurde schwarz vor Augen, er konnte Dash neben sich plappern hören. Als sich auch sein Gehör einstellte und in Urlaub ging, hatte er noch Mascots leise dünne Stimme im Ohr.
Du brauchst Schlaf, Rick, vergiss diese Sache einen Moment. Das Fieber frisst an dir. Du hast den Motor zu heiß werden lassen und denk dran, was ich dir über die Pferde gesagt habe.
Rick hörte zu, konnte nicht antworten, nicht einmal denken.
Es tat gut, sich treiben zu lassen und so bekam er nicht mit, dass Dash ihn sich über die Schulter packte und zu seinem Jeep trug. Er fluchte und hebelte Rick unsanft auf den Beifahrersitz, nannte ihn einen verdammt schweren Kartoffelsack, hätte ihm fast den unbeschädigten Arm eingeklemmt, als er die Tür von außen zuschlug.
„Wenn uns jemand beobachtet, Killer, könnte er glauben, ich entführe dich gerade. Wär das nicht der Knaller?“
Dash warf den Motor an, setzte ein Stück zurück, um wieder auf die Straße auszuscheren, dann erst fiel ihm Ricks Tasche ein.
„Brauchst du die Sachen noch?“
Er bekam keine Antwort, sprang aus dem Jeep und trabte zum Honda zurück, wo Jackson noch immer alle viere von sich streckte. Dash schnappte sich die Tasche, ihn überkamen Gewissensbisse, dass Jackson hier erfrieren könnte, also zerrte er ihn hoch und legte ihn auf die Rückbank des Hondas. Im Jeep schaltete er die Heizung hoch, warf einen Blick zu Rick hinüber, der gegen die Tür gesunken war und fast schon tot aussah, hätte sein Atem nicht die Scheibe beschlagen.
„Was waren Mahatma Gandhis letzte Worte?“ murmelte Dash, fuhr los und machte sich die ganze Zeit Gedanken darüber, wo er eigentlich hin sollte.

Er wollte nicht aufwachen. Er wollte das Zerren und Rufen ignorieren, sträubte sich mit Händen und Füßen dagegen, so verzweifelt energisch es in Gedanken nur ging. Er klammerte sich an die Dunkelheit, aber trotz seines Sträubens gegen das Aufwachen trieb er langsam an die Oberfläche. In Gedanken stöhnte er, bewegte die Beine und stieß auf einen Widerstand, als stecke er in einer engen Kiste und die Panik kroch in ihm hoch. Darüber wachte er auf, hörte sein eigenes Stöhnen tief aus der Kehle, glaubte sich in einer engen Zelle, eingeschlossen und vergessen, schlug mühsam die Augen auf. Nach wenigen Sekunden waren die Schmerzen wieder da, aber das war Okay, weil er entdeckte, dass er nicht in einer engen Todeszelle steckte sondern nur in Dashs Jeep. Sie fuhren über die 12. Avenue, kreuzten die Main Street und überquerten den halb zugefrorenen Bach, an dem Kinder mit Schneebällen und Steinen warfen.
„Bist du wieder unter den Lebenden.“
„Meinst du mich?“
„Wen denn sonst“, grinste Dash, bog nach links in die River Road ein, „wir sind auf dem Weg zur Villa. Ist das in deinem Sinn, Pancho?“
„Mir gefällt nur ein Wort bei dem Ganzen nicht.“
Rick stemmte sich mit einem Arm hoch, fand seine Tasche zu seinen Füßen und wühlte nach seinen Pillen, um mit Unterstützung gegen die Schmerzen zu kämpfen.
„Welches Wort?“
„Was?“
„Brauchst du nicht einen Schluck Wasser für die Pillen?“
„Nein.“ Mit einer harten Kopfbewegung in den Nacken ließ Rick die Pillen herunterrutschen, sah auf die Uhr, verfluchte die zwei Stunden, die er weg gewesen war.
„Du kutschierst mich zwei Stunden durch Ouray, ohne etwas zu tun?“
„Welches Wort?“
„Verarsch mich nicht, Dash, ich hab heute schon drei Typen umgehauen und ein vierter macht mir überhaupt nichts aus. Selbst, wenn ich mich hier drin nicht ordentlich bewegen kann, könnte ich immer noch...“
„Oh-ha“, machte Dash, „ich wollte doch bloß wissen, welches Wort du nicht mochtest.“
„Wir. Wir sind nicht auf dem Weg zur Villa, ich bin auf dem Weg, Pancho. Du wirst dich da nicht einmischen.“
Dash hätte protestiert, aber als er den Mund öffnete, schoss Ricks ausgestreckter Zeigefinger warnend auf ihn zu und er sagte lieber nichts mehr.
Die River Road führte aus der Stadt heraus und direkt zum Skyrocket Creek, der seit wenigen Stunden wieder geöffnet war.
„Du fährst bis vor die Abzweigung“, sagte Rick, „da hältst du und ich fahr allein weiter.“
Seine Stimme klang gedämpft, die Medikamente entfalteten nicht nur ihre Wirkung, sondern auch die Wechselwirkungen untereinander. Rick fühlte sich wie im Inneren eines Bienenkorbs, die Welt summte um ihn herum, er sah Doppelbilder und hatte den übelsten Geschmack auf der Zunge, den er jemals erlebt hatte.
Dash fuhr viel zu schnell auf der verschneiten Straße, die Schneeketten würden dieses Tempo nicht lange durchhalten. Rick rieb sich die brodelnde Stelle zwischen den Augen, murmelte undeutlich: „Verfickt noch mal... Gandhis letzte Worte?“ und Dash zog scharf die Luft ein.
Er riss das Lenkrad herum, Rick versuchte nachzugreifen und den Wagen wieder auf die Fahrbahn zu bringen, aber es war zu spät. Rick hatte die Gestalt in dem karierten Hemd und Cordhosen vor sich auf der Straße gesehen, aber nicht reagiert, weil er nicht geglaubt hätte, dass Dash sie ebenfalls sehen konnte.
Mascot stand einfach dort, mitten auf der Straße, die Fahrbahnmarkierung lief zwischen seinen Füßen entlang. Der Wind spielte mit seinem langen schwarzen Haar, sein Kinn war gehoben, die Augen geschlossen. Nichts an ihm bewegte sich, außer seinem Haar, das er nie offen getragen hatte und das sie ihm in dem Erziehungsheim in Indianapolis gewaltsam abgeschnitten hatten. Er schien zu lächeln, Rick fühlte es, dass er lächelte und dachte, dass es jetzt der Moment sein könnte, wo Mascot ihn abholte.
Dash verriss die Steuerung, um diese Gestalt auf der Straße nicht zu überfahren und Rick konnte nur kurz darüber nachdenken, wieso Dash ihn sehen konnte.
Als Dash das Bremspedal durchtrat, blockierten die Räder, mit einem Knall rissen die Schneeketten und der Jeep raste bockend und holpernd von der Straße, durch eine Schneewehe und überschlug sich, nachdem sich die Nase in den Graben gebohrt hatte.
 
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Kommentare  

Das ist echt wirklich sehr bemerkenswert, wie Du schreibst und man kann es nicht oft genug sagen. Man bekommt so viel Text, und immer noch einen Tick spannender und immer noch wenig Auflösung und trotzdem noch so viel mehr. Bei Dir ist echt, weniger mehr ;- ) Und vor allem Deine Ideen. Auch die Kleinigkeiten spielen so eine große Rolle, vor allem wie Du sie auch immer interessant, witzig oder dramatisch erzählst. wie z. B. die kleine Sache mit Dash. Obwohl es in der Situation jetzt nicht zum Lachen war, aber ich fand das so witzig, als er gegenüber auf das Gebäude gestiegen ist und hat sich die Schlägerei da von Rick angeschaut. Aber der absolute Clou ist die Sache mit Mascot. Ich find das so spannend, schwirrt er denn jetzt nur in Ricks Kopf als Geist rum, oder lebt er noch und vor allem ist er das am Ende dieses Teil wirklich gewesen auf der Straße.

Fan-Tasia (05.06.2009)

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